Negotiating Identity: Politics of Identification among the Borana, Gabra and Garri around the Oromo-Somali Boundary in Southern Ethiopia - Dissertation Thesis

von Fekadu Adugna Tufaa eingereicht an der Philosophische Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

OPAC

Tag der Verteidigung
17.12.2009

Gutachter
Prof. Dr. Burkhard Schnepel
Prof. Dr. Günther Schlee


Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit untersucht die Konstruktion ethnischer Identität bei den Borana, Gabra und Garri im Süden Äthiopiens. Diese drei Gruppen leben in Gebieten an der äthiopisch-kenianischen Grenze, sowohl in Äthiopien als auch in Kenia and Somalia. Ethnisch und linguistisch sind sie zwischen den ethnischen Großgruppen der Oromo und der Somali angesiedelt. Für die Untersuchung der stattfindenden Prozesse der Konstruktion ethnischer Identität wurde ein multi-lokaler Ansatz gewählt. Der Hauptteil der 14-monatigen Feldforschung (2006-2008), auf der diese Arbeit basiert, wurde in den Moyale-Distrikten an der Grenze von zwei ethnischen Bundesstaaten, dem Oromia-Bundesstaat und dem Somali-Bundesstaat, durchgeführt. Hinzu kamen vergleichende und ergänzende Feldforschungen in Addis Abeba (Landes- sowie Bundesstaathauptstadt des Oromia-Bundesstaates), in Jijiga (Hauptstadt des Somali-Bundesstaates) sowie im Moyale-Distrikt in Nordkenia.


Die hier diskutierten Identifikationsprozesse haben zugleich eine regionale und globale Dimension. Sie sind eingebettet in die gesamtpolitische Situation am Horn von Afrika, weisen aber auch über diese hinaus. In Äthiopien zählten die raschen politischen Veränderungen, die sich jüngst vollziehende Institutionalisierung ethnischer Identität sowie die damit verbundene Zunahme von ethnischen Diskursen zu den wichtigen Anregungen dieser Arbeit. Die zentrale Frage ist, wie Individuen und Kollektive ihre Identität konstruieren, und wie sie sich aus einer Reihe von Möglichkeiten, die situationell variieren können, für eine Identifikation entscheiden. Unter „Identifikation“ sind Prozesse der Konstruktion oder Einforderung von Zugehörigkeit zu einer Gruppe größerer Ordnung zu verstehen. Diese größeren Entitäten sind im vorliegenden Kontext die Nationalstaaten, die ethnischen Bundesstaaten und größere ethnische Gruppen. Während der Streitigkeiten über den Verlauf der internationalen Grenze erhoben die Nationalstaaten Äthiopien, Somalia und Kenia Anspruch auf die Borana, Gabra und Garri. Später, nach 1991 bzw. zum Zeitpunkt als Ethnizität zur formalen Grundlage für die Verwaltungsstruktur Äthiopiens erklärt wurde, machten dann die Oromo- und Somali-Nationalisten, die politischen Hauptakteure des Oromia- bzw. Somali-Bundesstaates, ihre Ansprüche auf die Borana, Gabra und Garri geltend. Unter diesen Umständen wurden diese Gruppen gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden und eine Zugehörigkeit zu einer der größeren Gruppen zu konstruieren. „Zugehörigkeit“ bezeichnet in dieser Arbeit nicht so sehr eine emotionale Bindung, sondern vielmehr eine historische und kulturelle Bindung, einschließlich der damit erwarteten Vorteilen, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer der größeren Gruppen ergeben. Im Mittelpunkt der Analyse steht also die Frage, wie Konstruktionen von Identifikationen auf der Mikro-Ebene eine Reaktion auf Veränderungen auf der Makro-Ebene darstellen und wie sie mit der raschen Veränderung der staatlichen Politik, den aufkommenden Ethno-Nationalismen und der internationalen Politik einschließlich der Gebietsstreitigkeiten, die häufig von bewaffneten Konflikten begleitet werden, zusammenhängen. Unter besonderer Berücksichtigung der Borana, Gabra und Garri wird zugleich folgenden Fragen nachgegangen: Wie identifizieren sich die Akteure selbst und wie werden sie von Anderen kategorisiert? Welche Beweggründe gibt es, sich für eine Seite zu entscheiden, und wer genau trifft diese Entscheidung?


Im Folgenden werde ich nun einen kurzen Überblick über die Inhalte der einzelnen Kapitel der Dissertation geben. Das erste Kapitel beginnt mit der Erzählung eines Hauptinformanten, in der er die dramatische Situation der Gabra beschreibt, einer Gruppe, die sich am Rande verschiedener Nationalismen und Ethnizitäten befindet. Seine Erzählung verdeutlicht bereits, dass Identifikation ein komplexer historisch und politisch bedingter Prozess ist. Identitätskonstruktionen werden oft von äußeren Umständen vorangetrieben, wie etwa raschen sozialen und politischen Veränderungen, und von vergangenen Identifikationsmustern, historischen Beziehungen zwischen Gruppen, sowie dem Wettstreit um den Zugang zu Ressourcen (Cornell und Hartmann 1998; Schlee 2004, 2008c). Dies sind die Rohmaterialien der Identitätskonstruktion, die dem Prozess der Identifikation entweder zugrunde liegen oder ihn einschränken. Seit der Veröffentlichung von Barths wegweisendem Werk Ethnic Groups and Boundaries (1969) hat sich der Fokus der Forschung zu Ethnizität und Identität verändert, weg von der Gesamtheit der „objektiven“ Merkmale hin zu einer Selektion von Merkmalen, die situationsabhängig von Akteuren als relevant angesehen werden. Entlang dieser Argumentation zeigt die vorliegende Arbeit, wie Akteure ganz gezielt Elemente vorhandenen Rohmaterials zur Identifikation betonen oder relativieren, und wie sie ihre Identität gemäß verschiedener Kontexte mit jeweils unterschiedlichen Optionen sowohl konstruieren als auch dekonstruieren.


Das zweite Kapitel gibt zunächst Einblicke in die Selbstbeschreibung der Borana, Gabra und Garri basierend auf deren mündlich überlieferter Geschichte zu ihrer Herkunft, Ausbreitung, ihren internen Spaltungen sowie ihrer Rekonstituierung als ethnische Gruppen. Es werden historisch zurückliegende Identifikationsprozesse rekonstruiert, insofern sie von den Akteuren für die institutionalisierte Identitätspolitik der Gegenwart herangezogen werden. Es spielt durchaus eine Rolle, wie Menschen die Vergangenheit sehen, denn auf dieser historischen Basis stellen sie sich die Gegenwart und auch die Zukunft vor. Diese Vorstellungen sind schließlich auch Grundlage für ihre Handlungen. Im Rahmen dieses Kapitels wird die Bedeutung von Deszendenzideologien, Herkunftsorten und Migrationswegen hervorgehoben. Die Borana verfolgen ihre Herkunft zu einem Ort (Madda Walabu) nordöstlich ihres gegenwärtigen Territoriums zurück. Borana-Älteste geben an, dass an diesem Herkunftsort die Abspaltung von den Oromo stattgefunden habe. Andererseits führen sie ihre derzeitige Identifikation mit den Oromo auf die Existenz gruppenübergreifender Lineages und Bräuche zurück.


Die Gabra und Garri behaupten beide, aus dem Jemen zu stammen. Die Garri können ihre Genealogie sogar bis zur Familie des Propheten Mohammed zurückverfolgen. Ihre Herkunfts- und Migrationsgeschichte verbindet die Gabra und Garri mit dem für die Muslime Heiligen Land. In der Praxis jedoch dient die Berufung auf einen gemeinsamen Herkunftsort dem Anspruch auf gemeinsame Abstammung, während die Verneinung eines gemeinsamen Herkunftsortes die Verneinung gemeinsamer Vorfahren impliziert. Die Somali im weiteren Sinne formulieren ähnliche Ansprüche, inklusive einer genealogischen Verbindung zur Familie des Propheten. Eine Verbindung zu Arabien herzustellen, bedeutet für die Gabra und Garri eine Verbindung zu den Somali geltend zu machen. Die Garri können ihre Herkunft zudem im Einklang mit der nationalen Somali-Genealogie zurückverfolgen. Im Gegensatz dazu berufen sich die Borana auf eine gemeinsame Oromo-Abstammung und grenzen sich von den Gabra und Garri ab. Dieser Anspruch auf gemeinsame Abstammung seitens der Gabra und Garri blieb jedoch latent, bis der Somali Nationalismus, der in den 1970er Jahren seine Blüte erreichte, ein Bündnis notwendig machte. Bis dahin war das Wissen um die gemeinsame Herkunft lediglich Teil der Erinnerung, sichtbar z.B. in gleichen Klannamen oder ähnlichen Brandzeichen für Kamele.


Die Borana und Gabra hatten bereits Beziehungen auf der Grundlage einer Institution namens tiriso aufgebaut. Basierend auf gegenseitiger Unterstützung verband diese Institution Gabra-Klans und Klans der Borana, jedoch in asymmetrischen Beziehungen. Die Gabra, welche die kleinere und stärker von Ressourcen abhängige Gruppe war, nahmen die Rolle des Juniorpartners ein. Ritualisierte Tauschbeziehungen halfen, die Beziehungen der beiden Partner harmonisch zu stabilisieren und gleichzeitig eine klare Abgrenzung zwischen beiden Gruppen aufrechtzuerhalten. Über Jahrhunderte des Bestehens von Inter-Klan-Affiliationen hinweg hatte die Abgrenzung zwischen den betroffenen Klans Bestand. Diese Abgrenzung wurde erst in der Ära verstärkter Identitätspolitik bzw. durch das Aufkommen der damit verbundenen „Politik der Differenz“ problematisch. Seitdem stehen die Gabra – mit ihren Inter-Klan-Beziehungen mit den Garri und ihren gruppenübergreifenden rituellen Affiliationen mit den Borana – im Zentrum der Identitätsansprüche und -verhandlungen im Rahmen von Identifikationspolitiken.


Wie im dritten Kapitel ausgeführt wird, sind die Borana, Gabra und Garri alle Pastoralisten. Vieh ist ihr wertvollstes Gut. Die Viehzucht hängt vom Zugang zu Weideflächen und Wasser ab. Beides sind sehr knappe Ressourcen in einer semiariden Umgebung. In der südäthiopischen Forschungsregion sind Weideland und Wasser zudem kollektives Eigentum, dessen Zugang durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder einem Klan bestimmt wird. Besonders streng reguliert sind der Zugang zu Wasserlöchern und das Recht, Wasser aus Tiefbrunnen zu nutzen. Zugangsrechte stellen einen entscheidenden Faktor in der pastoralen Wirtschaft der Borana und benachbarter Gruppen dar. Es wird daher herausgearbeitet, in welcher Weise Schlüsselressourcen pastoralen Wirtschaftens Teil von Identifikationsprozessen sind, insbesondere vor dem Aufkommen verschiedener nationalistischer Bewegungen.


Jenseits der Perspektive auf die identifikationsbildenden Aspekte von Ressourcen im täglichen Leben pastoraler Gemeinschaften wird in späteren Kapiteln (vier bis sechs) die Frage nach der Rolle von Eliten in Identifikationsprozessen gestellt. Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel drei zunächst folgender Frage nachgegangen: Wenn die Elite im Rahmen von staatlicher oder ethno-nationalistischer Identifikationspolitik handelt, was bedeutet Identitätspolitik dann für die nicht der Elite zugehörigen Pastoralisten? Genau diese Fragestellung macht eine kurze Diskussion der pastoralen Ressourcen notwendig. Diese Ressourcen stehen im Zentrum von Entscheidungsprozessen, die dem Schließen von lokalen Bündnissen, sich verschiebenden Loyalitätsverhältnissen und dem individuellen Wechsel von Identitäten zum Teil, wenn nicht sogar ausschließlich, zugrunde liegen. Dies wird am Beispiel des Zugangs zu Wasser besonders deutlich. Verschiedene politische Regimes, darunter auch die kurzzeitige italienische Kolonialherrschaft, kontrollierten die Brunnen, die viele Male die Besitzer wechselten. Brunnen wurden instrumentalisiert, um Kämpfe zu rechtfertigen und Bündnisse zu schließen. Da nur wenige Brunnen existieren, waren sie wichtige Faktoren bei der Entscheidung für die eine oder andere Seite.


Kapitel vier behandelt die Identifikationsprozesse bei den Borana, Gabra und Garri im Kontext gewalttätiger Konflikte und neu auftretender Nationalismen. In den 1960er Jahren war es das Ziel der unabhängigen Republik Somalia, alle Somali in Nordost-Afrika in einem einzigen Staat zu vereinen. Die somalische Regierung erhob daher Anspruch auf Gebiete in benachbarten Staaten, insbesondere in Äthiopien und Kenia. Dies betraf die östlichen und südlichen Teile Äthiopiens und den nördlichen Grenzdistrikt (den ehemaligen Northern Frontier District) Kenias. Die Folge waren kämpferische Auseinandersetzungen zwischen diesen Staaten, die konkurrierende territoriale Ansprüche hatten und die Einwohner der umstrittenen Gebiete in ihre Ansprüche einbezogen. Neben den somalischen und äthiopischen Ansprüchen kam mit dem Auftreten des Oromo-Nationalismus in Äthiopien noch ein weiterer Anspruch auf ethnische Territorien und auf die darin lebende Bevölkerung hinzu. Die Borana, Gabra und Garri waren am meisten von diesen konkurrierenden Ansprüchen der verschiedenen nationalistischen Bewegungen betroffen.


Im Zuge der nationalistischen Mobilisierung beriefen sich Somali-Vertreter des äthiopischen Staates auf kulturelle Marker und genealogische Verbindungen mit den Gruppen in den umstrittenen Gebieten. Dies ermutigte verschiedene Gruppen dazu, spezifische Aspekte ihrer Identität hervorzuheben. Die Garri verbanden den Wettbewerb um pastorale Ressourcen mit den Borana und den Druck der äthiopischen Beamten sofort mit dem aufkommenden Somali-Ethno-Nationalismus. So stellten sich die Garri schnell an die Seite der Somali und beteiligten sich auch bald an den Rebellenbewegungen, die von der Republik Somalia gefördert wurden. Nach den Garri besannen sich auch die Gabra auf ausgewählte Merkmale ihrer Identität (Barth 1969). Sie „erinnerten sich“ an ihre gemeinsame Herkunft mit den Garri, unterzogen ihre mündlich überlieferte Geschichte einer Prüfung, definierten ihre Identität neu und affiliierten sich mit den Somali. Die Gabra demonstrierten ihre neue Identität, indem sie sich massiv der Somali-Rebellenbewegung anschlossen, und ihren Verbindungen zu den Borana abschworen.


Die im zweiten Kapitel diskutierten Rohmaterialien der Identifikation (Abstammungslinien und Herkunftsorte), die über Jahrhunderte hinweg nur latente Bedeutung gehabt hatten, wurden nun aktiviert. In einer Situation, die Bündnisse notwendig machte, wurden diese Identifikationsmaterialien unverzichtbar. Debatten über Identität wurden letztlich durch die Notwendigkeit eines Bündnisses mit der einen oder anderen nationalen Bewegung angeregt und stimuliert, und nicht etwa umgekehrt. Als die beteiligten Akteure Bündnisse für unverzichtbar erachteten, drückten sie dies über ihre Identität aus, was evokativer wirkte als der Pragmatismus eines rein politischen Bündnisses. Sie arbeiteten also an ihrer Identität, artikulierten und definierten sie neu, weil die Situation dies unverzichtbar machte. Die Republik Somalia schuf dabei erst einen Handlungsrahmen für diese oromo-sprechenden Gruppen am Rande der Somali-Kultur, indem sie die Rebellenorganisation Somali Abo Liberation Front ins Leben rief.


Die Ideologie der gemeinsamen Somali-Abstammung griff jedoch nicht bei den Borana. Es waren vor allem die nicht-muslimischen Borana, die sich weigerten, Somali zu werden oder sich mit den Somali zu verbünden. Sie teilen weder kulturelle Marker, noch eine gemeinsame Herkunft oder eine Geschichte freundschaftlicher Beziehungen mit den Somali. Die von außen vorgenommene Kategorisierung der Borana als Somali wurde von den Borana selbst abgelehnt. Dieses Beispiel zeigt die Grenzen der Erfindung gemeinsamer Abstammungslinien (Schlee 2004). Die Tatsache, dass die Gabra und Garri eine Somali-Identität annahmen, während die Borana sie ablehnten, war nicht nur eine Frage der Virtuosität in Bezug auf Identitätsmanipulationen (Schlee 2004: 137). Vielmehr nutzten die Gabra und Garri aufgrund der gegebenen Situation vorhandenes Rohmaterial zur Identifikation auf eine andere, selektive Weise als die Borana.
Auf der anderen Seite betrachteten die Borana den Aufruf zum Bündnis und die Übergriffe der Somali-Rebellen als eine direkte Bedrohung ihrer traditionellen Ressourcen. Für die Borana war die Entscheidung für eine Seite mit der Kalkulation verbunden, welcher der beiden Staaten – der äthiopische oder der somalische – eher den Schutz ihrer Ressourcen gewährleisten konnte. Die Furcht vor den Somali überwog auch vor dem Hintergrund des Traumas der Eroberung durch den äthiopischen Staat oder seiner Hochlandrepräsentanten. Die Borana wussten, dass das äthiopische Interesse an ihnen nicht über das Einziehen von Steuern hinausging, was Äthiopien seit der Besatzung auch tat. Die bäuerlichen Gruppen des Hochlandes, aus denen ein Großteil der äthiopischen Elite stammt, die den äthiopischen Staat führten, hatten nur wenig Interesse am Weideland der Borana. Daher betrachteten die Borana die Bauern aus dem Hochland auch nie als eine potentielle Bedrohung ihrer pastoralen Ressourcen, ganz im Gegensatz zu den Somali. Diese sind selbst Viehzüchter und konkurrierten mit den Borana seit jeher um die gleichen ökonomischen Nischen. Daher blieben die Borana misstrauisch gegenüber den Aufrufen von Somali-Nationalisten, sich ihnen anszuschließen. Allerdings war die Reaktion der Borana auf solche Aufrufe nie einheitlich.


Im fünften Kapitel werden Identifikationsprozesse bei den Borana, Gabra und Garri im Zusammenhang mit der institutionalisierten Ethnizität in Äthiopien untersucht. 1991 kam es zu Regimewechseln sowohl in Somalia als auch in Äthiopien. Zwei Militärdiktatoren, Siad Barre in Somalia und Mengistu Haile Mariam in Äthiopien, wurden gestürzt. Während Somalia bis heute ohne effektive staatliche Strukturen ist, fand in Äthiopien eine Rekonfiguration des Staates statt. In seiner neuen Staatsform verfolgte Äthiopien einen Föderalismus auf ethnischer Basis, wobei Ethnizität zum Organisationsprinzip des Staates sowie aller Ebenen staatlicher Strukturen erhoben wurde. Das Land wurde in elf vermeintlich autonome ethnische Bundesstaaten gegliedert, inklusiver zweier Großstädte mit dem Status eines Bundesstaates. Die Auswirkungen der beiden Regimewechsel und die Neustrukturierung Äthiopiens hatten entscheidenden Einfluss auf Prozesse der Identitätskonstruktion in Südäthiopien. Erstens entstanden dadurch neue politische Akteure: die Oromo und die Somali in ihrer ethno-politischen Form nach 1991. Der Oromia-Bundesstaat und der Somali-Bundesstaat, die offiziell jeweils den Oromo und Somali gehören, sind zwei der elf ethnischen Bundesstaaten. Zweitens wurde Ethnizität als entscheidendes Organisationsprinzip des Staates sehr eng mit der Ressourcenfrage verflochten. Für Gruppen an den Grenzen der Oromia- und Somali-Bundesstaaten ist es daher extrem wichtig geworden, zu den Oromo oder Somali zu gehören. Ganz allgemein ist eine neue politische Arena entstanden, in der Gruppen unterschiedlichen Möglichkeiten und Einschränkungen begegnen. Daher mussten die verschiedenen Akteure ihre Selbsdefinition und auch ihre Zugehörigkeit überdenken. In einer Situation, in der Ethnizität durch eine umfangreiche ethnische Politik einschließlich der Definition ethnischer Gruppen und dazugehöriger Ressourcen institutionalisiert wird, überdenken und verhandeln ethnische Akteure ihre Identifikation zielgerichtet. Sie bewerten ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn, Machtzentren und Verteilungszentren von Ressourcen neu und dies auf der Grundlage ihrer – durch ihre Eliten definierten – Bedürfnisse.


Als Ethnizität zum institutionalisierten Identifikationskriterium wurde, unterstützten die Borana den Oromo-Nationalismus. Jenes Identifikationsmaterial, das zuvor benutzt wurde, um sich dem Somali-Nationalismus zu widersetzen, wurde nun erneut eingesetzt. So betrieben die Borana ganz entschieden eine Identifikation mit den Oromo, indem sie Erinnerungen an vergangene Identifikationsmuster und konfligierende Interessen über pastorale Ressourcen mit den benachbarten Somali-Klans aufleben ließen. Diese Identifikation der Borana mit den Oromo wurde zudem durch die neue politische Dynamik unterstützt. Die Oromo-Ethno-Nationalisten hoben ihrerseits in der Artikulation des von ihnen betriebenen Nationalismus auch die symbolische Bedeutung der Borana hervor. Diese wurden als kultureller Prototyp genutzt, um dem Oromo-Nationalismus ethnisch-symbolische Aspekte zu verleihen.


Die Gabra und Garri fuhren kontinuerlich fort, ihre ethnische Zugehörigkeit zu entweder den Somali oder Oromo neu zu verhandeln und umzudefinieren. Die Garri, die in den 1960er und 1970er Jahren die Vorreiter des Somali-Nationalismus in Südäthiopien waren, änderten ihre Affiliationen in den Jahren zwischen 1991 und 1995 zweimal. 1991 wandten sich die Garri von den Somali ab zugunsten der Oromo; sie änderten auch den Namen ihrer politischen Partei. Aus der in den 1970er Jahren gegründeten Somali Abo Liberation Front wurde nun die Oromo Abo Liberation Front. Die Garri wurden Teil des neu gegründeten Oromia-Bundesstaates, in dem die Amtssprache an Schulen und bei Behörden Afaan Oromo ist. 1995 kam dann die Rückbesinnung auf die Somali, und auch die Partei wurde wieder in Somali Abo Liberation Front umbenannt. Das Siedlungsgebiet der Garri wurde an den Somali-Bundesstaat angeschlossen, in dem die Amtssprache Somali ist.
Die Gabra sind zwischen den Oromo und Somali gespalten, entlang individueller Loyalität gegenüber dem Oromia-Bundesstaat oder dem Somali-Bundesstaat. Gabra, die im Oromia-Bundesstaat arbeiteten, beanspruchten für sich eine Oromo-Identität. Diejenigen, die im Somali-Bundesstaat Arbeit bekamen, machten eine Somali-Identität geltend. Gabra-Akteure revitalisierten schließlich traditionelle Institutionen und rahmten dementsprechend auch ihre „Politik der Differenz“. Gabra, die im Staatsdienst im Oromia-Bundesstaat tätig waren und die mit ihnen verbundenen Gabra-Ältesten führten das Altersklassen- und Generationen-System, das als gada System bekannt ist, wieder ein – ein System, das erst zwei Jahrzehnte zuvor aufgegeben worden war. Zur gleichen Zeit ließen Gabra-Beamte im Somali-Bundesstaat die taliya wieder auferstehen (eine Institution vergleichbar mit dem Klanvorsteher, die vor etwa drei Jahrhunderten abgeschafft wurde) und integrierten diese Institution in den Diskurs zur Somali-Identität der Gabra. Einige Akteure sind regelrechte Unternehmer in Sachen Identität und verstehen es geschickt, sich wandelnde Opportunitätsstrukturen zu nutzen, indem sie zwischen verschiedenen umfassenderen Identitäten switchen (Elwert 2002).


In Kapitel sechs wird der Zusammenhang zwischen ethnischer Identitätspolitik und der Konsolidierung von Grenzen und Territorialität dargestellt. Die Gebietsstreitigkeiten zwischen dem Oromia-Bundesstaat und dem Somali-Bundesstaat sowie die eingesetzten Schlichtungsstrategien zeigen, wie ethnische Identitätspolitik und die gegenwärtige Herauskristallisierung von Ethno-Territorialität sich gegenseitig verstärken. Die neue politisch-administrative Struktur des äthiopischen Staates ruft territoriale Ansprüche hervor. Aalen (2006: 247) verweist darauf, dass in der Verfassung angenommen wird, dass die ethnischen Gruppen konzentriert in bestimmten Gebieten leben. Die staatlichen Ressourcen werden gemäß den Verwaltungseinheiten zugeteilt, die entlang ethnischer Linien verlaufen, die auch auf territorialer Besetzung durch bestimmte ethnische Gruppen beruhen. Als Folge davon hat sich die Wahrnehmung von Territorium durch die Pastoralisten verändert. Territorium wird nicht mehr nur aufgrund der vorhandenen Ressourcen wie Weideland und Wasser beurteilt, sondern ist nun mit der ethnischen Identität der Bewohner verbunden. Die Besetzung eines Territoriums ist auch zur Grundlage für politische Ansprüche geworden. Nach 1991 wurden die administrativen Karten neu gezeichnet. Dies war ein sehr komplexer Prozess, in dessen Verlauf die vielfältigen Auswirkungen von Identitätspolitiken und Staatsbildungsprozessen auf pastorale Gemeinschaften immer wieder spürbar wurden. Kurz nach der Reorganisation Äthiopiens entlang ethnischer Linien standen sich der Oromia-Bundesstaat und der Somali-Bundesstaat mit konkurrierenden territorialen Ansprüchen gegenüber.

 

Umfangreiche Gebiete, viele Verwaltungseinheiten, pastorale Ressourcen – wie z.B. Wasserlöcher –, ganze Ortschaften und Serviceeinrichtungen waren umstritten. Um die Streitigkeiten beizulegen, wurden neue Verhandlungsformen angewandt, die auch neue Methoden der Konfliktlösung einschlossen, wie etwa das Referendum. Der Verhandlungsprozess machte deutlich, dass heterogene staatliche Akteure und unterschiedliche Interessen und Strategien involviert waren. Es gab Spannungen und Verhandlungen zwischen Vertretern der ethnischen Bundesstaaten, zwischen diesen und Vertretern des Nationalstaats, und zwischen verschiedenen Gruppen in den einzelnen Bundesstaaten.


Nach langen Verhandlungen, in die Akteure aus den höchsten Staatsämtern wie auch Älteste pastoraler Gruppen einbezogen waren, wurde im Oktober 2004 ein Referendum zu den umstrittenen Gebieten an der Oromia-Somali-Grenze abgehalten. Dabei konnten sich die Einwohner von 422 kebele (kleinste Verwaltungseinheit, vergleichbar mit einer Gemeinde) entscheiden, ob ihre Verwaltungseinheit Teil des Oromia-Bundesstaates oder des Somali-Bundesstaates sein sollte. Da Politik und Ethnizität aber ineinander verwoben sind, verlief die Mobilisierung vor allem entlang ethnischer Kategorisierung und nicht etwa im Hinblick auf administrative Präferenzen. Es war ein Votum über die ethnische Identität der Bewohner der umstrittenen Gebiete. Dieser Prozess verdeutlicht den Zusammenhang zwischen ethnischen und territorialen Grenzen.


Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass eine Gruppe oder ein individueller Akteur sich mit einer größeren Gruppe identifiziert, wenn historische Identifikationsmuster (angenommene gemeinsame Herkunft und kulturelle Marker) und die gegenwärtige Situation sowie die ersichtlichen Vorteile zusammenpassen. In einem solchen Fall wird das passende kulturelle und historische Identifikationsmaterial hervorgehoben. Die Akteure konstruieren eine Identifikation mit einer größeren Gruppe, indem sie selektiv neue Elemente aufgreifen und bereits vorhandene Praktiken und ethno-nationale Symbole (re-)aktivieren und integrieren.


Wenn allerdings die aktuellen Interessen oder Bedürfnisse nicht zu den bereits vorhandenen Identifikationsmustern passen, bleiben die Akteure in ständiger Bewegung zwischen verschiedenen umfassenderen Identitäten. Sie verhandeln, definieren und konstruieren ihre Identifikation ständig neu. Wenn die momentanen Bedürfnisse nicht zu vorhandenen Identifikationsmustern passen, dann wägen die Akteure eher die möglichen Vor- und Nachteile von solchen Identifikationen ab (Schlee 2008c: 15) als kulturelle Merkmale und die Erinnerung an historische Identifikationen. Die Arbeit zeigt, dass das Wissen um vorhandene Identifikationsmuster sowie „Gleichheit“ und „Differenz“ kultureller Merkmale nicht ausreicht, um die Prozesse von Identifikationskonstruktion zu verstehen. Vielmehr beurteilen die Akteure das Gewicht der Geschichte und die Kraft kultureller Merkmale entsprechend ihrer aktuellen Situation, wobei für die Auswahl entscheidend ist, inwieweit die vorhandenen Identifikationsmuster und kulturellen Merkmale mit ihren gegenwärtigen Bedürfnissen und Ansprüchen zusammenpassen.

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