Deciding Peace. Knowledge about war and peace among the Arbore of southern Ethiopia

Echi Christina Gabbert
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

OPAC

Date of Defense | Tag der Verteidigung
17.12.2012

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Burkhard Schnepel

German Summary - Deutsche Zusammenfassung

Sind die Arbore „außerordentlich freundliche Vermittler“ (Cavendish 1898: 381) oder eine „kampflustige Ethnie“ (Donaldson Smith 1898: 242)? Erbitterte Kämpfer oder Friedensadvokaten? In Reiseberichten, die vor mehr als einem Jahrhundert verfasst wurden, finden wir Beschreibungen der Arbore, die das Feld aufspannen, in denen sich diese Dissertation bewegt. Ein Jahrzehnt nachdem Tadesse (1999a) über die Verbindung von Krieg und Fruchtbarkeit bei den Arbore schrieb, folgt nun meine Dissertation über die Entscheidung der Arbore für Frieden, oder präziser formuliert, für eine friedliche Identität. In dieser Dissertation untersuche ich Krieg und Frieden und die damit verbundenen Identitätskonstruktionen im Wandel der Zeit bei den Arbore Südäthiopiens in privaten und lokalen, intraethnischen, interethnischen, nationalen und globalen Zusammenhängen.

Die kuschitischen Arbore leben im südäthiopischen Tiefland, nördlich des Stephaniesees und nahe der kenianischen Grenze. Sie sind Agropastoralisten und zählen rund 6,000 Personen. Die Arbore sind einerseits durch Sprache und Herkunft eng mit den kuschitischen Gruppen im Osten und Südosten (Konso, Ts’amakko, Borana, Wata Wando) verbunden, andererseits stehen sie aber auch mit ihren omotischen Nachbarn im Westen (Hamar, Banna, Bashada, Kara) in regem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch (Karte 1). Somit sind sie eingebettet in das ethnographische Mosaik Südäthiopiens mit einer großen Zahl verhältnismäßig kleiner ethnischer Gruppen auf kleiner Fläche, die trotz vieler Gemeinsamkeiten, bewusst und aktiv ihre feinen kulturellen Unterschiede kultivieren. In diesem Mosaik von Nachbarn, stützen sich Beziehungen, egal ob zwischen Freunden oder Feinden, auf gegenseitig bekannte und verständliche Kommunikationsrepertoires (Simmel 1955, Schlee 2006, 2008a; Wood 2000). Um diese Qualität der gegenseitig gut bekannten Kontaktpartner zu benennen, verwende ich den von Strecker entwickelten Begriff der „kulturellen Nachbarschaft“ (Gabbert und Thubauville 2010). Beziehungen zu kulturellen Nachbarn mit relativ bekannten Verfahrensregelungen, unterscheiden sich grundsätzlich von denen zu Akteuren außerhalb des Nachbarschaftsgefüges (z.B. frühe Entdecker, italienische Truppen, äthiopische Regierung, NROen), die meist durch asymmetrische Machtverhältnisse und gegenseitige Fremde gekennzeichnet sind.

Meine Dissertation baut auf meiner Forschung bei den Arbore seit 1993 auf. Dies ermöglicht mir die Arbeit in der Sprache der Arbore ohne Übersetzer mit Vertretern aller Altersklassen vor Ort. In meiner Analyse folge ich unterschiedlichen Akteuren – Frauen und Männern, Kindern, Jugendlichen und Ältesten – in ihren unterschiedlichen Rollen in Kriegs- und Friedensprozessen. Diese Dissertation ist darum auch als Beitrag zu bisher fehlenden geschlechterspezifischen Analysen dieser Prozesse gedacht (Bräunlein und Hauser 1995: xv).

Eine besondere Quelle für und in meiner Arbeit stellen Liedtexte dar, die ich aus über 200 Liedaufnahmen transkribiert habe, welche den Großteil des Musikrepertoires der Arbore umfassen. Der Wert dieser Texte besteht darin, dass auch vergessene historische Bezüge und individuelle Schicksale in den Liedern bewahrt sind. Darüber hinaus sind Liedtexte insofern ein exklusives Genre innerhalb der mündlichen Überlieferungen, da vor allem Emotionen und Bewertungen anderer Personen sowohl im Positiven als auch im Negativen in der Alltagssprache nicht üblich sind und über Interviews nicht ausgedrückt werden können (Gabbert 2008).

Deciding Peace. Knowledge about war and peace among the Arbore of southern Ethiopia


Die Dissertation ist in drei Teile gegliedert. Kapitel 1 bis 3 sind eine Einführung, mit der Vorstellung der Fragestellungen und des Konzeptes der „kulturellen Nachbarschaft“ in Kapitel 1, einer Beschreibung der Feldforschungsmethoden und Forschungssituation in Kapitel 2 und einer Einführung in die geographischen, ökonomischen und sozialen Hintergründe der Arbore mit Ausführungen zu meiner Verwendung von Narrativen und Liedtexten in Kapitel 3. Danach folgen die zentralen Teile der Arbeit: Teil 1‚ „Verlockungen des Krieges“ von Kapitel 4 bis 6 und Teil 2, „Entscheidung für Frieden“ von Kapitel 7 bis 9. In Kapitel 10 fasse ich die Erkenntnisse der Arbeit zusammen.

Die jüngere Geschichte Arbores bietet die seltene Gelegenheit, die Konstruktion und Dekonstruktion von Kriegs- und Friedensrepertoires einer überschaubaren ethnischen Gruppe in einer überschaubaren Zeitspanne zu beobachten. Meine Forschung bei den Arbore fiel in eine Zeit ihrer Transformation von einer Gruppe mit „kriegerischer Identität“ zu einer Gruppe mit immer deutlicherem Selbstverständnis als „friedliebend“. Waren die Arbore während meiner ersten Forschung im Jahr 1993 noch sehr wachsam und nervös und schnell bei den Waffen, wenn Angriffe drohten, so wurde mir um das Jahr 2000 (hinter vorgehaltener Hand) erzählt, dass die Arbore nun „wohl friedlich“ seien. Damals konnte niemand ahnen, dass sie bis zum Jahr 2011 lokal und national als Musterbeispiel einer friedlichen Gruppe gelten würden, die sich konsequent von interethnischer Gewalt distanzieren, Rinderraubzüge verbieten und sogar auf Blutrache verzichten würde. Bereits 2012 ist diese friedliche Identität nahezu plakativ geworden. Eine Facette des Friedens ist, nicht zu viel über den Krieg zu reden. Das kann aber schnell zu Beschönigung oder Negation der kriegerischen Vergangenheit führen und damit einer Analyse im Weg stehen, so dass der besondere Wert dieser Dissertation darin liegt, die vielen Faktoren und Aushandlungsprozesse darzustellen, die während der Transformationsphase einsehbar waren.

Die Entscheidung der Arbore für eine friedliche Identität hinterfragt grundsätzlich die Darstellung von Gruppen als kriegerisch, insbesondere, da die erfolgreiche Durchsetzung des Friedens durch eine gründliche Dekonstruktion der eigenen kulturellen Kriegs-Ideale erfolgte. Die Beobachtung des Transformationsprozesses ermöglicht eine einmalige Perspektive in einem Moment, in dem Ideale aus ihrer Bedeutung heraustreten, bevor sie durch Umdefinition eine neue Bedeutung erhalten und somit für einen Augenblick das illusorische Moment von Identitätskonstruktion bloßliegt (Strauss 2005: 28). Dementsprechend verwende ich die Begriffe „friedliche Identität“ und „kriegerische Identität“ in dem Verständnis, dass Personen und Gruppen nicht per se friedlich oder kriegerisch sind, sondern Ideale, Rollen und Handlungen um diese Kategorien konstruieren, um auf sich verändernde Umstände im Kontakt mit anderen zu reagieren (Schlee 2002a: 8ff). So, wie man sich Feindbilder schafft, sind Gewalt und Aggression nicht unvermeidbarer Ausdruck menschlicher Natur sondern kulturell konstruierte Ideen, die Aussagen darüber zulassen, wie eine Person oder Gruppe zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmtem Umfeld erscheinen möchte oder sollte (Elwert 2001; Mead 1940; Montagu 1978; Schlee 2006). Kriegerische Ausdrucksformen und Handlungen zwischen den Arbore und ihren kulturellen Nachbarn bewegen sich dabei auf weitestgehend geordneten Pfaden und werden über soziale Institutionen verwirklicht und kontrolliert (Elwert 2002; Zitelmann 2004: 47). In Kapitel 4 erhalten wir Einblick in das gewaltsame Auftreten europäischer Reisender, Kaiser Menelik’s Truppen im äthiopischen Süden im späten 19. Jahrhundert und der italienischen Besatzer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die zeigen, dass Kriegsbereitschaft und ein entsprechendes Auftreten, sowie Aufrüstungsbestrebungen jedoch auch Reaktionen auf asymmetrische und traumatische Kriegserfahrungen sind, und somit Ausdruck dessen, wie Menschen nicht einfach Krieg formen, sondern selbst „vom Krieg geformt werden“ (Schlee 2009a: 572).

Wenn Krieg kein Zufall ist, kann Frieden es auch nicht sein. Aber wann und von wem werden Entscheidungen über Frieden und Krieg getroffen? Was sind die Gründe und Argumente für eine friedliche Identität nach Jahrzehnten von kulturell eingebetteten und als heldenhaft formulierten kriegerischen Aktivitäten? Gregor und Sponsel (1994: xv) und andere (Goldschmidt 1994: 110; Oppenheimer 1996: 216; Wiberg 1981: 113) haben das unverhältnismäßige Interesse von Ethnologen an Krieg formuliert. In diesem Sinn ist diese Dissertation auch Beispiel für den erfolgreichen Beitrag von Zivilgesellschaft in Friedensprozessen (Tongeren et al. 2005). Basierend auf kulturell definierten Repertoires wird hier ein weitestgehend emischer Friedensprozess beobachtbar, der zudem eine der seltenen Einsichten in lokales Friedensmanagement von Pastoralisten bietet (siehe Bollig and Österle 2007: 48).


Aus einer historischen Perspektive betrachtet, gehören die Arbore zu den zahlreichen Gruppen Südäthiopiens und Nordkenias in denen das Töterwesen (in dieser Arbeit „Töterideal“) eine zentrale Rolle in der Konstruktion einer männlichen, kriegerischen Identität spielten. Männer, die ein Mitglied einer befeindeten ethnischen Gruppe oder ein gefährliches Großwild getötet hatten, wurden als Helden betrachtet, die durch den Tötungsakt nicht nur eigenes Prestige, Wohlstand und Fruchtbarkeit erlangten, sondern diese Errungenschaften auf die gesamte Gruppe übertrugen (Tadesse 1999a; Miyawaki 2008; auch Poissonnier 2009). Das Töterwesen ist eine Facette, des vor allem in der deutschen Ethnologie diskutierten Phänomens des „Verdienstkomplexes“ oder „Verdienstwesens“, in dem Ruhm durch a) Verdienstfeste, b) Töten eines Feindes oder Großwild erreicht und c) durch Errichtung von Denkmälern (Megalithkultur) erinnert wird (Braukämper 2001; Jensen 1949; Poissonnier 2009: 35ff). Das Töterwesen als Schwerpunkt der Äthiopienforschung des Frobenius-Instituts und seine (potentielle) Instrumentalisierung zur Gewaltlegitimierung ist von Zitelmann (2009: 35) kritisiert worden. Dieser Kritik begegne ich in der Dissertation, indem ich die beschriebenen Phänomene in den Kapiteln 5 und 6 in einen detaillierten Kontext setze und analysiere. Obwohl das Töterideal in interethnischen Beziehungen Gewalt perpetuieren konnte, unterlag es auch bestimmten Regeln, Gliederungen und Grenzen, und verfeindete Gruppen standen nicht ständig im Krieg miteinander (siehe auch Elwert 2002: 341). Das bedeutete, dass für die Arbore und ihre Nachbarn, Gewalt und Konflikt, wie auch Frieden und Friedensbemühungen zum kulturell geordneten und gegenseitig bekannten Repertoire gehörten. Ebenso wird deutlich, dass Helden, die von ihrer Umgebung „gemacht“, ebenso von dieser in ihre Grenzen gesetzt werden. Nicht jeder Töter konnte ein Held werden und kein Held konnte sich trotz aller Ehre über grundlegende Ideale der Egalität erheben.

Mit meinem Augenmerk auf ethnographischem Detail begegne ich bewusst der Gefahr der Generalisierung von Krieg und Gewalt, die allzu schnell zur Legitimierung von Krieg führen (Fry 2006: 2). Die Verwendung des Töterideals in anderen politischen Kontexten ist nur ein Beispiel dafür. Ein Phänomen als eingebettet zu beschreiben, ist dabei nicht hinreichend, es gilt, die Praktiken der Einbettung so genau wie möglich zu berücksichtigen. Nur mit dem Blick aufs Detail lassen sich so Ausmaße und Grenzen von, sowie Unterschiede von Konvention und Wirklichkeit in friedlichen und kriegerischen Aktivitäten und Identitätskonstruktionen erkennen (Elwert 2002: 343; Strecker 1994). So wird ein Problem der Regelhaftigkeit und Ritualisierung von Krieg besonders aber nicht nur in Friedenszeiten deutlich, wenn nämlich Kämpfe gar nicht gewünscht sind, aber der Kult des Krieges eine Eigendynamik entwickelt hat, die nicht einfach abzustellen ist (Richards 2005b; Strecker 2010c). Dass das evokative Potential von Ritualen, die unter anderem zur Vorbereitung von Kämpfen dienten, jedoch bewusst verändert werden kann, zeige ich am Beispiel der „Lieblingsochsen“ (hamiset), der bei der ritualisierten Konstruktion von Männlichkeit und Wehrhaftigkeit in pastoralen Gesellschaften eine besondere Rolle spielt (Abbink 1994; Fukui 1979; Strecker 2010b).

Um die kriegerische Vergangenheit der Arbore und ihr gegenwärtiges Bemühen nach Frieden erklären zu können, liegt also der Teufel im Detail - im ethnographischen Detail. Die herausgearbeiteten Elemente des kriegsunterstützenden kulturellen Repertoires, wie das Töterideal und die Rolle der Frauen bei seiner Konstitution, das Ideal des Pastoralismus und das Beispiels des Lieblingsochsen als möglicher Auslöser männlicher Agression, die Bedeutung von Töterliedern, Töteremblemen und Ritualen, sowie Regeln für Raubzüge und Blutrache im ersten Teil der Dissertation werden im zweiten Teil im friedlichen Kontext erneut befragt.

Mit diesem Ansatz arbeite ich heraus, dass ein kulturelles Repertoire, das es erlaubt, Krieg logisch oder gar erstrebenswert klingen zu lassen, bevor, während und nachdem er stattfindet, nicht verwechselt werden darf mit einer kriegerischen Natur (Miyawaki 2008). Nicht alle Töter werden glorifiziert und jede Kampfhandlung passiert unter spezifischen Umständen, die oft fern von heldenhaften Ideen liegen. In der Tat sind unter den „Töterhelden“ von Arbore, diejenigen, die heutzutage die deutlichsten Aversionen gegen Töten und Blutrache hegen und die im Friedensprozess ihre traumatischen Kriegserfahrungen aufarbeiten können, in denen unter anderem das Zusammenbrechen des eigenen Verständnisses als Töterheld einen entscheidenden Moment darstellt.


In meiner Arbeit betrachte ich Krieg und Frieden nicht als exklusive Kategorien, sondern als verbundene und eingebettete „soziale Projekte“, die sich in einem Kontinuum befinden (Gluckman 1955; Richards 2005a: 5ff). In den Kapiteln 7 bis 9 wird deutlich, dass Wissen über Friedensverhandlungen und Konfliktschlichtung in Kriegszeiten generiert und Friedensrhetorik aus Kriegserinnerungen gespeist werden kann, sowie ehemalige Heldentöter zu engagierten Friedensadvokaten werden können. Hier wird deutlich, dass das Potential kriegerischer und friedlicher Handlungen aus demselben kulturellen Repertoire gespeist werden kann, ohne jedoch beliebig austauschbar zu sein. Im Gegenteil, die friedliche Neuorientierung der Arbore wurde von einzelnen Akteuren eingeleitet, die vor ihrer Zeit Frieden proklamierten und das Töterideal als kulturellen „Wahnsinn“ anprangerten. Realisiert wurde der Frieden erst später mit Hilfe einer wachsenden Gruppe von Friedensadvokaten, vor allem männlicher und weiblicher Ältester, die die nötigen soziokulturellen Änderungen diskutierten, entwickelten und durchsetzten. NROen und Regierungsvertreter, sowie Ethnologen waren weitere Akteure auf dem Weg zu einer Realisierung von interethnischem Frieden. Wurde der Frieden zwischen den Hamar und den Arbore hauptsächlich von lokalen Ältesten in die Tat umgesetzt, konnten die Konflikte zwischen den Arbore und den Borana erst mit Mediation durch NROen beigelegt werden. Schließlich erreichte der Arbore Friedensprozess sogar seine „potentiellen Friedensbrecher“, die jungen Männer, die mit der Erwartung aufgewachsen waren, das Töterideal für sich und die Gemeinschaft zu erfüllen. Nach einer Dekade der Zerrissenheit zwischen Töterideal und Friedensrealität, sind die jungen Männer zweier Alterklassen inzwischen zu jungen Vätern geworden (was ihre Zeit als potentielle Krieger beendet), ohne getötet zu haben. Durch die Einbeziehung von Arbore jeden Alters in die Friedensbemühungen ist die Bewahrung des Friedens mit den Nachbarn inzwischen zu einem fundierten gemeinschaftlichen Unternehmen geworden. Dafür entwickelten vor allem Älteste, Männer und Frauen, ein umfassendes Bündel rhetorischer und praktischer Maßnahmen, um den Frieden durchzusetzen und zu sichern. Die frühe Heirat von jungen Männern, das Zurückhalten kampfbereiter Männer durch Älteste, neue Strafen für Friedensbrecher und die Sozialisation von Kindern ohne das Töterideal sind in der Tat effektive Mittel, um die Kämpfer aus der Arena zu entfernen. Die fast ironisch anmutende Gleichzeitigkeit der Einführung neuer Statussymbole, wie etwa Mobiltelefone, mit der Suche nach Ersatz für die verblassende Symbolkraft ungenutzter Gewehre, führte dazu, dass innerhalb eines Jahres viele junge Männer ihre Gewehre für den Erwerb von Mobiltelefonen verkauften. Die Arbore hatten bereits vorher im Zuge des Friedensdiskurses ihre Rolle in den globalen Gewaltmärkten reflektiert, den Einfluss der Rüstungsindustrie an der Eskalation von gewaltsamen Konflikten an den Pranger gestellt und damit Gewehre als Symbole der Männlichkeit in Symbole der globalen Unverantwortlichkeit umgedeutet.

An solchen Beispielen langsam zusammenwachsender multivokaler Friedens-bemühungen, wird die Besonderheit des Friedensprozesses deutlich, in dem nicht das Erreichen einer weiteren, vorübergehenden Friedensphase, sondern die feinkörnige Umstrukturierung von kulturellen Prämissen zur Friedensschaffung und Friedenserhaltung von der Innovationsbereitschaft und Determiniertheit der Arbore zeugen, die sie zu erfolgreicheren Friedensmachern werden ließ, als ihre Nachbarn. Die überschaubare Gruppengröße, zusammenhängende Siedlungen und das funktionierende Altersklassensystem mit seinen zahlreichen Kontrollinstanzen sind dabei wichtige Faktoren, die die Umsetzung des Friedens als gemeinschaftlich kontrolliertes Projekt ermöglichen. Die Nachbarn der Arbore, wie etwa die Hamar und Borana haben unter anderem durch in dieser Hinsicht ungünstigere Bedingungen, mit weniger sozialer Kohärenz, mehr Rückschläge in ihren langjährigen Friedensbemühungen zu verzeichnen.

Jedoch trotz der stringenten Orchestrierung des Friedens innerhalb Arbores, ist seine Durchführung natürlich nur in einer kooperativen Nachbarschaft möglich, die nicht ohne anfängliches Erstaunen über die strategischen Entscheidungen der Arbore (z.B. den zeitweisen Verzicht auf Blutrache), der neuen, friedlichen Identität der Arbore mit wachsender Anerkennung begegnet. Insbesondere in den Aushandlungsprozessen mit „nicht ganz so friedlichen Nachbarn“ wird Frieden als fortlaufender Prozess sichtbar, z.B. wurde in Arbore die Frage, wie viel Friedfertigkeit man „sich leisten kann“ ohne als schwach oder harmlos zu gelten, empirisch beantwortet: Eine Häufung ungerächter Tötungen von Arbore seitens der Borana und Hamar führte dazu, dass die Arbore anfängliche, fast pazifistische Ansätze nachbesserten und Blutrache als friedenssichernde Vergeltungsmassnahme wieder einführten (siehe Turner und Schlee 2008: 17).


Der Arbore Friedensprozess ist mehr Errungenschaft als Überraschung, mehr Entscheidung als Zufall, trotzdem ist er bemerkenswert, weil kulturelles Selbstverständnis diskursiv und innovativ erhalten, verändert und neu interpretiert wird und kulturelle Institutionen flexible und dennoch stabile Referenzrahmen für Handlungsoptionen in Zeiten des Wandels darstellen. Somit wurde bei der Entscheidung für den Frieden die aktive Neudefinition kultureller Normen die entscheidende Handlung (Evens 2006: 56).

Das emische Konzept, dass den Arbore die Kapazität verleiht, Alternativen auf der Basis von flexiblem kulturellen Wissen zu generieren, ist aada, die normative Ordnung der Arbore, die Tradition, Wandel und Innovation in diskursiven aber nicht beliebigen Aushandlungsprozessen verbindet. Aada kann übersetzt werden als Kultur, Ritual oder einfach, die richtige Art, etwas zu tun. Aada ist der Maßstab, an dem die Arbore immer wieder neu messen, wer sie sind und wie weit sie sich verändern wollen. Aada ist somit ein Instrument, um ethnische Identität und kulturelles Selbstwertgefühl fortlaufend zu konstituieren. Die radikale Abwendung vom Töterideal als Ausdruck von aada war ein entscheidender Schachzug im Friedensprozess. Nur auf dieser Basis konnten traditionelle Institutionen und deren Instrumente effektiv für den Frieden eingesetzt werden. Während in der Vergangenheit, aada, Krieg und Fruchtbarkeit eine nützliche Einheit darstellten, vereint aada heutzutage Frieden und Fruchtbarkeit. Dies führt zu einer Qualität der Einbettung von Frieden im sozialen Gefüge, das seine Umsetzung und Nachhaltigkeit ermöglicht. Auch wenn Frieden schon immer erstrebenswert war, war der Krieg oder vielmehr die Angst vor Angriffen allgegenwärtig und Verteidigungsbereitschaft in einer unsicheren Nachbarschaft war Teil der kulturellen Identität (siehe Gray et al. 2003: S22). Diese Wehrhaftigkeit aufzugeben, war ein Prozess nicht nur der determininierten, sondern auch der vorsichtigen Schritte, und zumindest rhetorisch wird die Stärke der Arbore (in historischen Schlachten) aufrechterhalten. Sichtbares Ergebnis der Friedens-bemühungen ist, dass im Jahre 2012 eine friedliche Nachbarschaft realisierbar und eine friedliche Identität über die Grenzen Südäthiopiens hinaus anerkannt und vor allem lebbar ist. Die Tatsache, dass ich mit Ältesten fünf verschiedener ethnischer Gruppen für mehrere Tage ruhig und ohne Angst vor Angriffen diskutieren konnte, ist eine Konsequenz des Lebens in einer neuen Qualität von Frieden, die die Zeiten, in denen für jedes Haus und jede Siedlung, für jeden Gang zum Wasser und zu den Weiden bewaffnete Späher, Fährtenleser und Begleiter notwendig waren, langsam verblassen lassen. Das Arbore als sicherer Ort gilt, auch für Personen, die ethnischen Gruppen angehören, die verfeindet sind, ist in einer großen Friedenszeremonie in Arbore mit Vertretern 12 verschiedener Gruppen im Jahre 1993 bereits angedeutet worden (Bassi 1993; Pankhurst 2006; Girke and Pankhurst 2011; Strecker 2010e; Strecker and Pankhurst 2003). Tatsächlich dauerte es aber noch ein weiteres Jahrzehnt bis Vertreter aller benachbarter Gruppen das Arbore Gebiet mit einem Gefühl der Sicherheit betreten konnten.

Trotz allem sind auch meine Aussagen über Frieden in dieser Dissertation nicht dazu geeignet, Idealisierungen zu fördern. Wie Frieden im Krieg begraben liegen mag, kann es auch umgekehrt passieren und wir berauben uns wichtiger Einsichten, wenn wir die Arbore als Friedensmodell verstehen, ohne die Kriegsvergangenheit und die Transformationsphase ausreichend wahrgenommen zu haben. Auch wenn dies keine neuen Erkenntnisse sind (siehe Malinowski 1941: 521), verdeutliche ich, dass Krieg nicht vorbestimmt ist, Frieden keine stabile Größe ist und Friedensrezepte nicht existieren. Überdies ist Frieden nicht nur trügerisch, wenn er als selbstverständlich, sondern vor allem wenn er als langweilig aufgefasst und dabei der Wert einer funktionierenden friedlichen Alltagskultur nicht erkannt wird. Konsequenterweise ist einer meiner Schlussfolgerungen, dass Friedensbemühungen am erfolgreichsten sind, wenn sie so detailliert und akteursorientiert wie möglich angewandt werden. Die genaue Kenntnis der Arbore untereinander ermöglicht es ihnen, auf jeden einzelnen Friedensbrecher nach einem segmentären Prinzip mit den effektivsten Instrumenten innerhalb des Altersklassensystems, der Familie oder des Clans einzugehen und diese sogar mit staatlichen Instanzen zu verbinden. Deeskalation kann erfolgreich sein, weil kollektive und individuelle Dispositionen in die Maßnahmen einbezogen werden. In anderen Worten: wenn man Konflikt erfolgreich schlichten will, sollte man getrost erfahrene Kämpfer und ihre Familien zu Rate ziehen (siehe auch Tuzin 1996: 6).


Dass diese Gründlichkeit der Arbore bei der Durchführung ihrer Entscheidungen mit dem Voranschreiten ihrer Integration in nationale und internationale Infrastrukturen, Institutionen und Politik immer schwieriger anwendbar sein wird, wird in Kapitel 9 diskutiert. Bei aller Offenheit der Arbore für Innovation bringen die unter anderem durch einen massiven staatlichen Entwicklungsplan ausgelösten Veränderungen Hoffnungen als auch Ängste und Unsicherheit mit sich, die ebenfalls dazu beitragen, dass eine gestärkte und friedliche kulturelle Nachbarschaft attraktiver wird. Die Konstruktion der friedlichen Identität der Arbore in soziale Realität basiert auf dem Wissen über ihre kriegerische Vergangenheit. Dieses Wissen wird zu „vita activa“ und „savoir faire“ (Jackson 1996: 36) wenn durch Reflexion eine epistemologische Fähigkeit zur Gestaltung von Überlebensstrategien in einem sich wandelnden Umfeld entsteht (Nordstrom 1997: 38). Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist eine gestärkte „Wir-Gruppe“ (Elwert 1989; Fry 2011: 558; Simmel 1955; Zitelmann 1994), durch aktivierte gemeinsame friedliche Identifikation (Schlee 2003a) als Pastoralisten Südäthiopiens nicht nur Friedenstaktik, sondern möglicherweise auch Überlebensstrategie (Nordstrom 1997: 13; Schlee 2004, 2009b: 13, 2010a; Schlee and Watson 2009c) in einer Zeit in der die agropastorale Subsistenzwirtschaft im äthiopischen nationalen Kontext als Armutswirtschaft stigmatisiert wird. Dass Friedlichkeit außerdem mit staatlichem Interesse an Konfliktregulierung im äthiopischen Süden konvergiert, ist ein Faktor, der die Arbore zumindest oberflächlich um ein anderes Stigma, nämlich das der kriegerischen Pastoralisten, erleichtert.
Zartmann (2000: 226f) attestiert „traditionellem“ Konfliktmanagement Konservatismus und Machtlosigkeit. Obwohl die Entscheidung der Arbore für eine friedliche Identität mit ihrem innovativen Charakter und ihrem Erfolg, diese Aussage widerlegt und ein durchaus kreativer Weg ist, den Unsicherheiten in einer Zeit des schnellen Wandels zu begegnen, wird auch dieser Weg in dem Moment tatsächlich obsolet, in dem der Staat die Grundlage der Arbore aada und ihre Identität als Pastoralisten Südäthiopiens, sowie ihre Minderheitenrechte nicht anerkennt oder das Gebiet der Arbore, wie in anderen Regionen Äthiopiens geschehen, an Investoren vergibt, ohne die Lebens- und Wirtschaftsweise der lokalen Bevölkerung ausreichend zu berücksichtigen. Die Herausforderungen an die unmittelbare Zukunft Arbores und Südäthiopiens unter dem Diktum der „Schnellspurentwicklung“ sind enorm. Trotz allen kulturellen Wissens, wie dem dieser Dissertation gewidmeten Wissen über Krieg und Frieden, und trotz aller pastoraler und agrartechnischer Fähigkeiten, laufen die Arbore mit ihrer Subsistenzwirtschaft und ihrem soziokulturellen Gefüge mit Institutionen, die weniger auf Schnelligkeit als auf Gründlichkeit basieren, Gefahr, in die Schublade der „rückständigen“ Völker Südäthiopiens gesteckt zu werden. Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit pastoralen Lebenswelten befassen sind zudem gefährdet, bezichtigt zu werden, diese „Rückständigkeit“ konservieren zu wollen (Ministry of Foreign Affairs of Ethiopia 2010). Obwohl die Arbore ausdrücklich an einer nachhaltigen Verbesserung in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen interessiert sind, wenn deren Vereinbarkeit mit pastoraler Lebensweise und kultureller Integrität berücksichtigt wird, sind bisherige Versuche von NROen, Missionaren und staatlichen Stellen in der jüngsten Vergangenheit wie eh und je von paternalistischen Zügen geprägt (Lydall 2010). Die akademische Herausforderung der Zukunft wird es sein „[m]itten in Chaos und Unordnung, aber auch in friedlichen Zusammenhängen […], die Regeln zu finden, über die sich die Wahrnehmungen von teils unvereinbaren Interessen oder Absichten ausdrücken“ (Zitelmann 2004: 47).

Hoffnung, sagt Montagu (1994: x) ist eine treibende Kraft des Friedens. Der Frieden der Arbore kann tatsächlich auch als eine treibende Kraft der Hoffnung gesehen werden. Hoffnung für Anerkennung einer pastoralen Lebensweise, die, gäbe man ihr die Möglichkeit, durchaus in sinnvoller und fruchtbarer Weise mit Veränderungen verbunden werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass die äthiopische Bevölkerung und ihre Regierung das Potential, das Wissen, die Wünsche und den Wert ihrer Nachbarn, den Pastoralisten Südäthiopiens, erkennt und ihren Respekt für diese „unbezahlbaren Ressourcen“, zum Ausdruck bringen kann, indem die Zukunft wahrhaft gemeinsam gestaltet würde.

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