Bedingungen und Limitierungen der Pluralität von Lebensstilen in Sibirien (2008-2012)

„Bedingungen und Limitierungen der Pluralität von Lebensstilen in Sibirien” (veröffentlicht in der Working Papers-Reihe des Instituts in englischer Sprache) ist das zentrale Forschungsprogramm des Sibirienzentrums für den Zeitraum 2008-2012. Ziel des Programms ist die Voraussetzungen und Prozesse zu benennen, die zur Ausdifferenzierung von Lebensstilen führen; den Umfang und die Dimensionen von sozialer Anerkennung, Gleichgültigkeit oder Intoleranz gegenüber unterschiedlichen Verhaltensformen zu ermitteln; und zu untersuchen, auf welche Weise bestimmte Lebensentwürfe Dominanz erlangen (und somit zur Gewohnheit werden), während andere marginalisiert werden.

Konsum- und Freizeitverhalten der Bewohner Sibiriens haben sich in den letzten Jahrzehnten merklich gewandelt. Phasen von Wirtschaftswachstum und Rezession haben neue Dimensionen sozialer Ungleichheit geschaffen. Unser Ansatz geht jedoch über einen lediglich anhand von Konsum und Geschmack definierten Begriff von Lebensstil hinaus: Er richtet sich auf die Normen, Vorlieben, Orientierungen und Überzeugungen, mithilfe derer Menschen Entscheidungen im Verlauf ihres Lebens treffen, sich mit anderen zusammentun und sich selbst in der Öffentlichkeit präsentieren. Einerseits gibt es viele Hinweise auf eine wachsende Pluralität von Lebensstilen in Sibirien (und in Russland allgemein); andererseits deutet der gesamtgesellschaftliche Diskurs über Patriotismus, Familienwerte und Erziehungsmethoden auf eine normative Tendenz hin, durch die der Raum für alternative Lebensstile und Projekte eingeschränkt werden könnte. Innerhalb des Forschungsprogramms arbeiten die Mitglieder des Sibirienzentrums derzeit an zwei vergleichenden Untersuchungen: 1. Reisegewohnheiten im Wandel und 2. Visuelle Formen der Selbstdarstellung.

Reisegewohnheiten im Wandel

Diese Untersuchung ist der Rolle des Reisens in den Biographien von Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Regionen Sibiriens gewidmet. Hierbei sind nicht nur Touristen, Veranstalter und Angestellte im Tourismussektor von Interesse, sondern auch Fernpendler, „Zugezogene“ in den peripheren Gemeinden des Hohen Nordens und ihre Verbindungen zu den Herkunftsregionen, Händler, Berufsreisende und Personen, welche das Leben in der Tundra oder Taiga mit dem Leben im Dorf oder in der Stadt verknüpfen. In dem Maße, wie sich Gewohnheiten des Reisens wandeln, verändern sich auch die positiven oder negativen Bedeutungen, die der Begriff Mobilität für das Individuum annimmt. Darüber hinaus wollen wir den Stellenwert, den diese Reisen oder Räume im Leben der Menschen haben, untersuchen, wie Menschen sie interpretieren, und wie (wenn überhaupt) sie sie als Elemente einer kohärenten Lebens-Geschichte deuten. Es gibt einige wichtige sozioökonomische Entwicklungen, welche dieser Untersuchung Aktualität verleihen:

  1. der drastische Rückgang des Flugverkehrs in den 1990er Jahren (mit der Folge, dass die Bewohner entlegener Ortschaften überhaupt nicht mehr reisen konnten);
  2. die Wiederaufnahme und Intensivierung des Flugverkehrs (dabei ist zu prüfen, inwieweit dies auch für abgelegene Gegenden in Sibirien zutreffend ist);
  3. Ausbau des Straßennetzes und Zunahme des Autoverkehrs in vielen Teilen Sibiriens;
  4. die rasante Entwicklung des Tourismus – nach Sibirien und innerhalb Sibiriens, aber auch von Sibirien nach Europa und in andere Länder;
  5. neue Möglichkeiten und Rahmenbedingungen der Gestaltung des eigenen Urlaubs. Zu Sowjetzeiten war die Tourismusinfrastruktur auf Gruppen zugeschnitten; heutzutage gewinnt der Individualtourismus an Bedeutung.

Visuelle Formen der Selbstdarstellung

Untersuchungsgegenstand ist die individuelle Stilisierung, die Erschaffung der eigenen Identität im Internet sowie die Dokumentation von wichtigen Momenten (Ereignissen, Orten) in Fotoalben. Diese Art der Dokumentation dient dazu, sich selbst und anderen zu vergegenwärtigen, dass man tatsächlich an diesem oder jenem Ort war bzw. dieses oder jenes Ereignis miterlebt hat. Visuelle Formen der Selbstdarstellung sind in der Psychologie, den Kultur- und Medienwissenschaften und anderen Disziplinen schon vielfach thematisiert worden, aber bislang ist die Anzahl der Arbeiten, welche sich mit dem räumlichen Aspekt von Selbstdarstellung beschäftigen, sehr gering.
Da das Internet eine große Bandbreite an digitalen Destinationen und Ereignissen bietet, können Menschen, deren räumliche Mobilität aus den verschiedensten Gründen begrenzt ist, den virtuellen Raum für die Suche nach erweiterten Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten nutzen. Onlineforen sind relativ einfach erreichbar und folgen bestimmten standardisierten Kommunikationsabläufen. „Second Life“, webbasierte Rollenspiele und andere Online-Identitäten ermöglichen uns zu verstehen, warum Menschen sich an bestimmten Ereignissen beteiligen oder bestimmte Orte besuchen. Wir möchten erforschen, wie Destinationen und Ereignisse in der „realen Welt“ im Rahmen der individuellen und kollektiven Selbstdarstellung im Internet zur Schau gestellt und reflektiert werden. Die Forschergruppe hat die Vorgehensweise, die Methoden und Forschungsinstrumente im Laufe des Jahres 2010 festgelegt, so dass die Feldforschungen des neuen Teams im Laufe des Jahres 2011 stattfinden können.
Folgende Einzelprojekte tragen zum Forschungsprogramm „Bedingungen und Limitierungen der Pluralität von Lebensstilen in Sibirien“ bei:


Jaroslava Panáková
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Ethno-Tourismus im Hohen Norden Russlands und der Wandel von Lebensstilen (Čukotka)

Tatiana Barchunova
Assoziierte
Rollenspiele: Mobilität und Selbstpräsentation von Rollenspielmitwirkenden (in mehreren Städten Sibiriens)

Natalia Beletskaya
Assoziierte
Rollenspiele: Mobilität und Selbstpräsentation von Rollenspielmitwirkenden (in mehreren Städten Sibiriens)

Ludek Broz
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Altai – Distinktion, Identität und Freizeit in einer wiedererstarkenden Tourismusregion

Stephan Dudeck
Doktorand
Der "Tag des Rentierzüchters": Repräsentation indigener Lebensstile zwischen Taigawohnplatz und Erdölstadt in Westsibirien

Joachim Otto Habeck
Koordinator
Der öffentliche Kulturbetrieb in Sibirien: Kulturhäuser in der Region Novosibirsk

Joseph Long
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Urbanisierung, soziale Netzwerke und die Wahl des Lebensstiles am Beispiel der westlichen Burjaten im Südosten Sibiriens

Maria Nakhshina
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Küstendörfer: Wirtschaft, Infrastruktur, Gemeinschaft und Tourismus (am Beispiel der Tersker Küste, Region Murmansk)

Eleanor Peers
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Ysyach: zur Organisation und Praxis eines jakutischen Feiertages

Artem Rabogoshvili
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
Offiziell anerkannte und nicht anerkannte Gemeinschaften der nicht-indigenen Bevölkerung der Baikalregion in der postsowjetischen Periode: Limitierungen von Lebensstilen unter den Bedingungen einer sich entwickelnden Infrastruktur

Tatiana Safonova
Assoziierte
Digitale Jagd in Ostsibirien: Selbstpräsentation und neue Technologien in der Praxis

Ina Schröder
Doktorandin
“Die Zeit der Singenden Pfeile”: Rollenspiel, Tourismus und Selbstrepräsentation in indigenen Kulturcamps für Kinder und Jugendliche, Westsibirien

Denis Zuev
Assoziierter
Computervermittelte Gastfreundschaftnetzwerke in Sibirien: Erforschung der Reziprozität, des Vertrauens und der sozialen Verbundenheit entlang der TransSibirischen Eisenbahn und darüber hinaus

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