Kulturhäuser in Russland und ihre gegenwärtige gesellschaftliche Bedeutung

Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Habeck, Joachim Otto
Abteilungen
Sibirienzentrum (Prof. Dr. Christopher Hann)
MPI für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Zusammenfassung
Kulturhäuser sind in den Städten und Dörfern Russlands so alltäglich, dass alle, die dort gelebt haben oder längere Zeit zu Besuch waren, zu wissen glauben, wozu diese Institution dient. So überrascht es, wie wenig die Geschichte und Gegenwart der Kulturhäuser erforscht worden ist. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung haben in fünf Orten Sibiriens vergleichend untersucht, welche Rolle das Kulturhaus im heutigen Kulturbetrieb spielt und wie sich die Bereiche Bildung und Freizeit gewandelt haben.

Schnee von gestern? Das Kulturhaus als Forschungsobjekt

Auch wenn das Kulturhaus häufig mit einer recht weit zurückliegenden sozialistischen Vergangenheit assoziiert wird, so stellt es auch heute noch eine zentrale Institution im Kulturbetrieb zahlreicher Gemeinden in allen Teilen Russlands dar. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Sibirienzentrums am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung sowie mehrere lokale Forschungsassistentinnen und -assistenten haben im Frühjahr 2006 die Kulturhäuser in fünf verschiedenen Kleinstädten Sibiriens vergleichend untersucht. Im Zentrum stand die Frage, welche soziale und politische Bedeutung das Kulturhaus für die jeweilige Gemeinde hat, und wie sich diese Bedeutung im Laufe der Zeit gewandelt hat.

Ihre besondere Bedeutung gewinnt diese Studie vor dem Hintergrund bisher fehlender umfassender sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, die sich mit dem Kulturbetrieb in Russland – auch abseits der großen Städte – befassen. Auch ist wenig bekannt über Freizeitaktivitäten in einer Gesellschaft, die nach der schweren Krise in den 1990er-Jahren nun wieder zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt ist, wenngleich die Einkommen vieler Haushalte gerade in der „Provinz“ nach wie vor überaus bescheiden sind. Öffentliche Äußerungen von Politikern und Pädagogen zur Frage, wie Menschen ihre Freizeit (sinnvoll) verbringen sollten, sind meist mit hohen moralischen Erwartungen an das Individuum verknüpft.

Im Kontext kultur- und bildungspolitischer Debatten spielt das Kulturhaus eine zentrale Rolle. Doch weiß man bisher wenig darüber, wie sehr die Institution diesen Ansprüchen gerecht wird und wer eigentlich von den Angeboten der Kulturhäuser Gebrauch macht. Die Untersuchungen ergaben, dass ein- und dieselbe Institution in den einzelnen Gemeinden sehr unterschiedlich arbeitet. Auch erfüllen die Kulturhäuser eine Reihe offizieller ebenso wie nicht offizieller Funktionen: Sie dienen dem staatlichen Projekt der „Aufklärung“, sie sind Orte der Erholung und der Selbstvervollkommnung, werden für die Repräsentation der Gemeinde nach außen genutzt, dienen als Bühne für die Selbstdarstellung der örtlichen Eliten, und sie bieten nicht zuletzt Arbeitsplätze, speziell in Gegenden mit schwacher Beschäftigungsstruktur (Abb. 1).

Der Spagat zwischen Bildung und Unterhaltung

Der offizielle Auftrag der Kulturhäuser geht auf die europäische Arbeiterbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück, die eine verbesserte Ausbildung und damit verbunden die Emanzipation der Arbeiter anstrebte [1]. Das Hauptziel dieser Mission, die ganz im Sinne der Aufklärung stand, lag darin, durch Gesang, Tanz, Bühnenspiel, politische Diskussionen und andere kreative Freizeitaktivitäten „Kultur zu den Massen zu tragen“ [2]. Sozialistische Werktätige (Arbeiter und Bauern) sollten mit dem Besuch des Kulturhauses die eigene Persönlichkeit schulen und gleichzeitig ihre Bildung und Umgangsformen vervollkommnen.

Die Mitarbeiter des Kulturhauses sollten bei ihrer Arbeit mit den Amateuren verborgene Talente entdecken und gezielt fördern. Darüber hinaus oblag den Kulturhäusern die Pflege örtlicher Folklore und Traditionen in einer politisch akzeptierten Form – insbesondere in den von Nichtrussen bewohnten Regionen. Je nach Größe wurden die Siedlungen der Sowjetunion ab den 1920er-Jahren mit unterschiedlichen Typen kultureller Institutionen ausgestattet: Kulturpaläste in Großstädten, Kulturhäuser in Kleinstädten und größeren Landgemeinden sowie Klubs in den kleineren Dörfern. Häufig wurden Kulturhäuser und Klubs in oder anstelle von ehemaligen Kirchen untergebracht.

War die aufklärerische Mission auch oberstes Ziel der Kulturhäuser, ging sie doch mit einer weit trivialeren Komponente einher – der Unterhaltung. Die Einwohner der Kleinstädte und Dörfer durften durchaus erwarten, dass die Kulturarbeiter sie in ihrer Eigenschaft als – teils professionelle – Artisten mit ihren Auftritten vergnügen (Abb. 2). Wie kaum ein anderer Ort waren die Räumlichkeiten des Kulturhauses auch für Tanzveranstaltungen geeignet und wurden ab den 1970er-Jahren genutzt, um dort Disko-Abende zu organisieren. Nicht alle Kulturarbeiter waren erfreut über derlei Aktivitäten, zumal dies den Alkoholkonsum in der Umgebung der Kulturhäuser begünstigte. Zwar ist der Konsum von Alkohol in den Kulturhäusern gewöhnlich untersagt, aber viele Diskobesucher trinken Alkohol in unmittelbarer Nähe des Veranstaltungsortes. Daraus könnten sich, so die Befürchtung, Situationen unkontrollierten und „unkultivierten“ Verhaltens ergeben, die in gewisser Weise im Gegensatz zum Anspruch des Kulturhauses als Ort der Kultivierung stehen.

Der Umgang mit knappen Finanzen

Mit welcher Intensität und welcher Ausrichtung die einzelnen Kulturhäuser arbeiten, hängt von vielfältigen wirtschaftlichen, sozialen, aber auch persönlichen Faktoren ab. Den Kulturhäusern der Kleinstädte kommt im Vergleich zu denen der Großstädte eine viel stärkere Bedeutung bei der Freizeitgestaltung der Einwohner zu: In den Kleinstädten sind die Einkommen meist geringer und die Möglichkeiten des Besuchs kommerzieller Freizeitangebote sind somit stark limitiert. Der Besuch des Kulturhauses hingegen ist fast immer kostenlos. Natürlich hat auch diese Kulturarbeit ihren Preis und hängt von staatlichen Zuwendungen ab. Während der Krisenjahre des letzten Jahrzehnts sind die Zuwendungen faktisch stark geschrumpft, und die Kulturhausleiter mussten sich nach alternativen Einnahmequellen umsehen. Eine Möglichkeit der Aufbesserung der finanziellen Mittel bestand im Vermieten von Räumlichkeiten an Geschäfte und Dienstleister, eine andere im Erheben geringfügiger Beiträge von den Besuchern. Beide Maßnahmen waren aber schnell ausgeschöpft und standen zudem im Widerspruch zu der Aufgabe der Kulturhäuser, die kostenlose kulturelle „Grundversorgung“ der Bevölkerung zu gewährleisten.

Ein gewisser Grad der Kommerzialisierung in den Kulturhäusern ist heute – anders als während des Sozialismus – durchaus legitim. Je nach Region wird sie von den örtlichen Kulturämtern toleriert oder sogar unterstützt, da sie eine Überlebenschance in Zeiten knapper öffentlicher Kassen bietet. Ferner schafft die 2003 verfügte und sich allmählich vollziehende Übergabe der Kulturhäuser aus dem Verantwortungsbereich der Landkreise in kommunale Trägerschaft neue – aber nicht immer einfachere – Voraussetzungen für die Finanzierung und Abrechnung.

Tätigkeitsberichte zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Auf Grund des Spagats zwischen erbauender Bildung und Unterhaltung und der Notwendigkeit der Mischfinanzierung gibt es auffallende Differenzen zwischen den Aktivitäten, die Eingang in die offiziellen Tätigkeitsberichte der Kulturhäuser finden, und denjenigen, die tatsächlich stattfinden. In Anbetracht der Aufgabenstellung zählen für die regionalen Kulturämter vor allem die Anzahl der Veranstaltungen und die Besucherzahlen. Der Erfolg der einzelnen Kulturhäuser wird hauptsächlich anhand quantitativer Kriterien bewertet. Da die finanzielle Ausstattung von dieser Auswertung abhängt, ist es weitverbreitete Praxis, möglichst umfassend über Tätigkeiten zu berichten und die Zahlen gut aussehen zu lassen. Selbst ein Dorfklub, der vielleicht nur zwei- oder dreimal im Jahr seine Türen öffnet, mag offiziell drei oder mehr „kulturelle Zirkel und Freizeitzirkel“ beherbergen, die angeblich regelmäßig wöchentlich oder monatlich zusammenkommen. Und so wird auch gelegentlich ein Teetrinken in vertrauter Runde im Tätigkeitsbericht als Diskussionsveranstaltung zu einem politisch relevanten Thema ausgewiesen.

Aus der Forschung vor Ort ging hervor, dass so manches Kulturhaus für die meiste Zeit des Jahres geschlossen war, um kurz vor dem Besuch der Kommission der Regionalverwaltung in ungeahnten Arbeitseifer auszubrechen. Möglichst viele talentierte Einwohner sollten dann ihr Können auf der Bühne gegenüber der Kommission beweisen. Andererseits finden in den Kulturhäusern kommerzielle Kosmetikmessen oder Büchermärkte statt, die keinen Eingang in die Tätigkeitsberichte finden. Darüber hinaus gastieren Kulturhausmitarbeiter auf privaten Hochzeiten und Jubiläen, um ihr spärliches Gehalt aufzubessern. Diese Beobachtungen illustrieren die Kluft zwischen dem etablierten Bildungsauftrag und den diversen Funktionen, die das Kulturhaus für die Gemeinde in der Praxis erfüllt.

Die Bühne für soziale Anerkennung

Das Kulturhaus hat eine repräsentative Funktion für die Gemeinde als Ganzes: Es ist die Bühne, auf der die kulturelle Identität des Gemeinwesens ebenso wie der Grad der Kultiviertheit (kul’turnost’) [3] ausgedrückt wird. Durch eine überzeugende Bühnenpräsenz können sich die örtlichen Kulturarbeiter gegenüber den Kulturbehörden beweisen, und die Gemeinde bringt zum Ausdruck, dass sie die Spielregeln des Wetteiferns um Bildung und kulturelles Kapital [4] erfolgreich anzuwenden weiß. Dadurch wird auch der Zusammenhalt innerhalb der Gemeinde gefördert.

In vielen Gemeinden sind die Kulturarbeiter für die Planung und Durchführung der Feierlichkeiten an den jährlichen landesweiten Gedenktagen (wie beispielsweise am Tag des Sieges am 9. Mai) oder regionalen Feiertagen (zum Beispiel das buddhistische Neujahrsfest) zuständig (Abb. 3). Lokalpolitiker und die Gemeinde erwarten, dass die Angestellten der Kulturhäuser zu diesen Anlässen die entsprechenden Zeremonien und Rituale durchführen, und für Dekoration und Kostümierung werden eigens Finanzmittel bereitgestellt. Charakteristisch für diese Feiern sind das kollektive Gedenken an die örtlichen Helden und die Vergegenwärtigung lokaler Traditionen. Der ritualisierte Ausdruck von Respekt und sozialer Anerkennung ist aber nicht auf Ereignisse und Personen der Vergangenheit beschränkt, sondern bezieht sich auch auf die Gegenwart. Kulturarbeiter überreichen Auszeichnungen an talentierte Laienkünstler, verdienstvolle Werktätige, kinderreiche Mütter und andere Mitglieder der örtlichen Gemeinschaft, denen Respekt erwiesen werden soll. Mit anderen Worten, die Kulturhäuser stellen die Bühne für das Spiel gesellschaftlicher Anerkennung [5] und die ritualisierte Propagierung sozialer Normen. Damit sind sie fester Bestandteil des öffentlichen Managements von Anerkennung und Normierung.

Fazit

Die Ergebnisse zeigen, dass die Institution Kulturhaus im Russland der Gegenwart fest verankert ist, gerade weil sie neben der offiziellen Zweckbestimmung weitere vielfältige implizite Funktionen hat. Die Arbeit der einzelnen Kulturhäuser ist Gegenstand von Diskussionen in den lokalen Gemeinden, die Bedeutung und der Auftrag der Institution als Ganzes dagegen ist Thema kulturpolitischer und sozialwissenschaftlicher Debatten. In den Metropolen mag von Auftrag und Einfluss der Kulturhäuser nurmehr selten die Rede sein, in der Provinz jedoch leisten sie einen wichtigen Beitrag im Bereich der außerschulischen Bildung und nichtkommerziellen Freizeitgestaltung. Prognostisch lässt sich vermuten, dass diese Institution an Bedeutung eher zu- denn abnehmen wird: Kulturhäuser beteiligen sich an der Erziehung „guter Staatsbürger“ und der Verbreitung moralischer Werte des gesellschaftlichen Mainstreams. Mit ihrer Hilfe kann der Staat weiterhin die patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen und andere ideologisch relevante Inhalte propagieren. Möglicherweise erhalten die Kulturhäuser eine weitere Funktion zurück: die des staatlich kontrollierbaren Raums der Freizeitgestaltung, wie er schon in der Vergangenheit existierte [6].

Originalveröffentlichungen

1.
H. Groschopp:
Breitenkultur in Ostdeutschland: Herkunft und Wende – wohin?
Aus Politik und Zeitgeschichte 11, 15–22 (2001).
2.
A. White:
De-Stalinization and the House of Culture: Declining State Control Over Leisure in the USSR, Poland and Hungary, 1953–1989.
Routledge, London 1990.
3.
V. Volkov:
The Concept of kul’turnost’: Notes on the Stalinist Civilization Process.
In: Stalinism: new directions. (Ed.) S. Fitzpatrick. Routledge, London 2000, 210–230.
4.
P. Bourdieu:
Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005 [1979].
5.
Honneth, A.:
Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003 (erweiterte Ausgabe).
6.
J. O. Habeck:
Enacting ‘Culture’ and ‘Culturedness’: Why People May or May Not Want to Spend Their Free Time in the House of Culture.
In: kultura: Russian Cultural Review 2007(1), 14–18. http://www.kultura-rus.de/kultura_dokumente/ausgaben/englisch/kultura_1_2007_EN.pdf (accessed 6 January 2009)
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