Vanishing Stones and the Hovering Giraffe: Identity, Land and the Divine in Mela, South-West Ethiopia

Lucie Buffavand
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

OPAC

Date of Defense | Tag der Verteidigung
19.12.2017

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Schlee
Prof. Dr. Jon Abbink

German Summary | Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation untersucht Prozesse kollektiver Identifikation sowie Praktiken der Raumaneignung und der Schaffung von Orten bei einer agro-pastoralen Gruppe in Südwest-Äthiopien, vor und während der regierungsgestützten Entwicklung kommerzieller Landwirtschaft auf ihrem Land. Die Arbeit basiert auf Feldforschungen, die insgesamt 21 Monate lang andauerten und zwischen Oktober 2010 und Januar 2016 bei den Mela im Distrikt Salamago durchführt wurden, der an das Ostufer des Omo-Flusses angrenzt. Die Gruppe der Mela, die von Außenstehenden auch als ‚Bodi‘ bezeichnet wird, zählt etwa 6.000 Menschen und gehört zu den surmisch (mɛ’ɛnɛn) sprechenden Me’en oder Surma, deren Gebiete sich über verschiedene Ökosysteme erstreckt. Beginnend im 19. Jahrhundert migrierten die Me’en in ein höher gelegenes Gebiet, während die Mela gegenwärtig immer noch die Herkunftsgebiete im Tiefland bewohnen. Die Mela werden von den meisten Me’en als die authentischen Träger der Me’en Kultur anerkannt. Sie sind auch Teil der anhaltenden Migrationsbewegung der Me’en, die sich wiederum in die allgemeine, nordwärts gerichtete Migration der Völker des Omo-Tals einfügt. Die südlichen Nachbarn der Mela, die Mursi, breiten sich allmählich immer weiter in das ehemalige Siedlungsgebiet der Mela aus. Wie bewahren die Mela angesichts von Bevölkerungsbewegungen und sich verschiebender Territorien ihre Identität? Meine Forschung fällt in eine Zeit historischer Umwälzungen für die Mela, einem stark beschleunigten Prozess der Penetration des Staates in das Untersuchungsgebiet, der mit der Eroberung südlicher Regionen durch nord-äthiopische Armeen im späten 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm. Der Bau hydroelektrischer Dämme entlang des Omo Flusses ermöglicht seit 2012 die Entstehung einer kommerziellen Bewässerungslandwirtschaft in den Gebieten, die traditionell den Mela und anderen Gruppen vorbehalten waren. Somit wurde dies zu einem Fall von Entwicklung durch Enteignung (Makki 2014). Dadurch erlitten die Mela einen großen Verlust an Land und Ressourcen. Sie waren mit tausenden ankommenden Arbeitsmigranten konfrontiert und wurden von der Regierung gedrängt, sich in großen, auf dem Reißbrett geplanten Dörfern niederzulassen und zu Vertragsbauern zu werden. Wie bewahren die Mela trotz dieser Veränderungen ihre kollektive Identität?

Ich behandle diese Frage unter Berücksichtigung des Transzendenten bei der Entstehung einer kollektiven Identität. Durkheims These der Religion als Repräsentation der Gesellschaft selbst und ihrer transzendentalen Kraft wird schon seit langem für ihr starres, reifizierendes Gesellschaftskonzept kritisiert, das die Gesellschaft losgelöst von den sie formenden Menschen betrachtet. Dennoch verdeutlicht es die Rolle des Sakralen für die Struktur einer Gemeinschaft. Das Transzendente wird als ein Bereich von Abstraktionen und essentialisierten Rollen verstanden: Kategorien wie Klans, die sowohl Tote wie Lebende umfassen, die zwar unsichtbar sind, denen aber trotzdem Macht innewohnen kann, und die damit eine zeitliche Kontinuität schaffen, die die menschliche Lebenszeit überschreitet (Bloch 2008). Die Art der mit dieser Kategorie verbundenen Macht und, wie diese die Grenzen menschlicher Existenz überschreitet, definiert einen bestimmten Transzendenzmodus (Giesen 2005). Letztlich sind es immer die Beziehungen zwischen Politik und Religion, die alle Gruppen einer Gesellschaft zu einem Ganzen zusammenfügen (Godelier 2011: 73). Die Zusammensetzung einer kollektiven Identität hängt von den Machtbeziehungen dieser beiden Bereiche ab. Beiden wohnt eine Form der Transzendenz inne, eine Verbindung zu göttlichen Kräften, die jeweils die Transzendenzform einer Gesellschaft als Ganzes definieren kann. Es ist daher meine These, dass die genaue Betrachtung der Transzendenzform einer Gesellschaft auch ein besseres Verständnis der Identität einer Gesellschaft und deren Veränderungen ermöglicht. Ich untersuche, wie die gemeinschaftliche Mela-Identität alternative Transzendenzformen aufgreift, die von verschiedenen Gruppen im Untersuchungsgebiet verkörpert werden, und denen eine ergänzende Rolle bei der Perpetuierung der Mela als eigenständige Gruppe zuerkannt wird.

Nach den mündlichen Überlieferungen der Mela entstand die Gruppe vor über 300 Jahren aus Einwanderern, die den Omo vom Westen her überquerten, die einheimische Bevölkerung bekämpften oder integrierten und eine neue politische Ordnung durchsetzten. Dies ist ein in afrikanischen Gesellschaften weit verbreitetes Muster. Diese frühen Einwanderer, die zugleich als Mela-Firstcomer kategorisiert werden, besitzen eine legitime Autorität, die sie über die ursprünglich einheimische Bevölkerung und später Angekommene stellt (Kopytoff 1987). Die Mela-Firstcomer heben ihren fremden Ursprung hervor und ihre Transzendenzkraft basiert auf dem scheinbar allgemein empfundenen Imperativ, Alterität zur Reproduktion diverser sozialen Gruppen einzusetzen (Sahlins 2008). Die Transzendenzkraft der Autochthonen wird weniger eindeutig eingeschätzt, da ihr Status sehr stark davon abhängt, wie später angekommene Gruppen deren Ursprung erklären (Jackson 2006). Dieser Status kann entweder als primitiv oder als prestigeträchtig interpretiert werden (Geschiere 2009: 11). Wenn Autochthone nicht einfach von später angekommenen Gruppen als direct aus dem ‚Land und Boden‘ entsprungen betrachtet werden, dann werden sie mit Leuten assoziiert, die sich in einem bestimmten Gebiet durchgesetzt haben – und dies gilt als ein Zeichen von Macht (Fayers-Kerr 2013).

Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf den Praktiken der Mela zur Raumaneignung und zur Schaffung von Orten, die ich im oben genannten Rahmen analysiere. Ich stütze mich hierbei auf Studien, die sich kritisch mit der noch weitverbreiteten Annahme, dass das Räumliche die Bedeutung verstetigt (Massey 2012 [2005]), auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang zeige ich, dass die Aneignung von Raum in Mela einen Prozess darstellt, der sich periodisch wiederholende und gefahrvolle Aktivitäten beinhaltet, auf die sich die Mela stützen, um ihre eigenen Transzendenzform zu realisieren. Mela, die zur Gruppe der Mela-Firstcomer gehören, und Autochthone tragen beide auf ihre eigene Art und Weise dazu bei, Orten eine für die gesamte Mela-Bevölkerung wichtige Bedeutung zu verleihen. Mela-Firstcomer werden vorrangig mit Bevölkerungsbewegungen in neue Territorien verbunden, insbesondere mit den Migrationen, die zur Entstehung der Mela als Gruppe führten. Die vorhandene Literatur zu Ostafrika (Berntsen 1979; Lamphear 1992, 1994, 1998; Waller 1995) hat sich bereits eingehend mit der Rolle von Propheten oder Wahrsagern bei der territorialen Expansion von Völkern mit Altersgruppen- und Generationen-Set-Systemen wie etwa den Turkana oder Maasai auseinandergesetzt. Sie beschäftigt sich bisher aber kaum mit der Art und Weise, wie ostafrikanische Pastoralisten die Ämter, die einer fremden Gruppe oder einer Firstcomer-Gruppe in den eigenen Reihen zu eigen ist, nutzen, um mittels ihrer Beziehungen zum Göttlichen oder Unbekannten eine dauerhafte Präsenz auf dem Land zu schaffen. In Mela findet dies zum Teil durch die Verwendung von Grabsteinen und die Institution der komorutiya (Sing. komorut) statt. Die Träger dieses erblichen Amtes haben die Aufgabe, Rituale zum Wohle und der Fruchtbarkeit aller durchzuführen. Durch ihre herausragende Stellung verfügen die Autochthonen über eine besondere Verbindung zum genius loci eines Gebietes oder eines Ortes. Die Mela schöpfen die Kräfte des genius loci oder eines toten komorut aus Ritualen und Zeremonien. Diese Kräfte spiegeln sich in Steinarrangements oder anderen Landschaftsmerkmalen wider und sind somit Teil der sozialen Konstruktion von Orten.

Die Arbeit folgt einem groben chronologischen Ablauf und beleuchtet abwechselnd die Bedeutung des Amtes des komorut und wichtige autochthone Eigenschaften für die soziale Reproduktion und die Bindung an Identität und Orte. Zuerst stelle ich die Entstehungsgeschichte der Mela dar, wie sie in der mündlichen Überlieferung beschrieben wird sowie die Migrationen, die den Ursprung der heutigen sozialen und territorialen Organisation der Mela markieren (Kapitel 3). Die Untersuchung jüngerer Migrationen beleuchtet insbesondere die Rolle der Institution des komorut bei Bevölkerungsbewegungen (Kapitel 4). Kapitel 5 rückt die Bedeutung dieser Institution für die lokale Gruppe in den Vordergrund und Kapitel 6 befasst sich mit deren Ausweitung auf die Schaffung von Orten. Die Reaktionen der Mela auf die seit 2012 auftretenden Veränderungen machen deutlich, welche Bedeutung Autochthonie für die Identität der Mela hat (Kapitel 7).

Die sozialen Integrationsprozesse in Mela sind ein Zusammenspiel von Gleichheit und Verschiedenheit (Schlee 2013). Wie im Kapitel 3 ausführlich gezeigt wird, unterscheiden die Mela zwischen Firstcomern – den Klans, die ursprünglich vom Westen her den Omo Fluss überquerten und somit das Mela-Volk gründeten – und allen anderen Klans einschließlich Autochthonen und Latecomern. Die mythischen Taten der Mela-Firstcomer wie das Durchbrechen eines Felsens, der ihnen den Weg versperrte, und das Teilen des Flusswassers, um das andere Ufer zu erreichen, sind Ausdruck der Transzendenz der Mela-Identität und der Fiktion eines gemeinsamen Ursprungs: Die Mela sagen, dass sie alle ‚aus dem Felsen hervorkamen‘. Diese primordiale Perspektive ihrer Identität ist vereinbar mit der Anerkennung der verschiedenen Ursprünge der Klans, die ihre Gesellschaft umfasst. Die Unterscheidung zwischen Mela-Firstcomern und anderen Mela drückt sich indes in der dualen Organisation ihrer Klans aus: Diese Klans sind in zwei exogame Hälften (moieties) aufgeteilt, wobei die Klans der Mela-Firstcomer eine übergeordnete Position einnehmen und die meisten politischen und rituellen Ämter besetzen. Am Beispiel der Mela zeige ich, dass Hierarchieunterschiede zwischen den Hälften integrativ wirken. Denn die Mitglieder dieser Gesellschaft sind sich alle darüber einig, dass nur die dominante Hälfte über die Gabe der Fruchtbarkeit verfügt und die untergeordnete Hälfte deshalb zur Reproduktion auf sie angewiesen ist. Es steht jedoch außer Frage, dass die Exogamie-Regel, die Heirat zwischen Mitgliedern derselben Hälfte offiziell verbietet, zweierlei Auswirkungen haben kann. Einerseits werden affinale Verbindungen zwischen Hälften geschaffen, sodass die durch hierarchische Teilung bestehende Spannungen abgeschwächt werden können. Andererseits können durch diese Exogamie-Regel Konflikte zwischen Männern verstärkt werden, die um dieselbe Braut konkurrieren, etwa zwischen einem nicht willkommenen Anwärter und den männlichen Verwandten der Patrilinie der Braut – also Konflikte innerhalb einer Hälfte oder zwischen den Hälften. Ich argumentiere, dass die Mela im Zusammenhang mit Heirat besonders auf den Ausdruck der gemeinsamen Identität von Männern aus Klans, die im Hälften-System als hierarchisch gleichgestellt gelten, bedacht sind. Die Exogamie-Regel hält die Unterscheidung zwischen den Mela-Firstcomern und allen anderen Gruppen weiterhin aufrecht. Dennoch haben die Mela Institutionen, die sich mit Konflikten zwischen Männern derselben Hälfte befassen und die für die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Identität zwischen Mitgliedern von Klans, die im Hälften-System hierarchisch gleichgestellt sind, zuständig sind. Neben dem Reziprozität fördernden dualen Hälften-System verfügen die Mela über eine dreistufige territoriale Organisation, die das Prinzip der Mediation fördert. Die Mela sind sich alle darüber einig, dass sie zum Erhalt ihrer politischen Stabilität einen komorut aus einem autochthonen Klan brauchen, damit dieser zwischen zwei anderen komorutiya, die beide Mela-Firstcomer-Klans angehören und mit einander rivalisieren, erfolgreich vermitteln wird. In ihren mündlichen Überlieferungen berichten die Mela oft von tödlichen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden komorutiya vom selben Mela- Firstcomer-Klan und von Auseinandersetzungen, in denen ein komorut autochthoner Abstammung, der die Tugenden der Ruhe und Friedlichkeit verkörpert, seine Neutralität bewahrte und der schwächsten Mela-Partei Schutz bot. Ein autochthoner komorut war auch in jüngerer Zeit dafür zuständig, die Friedenszeremonien durchzuführen, die offiziell die Beendigung von bewaffneten Konflikten zwischen den Mela und den benachbarten Mursi markierten. Ihre Alterität wird so von den politisch und rituell dominanten Mela-Klans bewusst instrumentalisiert.

Während des 20. Jahrhunderts zogen die Mela immer weiter nach Osten. Turton (1988) hat bereits untersucht, welche Umweltfaktoren die Mursi und die Me’en dazu bewegt haben, in höher gelegene, besser bewässerte Gebiete abzuwandern. Der Schwerpunkt des Kapitels 4 liegt auf den politischen Prozessen, die den Migrationen zugrunde liegen, welche zunächst wie eine historische Notwendigkeit erscheinen. Kopytoffs Modell der inneren Grenze zeigt auf, welche Folgen Brüche zwischen den politisch-rituellen Anführern einer Abstammungsgruppe haben: Sie werden an den Rand des Gemeinschaftsterritoriums gedrängt, wo sie ihre eigenen Anhänger finden können. Mela-Männer, die Migrationsbewegungen in das Dime-Hochland und in das Oso-Tal anführten, gehörten tatsächlich zum Klan eines komorut und wurden von ihrer Abstammungsgruppe ausgestoßen oder ihnen wurde das Amt des komorut verweigert. Der Kontext der neueren Migrationsbewegungen unterscheidet sich allerdings von der Ära vor der Eroberung der südlichen Regionen durch Nord-Äthiopier im 19. Jahrhundert. Die Anwesenheit nördlicher Siedler in Dime veränderte die Machtverhältnisse zwischen den Dime und Me’en (Mela und Chirim) erheblich zum Vorteil der letzteren Gruppe. Insbesondere war den Me’en der Waffenhandel erlaubt, während er den Dime versagt blieb. Die Me’en suchten im Hochland gut bewässertes Land für den Ackerbau, und da die Dime mancherorts enge nachbarschaftliche Beziehungen zu ihrem eigenen Schutz anstrebten, förderten sie zusätzlich die Migration der Me’en ins Hochland. Ich zeige, dass beide Gruppen eine Geschichte von Bündnissen zwischen Dime Stammesführern und Me’en komorutiya vorweisen können, wobei die Bündnisse oft auf der Annahme einer gemeinsamen Abstammung gründen. Ein Mitglied des Klans eines komorut wanderte zwar als erster Mela im 20. Jahrhundert in das Oso-Tal aus, doch seine Auswanderung führte nicht gleich zu einer größeren Bevölkerungsbewegung in das Gebiet. Diese Bevölkerungsbewegung fand erst mehrere Jahrzehnte nach seinem Tod statt. Zur Erklärung dieser jüngeren und plötzlichen Migration ziehe ich konfliktbezogene Identifikationsprozesse heran (Schlee 2008). Der Krieg der Mela gegen die Mursi Ende der 1990er Jahre, der die im Süden des Mela-Territoriums lebenden Mela zum Rückzug nach Norden zwang, erhöhte die Ressourcenknappheit in Mela und verschärfte die Spannungen zwischen lokalen Gruppen, sodass die Unterschiede zwischen den vordefinierten Identifikationskategorien verschärft wurden. Diese Spannungen wurden aber nicht durch die Auswanderung einzelner lokaler Gruppen vom Hauptsiedlungsgebiet der Mela in das Oso-Tal gelöst. Aus diesem Grund behaupten manchmal die in diesem Tal lebenden Mela-Männer, dass ihre Migrationsentscheidung eher politisch und nicht ökologisch motiviert war. Während frühere Migrationen in den mündlichen Überlieferungen als einmalige, große Bevölkerungsbewegung unter der Führung eines heroischen komorut dargestellt werden, zeigt sich bei der Untersuchung der Mela-Migrationen des letzten Jahrhunderts, dass die Führungsrolle des komorut nur einer von mehreren politischen Faktoren war, die dabei eine Rolle spielten. Die verschiedenen treibenden Kräfte für große Bevölkerungsbewegungen schließen Abspaltungen von Abstammungsgruppen der komorut, die Ausbreitung des Staates, Machtdynamiken zwischen ethnischen Gruppen sowie Identifikationsprozesse in Konfliktsituationen ein.

Um die Rolle und Bedeutung der Institution des komorut in der lokalen Gruppe genauer zu untersuchen (Kapitel 5), setze ich mich mit Studien zu sakralem Königtum auseinander. In diesen Studien lassen sich zwei Argumentationslinien erkennen. Einerseits wird argumentiert, dass der sakrale König positive Werte repräsentiert, die soziale Integration fördern (Evans- Pritchard 1940, 2011 [1948]). Andererseits wird konstatiert, dass er das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, indem er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im Antagonismus mit dem gemeinen Volk steht (Simonse 1992). Graebers jüngere Untersuchung des sakralen Königtums bei den Shilluk beleuchtet die Kosmologie – oder in den Augen der Shilluk die Schwierigkeiten des Lebens –, um diese Institution besser zu erklären (Graeber 2011). Der komorut kann durchaus als sakraler König betrachtet werden, auch wenn er außerhalb des rituellen Bereiches keine Macht hat, denn genauso wie bei einem sakralen König ist seine fremde Herkunft von Bedeutung, er ist symbolisch vom gemeinen Volk abgegrenzt, er verkörpert die Werte Frieden und Fruchtbarkeit und ermöglicht die Entstehung neuer politischer Identitäten. Die Mela verfügen aber noch über eine andere institutionalisierte Position, die positive Werte repräsentiert – den barit, den ‚beispielhaften Mann‘. Dieser muss reich sein und hervorragende moralische Eigenschaften aufweisen, um aus seiner Altersgruppe ausgewählt zu werden. Die bar – d.h. alle erwachsenen Männer, die nicht zur Patrilinie des komorut, sondern zum gemeinen Volk gehören – verbünden sich mit einer lokalen Gruppe und einem komorut. Letzterer ist nicht der einzige Integrationsfaktor einer lokalen Gruppe: Abstammung und Siedlungsgebiet sind ebenfalls relevant. Der barit verkörpert die positiven Eigenschaften, die alle seine männlichen Altersgenossen versuchen sollten anzustreben, wenn sie sich an der Schwelle zum Erwachsensein befinden: Selbstlosigkeit, Großzügigkeit, Selbstbeherrschung und Unparteilichkeit. Die Bedeutung des Ideals, das der barit verkörpert, lässt sich besonders gut unter Berücksichtigung der Repräsentationen von Essen und Reichtum erfassen, die im Untersuchungsgebiet vorherrschen. Überfluss und Sättigung betrachten die Mela mit einer gewissen moralischen Ambiguität. Einerseits streben die Mela diese Zustände zwar an, andererseits verbinden sie sie aber mit mangelnder Sozialität und größerem Konfliktpotential. Im Gegensatz dazu ist der barit sowohl wohlhabend als auch moralisch unbescholten. Seine Transzendenz – insbesondere seine Überlegenheit gegenüber seinen männlichen Altersgenossen aus dem gemeinen Volk – ist eine Kraft, die der durch den komorut verkörperten Transzendenz entgegenwirkt. In Mela sind Eigenschaften wie Macht und Einfluss unter drei verschiedenen Figuren aufgeteilt: dem komorut, dem barit und dem Orator (Turton 1973). Die Machtbalance zwischen diesen sozialen Institutionen geriet in Gefahr, als der äthiopische Staat den komorut nach der Eroberung südlicher Regionen durch Nord-Äthiopier im 19. Jahrhundert als Steuerbeamten einsetzte. Es gehörte dann zu den Aufgaben des komorut, alle Rinder bei den Mitgliedern seiner eigenen Gruppe einzutreiben, die der Staat als Steuer forderte, wobei er im Gegenzug für diese ‚Arbeit‘ Machtinsignien von den nördlichen Eroberern erhielt. Der damit heraufbeschworene Antagonismus zwischen dem komorut und dem gemeinen Volk spiegelt sich in dem Glauben wider, dass das gemeine Volk eine Reihe von komorutiya aus derselben Patrilinie verflucht habe, die jeweils kurz nach ihrer Amtseinsetzung verstorben waren.

Komorut-Grabsteine bewahren die magisch-religiösen Kräfte der komorut-Vorfahren auf dem Gemeinschaftsterritorium (Kapitel 6). Ähnlich einem amtierenden komorut können auch die Grabsteine nützliche oder gefährliche Kräfte freisetzen, und sie spielen eine Rolle bei der Entstehung politischer Identitäten. Unmittelbar nach der Bildung eines neuen Generationen- Sets wird das Ritual zur Einsetzung des neuen komorut auf den Grabsteinen eines bestimmten komorut-Vorfahren durchgeführt. Dieser wichtige Moment beim Erwachsenwerden der Mela-Männer gibt Einblick in die soziale Konstruktion von Raum und Zeit bei den Mela. Die komorut-Gräber und die darauf abgelegten Steine befinden sich in heiligen Hainen, die vom Alltagsgeschehen abgegrenzt sind. Die Steinarrangements reproduzieren die räumlichen Eigenschaften eines cattle camp und fungieren als Idealbild einer integrierten Gemeinschaft. Die Mela bewahren die Orte der Grabsteine nicht immer in der Erinnerung: Sie vergessen sie und finden sie wieder. Diesen Grabsteinen werden häufig eigenständige magisch-religiöse Kräfte zuerkannt, die losgelöst von denen der eigentlich dazugehörigen komorut-Vorfahren betrachtet werden. In Mela verfügen die Grabsteine somit oft über eigene Agency. Sie stellen nicht einfach mnemonische Werkzeuge dar, da sie beim Ansehen kaum die Erinnerung an den Namen des dort begrabenen Vorfahrens wachrufen. Meine Untersuchung zu Praktiken der Schaffung von Orten konzentriert sich daher stärker auf Prozesse des Erinnerns und Vergessens als auf die Kodierung von Erinnerungen (Küchler 1995). Das neu gebildete Generationen-Set trägt denselben Namen wie das Set des Vorfahrens, dessen Grabstein für das Ritual ausgewählt wurde. Die bisherige Forschung zu Gesellschaften mit Altersklassen- und Generationen-Set-Systemen stellt das Identitätsprinzip zwischen alternierenden Sets, welches durch die gleiche Namengebung ausdrückt wird, manchmal als starre Struktur dar, die ihren Mitgliedern eine zyklische Geschichtsperspektive aufzwingt (Hazel 2006; Almagor 1985). Die Mela folgen allerdings keinem starren Muster bei der Wiederholung von Namen der Generationen-Sets. Es existieren hierbei Wahlmöglichkeiten. Zugleich geht die Wiederholung eines früheren Set-Namens nicht automatisch mit dem Glauben an die Wiederholung der Geschichte einher (Rigby 1983). Die Mela betrachten den historischen Weg jedes Generationen-Sets, der sich aus der Spannung zwischen der eigenen Singularität und der formalen Identität mit anderen Sets ergibt, separat vom historischen Weg dieser anderen Sets. Bei der Wahl eines Set-Namens und der Wahl der dazugehörigen Grabsteine gehen die Mela pragmatisch vor, wenn diese Wahl im Zusammenhang mit einem Wettstreit zwischen verschiedenen Patrilinien von komorutiya steht. In dem Fall nutzen die Mela die Wahl, um ein politisches Zeichen zu setzen. Die Kreativität und Flexibilität der Mela bei der sozialen Konstruktion von Ort und Zeit zeigt sich auch in der Art und Weise, wie sie auf den Verlust von heiligen Steinen in den südlichen Gebieten reagieren, die einst Teil des Gemeinschaftsterritorium waren, und nun von den Mursi übernommen wurden. Die Mela haben auf diese Entwicklung mit dem selektiven und zunehmenden Vergessen solcher heiliger Orte und einem pragmatischen Umgang mit der Vergangenheit reagiert. Seitdem sie die südlichen Gebiete an die Mursi verloren haben, haben sie häufiger die mit heiligen Steinen versehenden Orte gewechselt, an denen sie Generationsrituale durchführen. Zudem suchen sie weniger die heiligen Steine auf, die sich jetzt im nördlichen Mursi-Territorium befinden. Diese Steine sind zugleich ein Sinnbild der ambiguen territorialen Definitionen der beiden Gruppen geworden. Diese flexible Territorialität der Mela und der Mursi steht jedoch zunehmend im Widerspruch zu der viel exklusiveren Territorialität des äthiopischen Staates.

Das letzte Kapitel (Kapitel 7) untersucht, wie sich die Machtbeziehungen zwischen den Mela und der Regierung in Kosmologie und Ideologie ausdrücken. Ich leite dieses Kapitel mit den Worten eines Mela-Ältesten ein, der betont, dass das Göttliche Zeuge der Unterdrückung seines Volkes durch die Regierung wird, worauf ein Regierungsbeamter vorwurfsvoll fragt, ‚wer‘ die Mela denn davon abhält, sich in den von der Regierung gebauten Dörfern niederzulassen. Ich beschäftige mich dann mit den verschiedenen Machtdimensionen der Praktiken der Raumaneignung und Schaffung von Orten (Appadurai 1998), wobei ich auch die verschiedenen Arten von Macht und die scheinbar transzendente Dimension moderner Machtformen beleuchte, die nicht der lokalen Ebene entspringen (Mitchell 1990). Die Mela erwähnen oft die ‚göttlichen‘ Anmaßungen des Staates – z.B. wenn der Staat auf Landenteignungen drängt oder die Ansiedlung in Dörfern und die Übernahme eines nördlichen Lebensstils anmahnt – und vergleichen diese Anmaßungen mit ihren eigenen, in ihrer Kosmologie verankerten Machtkonzepten. Ich analysiere die verschiedenen Konzepte, auf denen staatliche Macht basiert (Wolf 1999), und gehe dann konkret auf die Manifestationen staatlicher Macht ein, mit denen die Mela in Kontakt mit Vertretern des Staates konfrontiert sind. Das staatliche Handeln gründet sich auf zwei wesentliche Konzepte. Einerseits sei die Mehrheit des Volkes zu rückständig, um ihre Situation selbständig verbessern zu können, sodass nur die aufgeklärte, gebildete Elite ihr einen Weg zu erfolgreicher Entwicklung bahnen könne. Andererseits wird die Armut als Bedrohung für das Überleben des äthiopischen Staates insgesamt betrachtet. In Äthiopien ist die aggressive Herangehensweise an Entwicklung eine historische Konstante. Unter dem gegenwärtigen Regime spiegelt sich diese Herangehensweise in der Herkunft der herrschenden Partei wider, der Besetzung verschiedener Posten in regierungseigenen Unternehmen mit Militärs oder Sicherheitskräften und in der bewussten Stilisierung von Entwicklung als überlebenswichtiges Element wider (Fana Gebresenbet 2014). Dies geht mit einer Entmachtung der Bewohner von Gebieten einher, in denen sogenannte Entwicklungsprojekte durchgeführt werden: Die Mela werden in ihren Auseinandersetzungen mit Vertretern der Staates entweder für ignorant befunden oder des Verrats beschuldigt. Zudem ging die Durchführung von Entwicklungsprojekten z.T. auch mit physischer Gewalt und Verhaftungen einher. Dieses neuere Ausmaß staatlicher Macht bedeutete für die Mela eine historische Veränderung, die sie mithilfe ihrer eigenen Kosmologie zu interpretieren suchen. Die Mela glauben, dass ihr Leben auf ihrem Land von der Durchführung der richtigen Rituale abhängt, die die Präsenz des Göttlichen anerkennen, das sich z.T. in tierischen Kreaturen auf der Erde manifestiert. So glauben die Mela an eine große Schlange, die als Hirte der Tierwelt dient. Als die Regierung Buschgebiete mit Bulldozern rodete und damit die Tierwelt störte, sahen einige Mela dies als Zeichen, dass die Regierungsaktivitäten die große Schlange vertrieben hatten und somit unheilvolle Auswirkungen für alle Lebensbereiche heraufbeschworen. Eine andere göttliche Kreatur ist die schwebende Giraffe, die den genius loci der Mis-Ebene repräsentiert, den Ursprungsort der autochthonen Klans der ‚wahren‘ Mela. Wie die göttlichen Kreaturen haben auch die Autochthonen Macht über das mit ihnen assoziierte Land, und aufgrund dieser Macht können sie nicht vom Land entfernt werden. Die zahlreichen Auseinandersetzungen, die zwischen den Mela und den Vertretern des Staates seit dem Beginn des letzten Entwicklungsprojekts und der Rodung von Buschgebieten durch Bulldozers stattgefunden haben, wurden daher als Vorläufer der Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung bzw. der Rückkehr der Mela in ihr angestammtes Land interpretiert. Die Transzendenzform der Autochthonen, die mit der Nicht-Entfernbarkeit vom Land assoziiert wird, kann auf die gesamte Mela-Bevölkerung erstreckt werden, und so ersuchten Mela-Männer die Anerkennung der schwebenden Giraffe, indem sie während der Namenszeremonie eines neuen Generationen-Sets ein Kalb mit giraffenfarbigem Fell schlachteten. Auf diese Weise haben sie ihre Herkunft ‚vom Land‘ etabliert. Während dieser Namenszeremonie wurde außerdem ein neuer Stein auf den Grabsteinen eines toten komorut platziert, um auch die Kräfte der Mela-Vorfahren, die von der anderen Seite des Omo-Flusses gekommen waren, heraufzubeschwören und an die Alterität der Mela-Firstcomer, die ihre eigene Transzendenzform zugunsten der gesamten Mela-Bevölkerung einsetzen, zu erinnern. Angesichts der Enteignungen durch den Staat scheint aber die autochthone Transzendenzform besser geeignet, die Existenz der Mela-Gesellschaft dauerhaft zu sichern.

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