Sprache und Identität der Mongolen Chinas heute - Dissertation Thesis

by Merle Schlatz, submittet at the Philosophischen Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

OPAC

Date of Defence
18.04.2013

Supervisors 
Prof. Dr. Klaus Sagaster
Prof. Dr. Günther Schlee

Deutsche Zusammenfassung

Gegenstand meiner Dissertation ist die Bedeutung des gegenwärtigen Sprachgebrauchs bilingualer Mongolen (Mongolisch, Chinesisch) der Inneren Mongolei, VR China, für ihre Identitätskonstruktion. Ziel dabei ist es, den Stellenwert der Sprache als ein Identitätselement innerhalb komplexer Identitätsbeschreibungen zu untersuchen. Die Mongolen der Inneren Mongolei sind hierfür ein besonders geeignetes Fallbeispiel, da ihr gegenwärtiger Sprachgebrauch und ihr Verhalten in der Sprachkontakt-Situation mit der Hàn-chinesischen Bevölkerung Hinweise dafür liefern, dass Sprache als ein identitätsstiftendes Symbol abhängig vom Argumentationskontext ganz unterschiedlich für die Identitätskonstruktion eingesetzt wird. Eine identitätsstärkende Kraft der Sprache und weiterer Symbole, wie etwa die nomadische Lebensweise oder Identifikationsfiguren wie Činggis Qaγan, wird von den Mongolen hierbei unterschiedlich gewichtet. Ebenso kommt es zu Neu- oder Umdeutung der verhandelten Symbole durch weitere relevante Akteure wie die Hàn-Chinesen und die Mongolen der Republik Mongolei. Die vorliegende Arbeit kann als Ausgangspunkt für Vergleichsstudien über Sprachgebrauch und Identitätskonstruktion in weiteren Autonomen Regionen beziehungsweise „Minderheiten-Gebieten“ Chinas oder auch darüber hinaus etwa bei Mongolisch sprechenden Gruppen in Russland dienen.

Die Arbeit thematisiert die komplexe Situation der Mongolen der Inneren Mongolei, die sich als chinesische Staatsbürger der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung Chinas fügen müssen, gleichzeitig aber ihre mongolische Identität behaupten und sie gegen Sinisierungs-Vorwürfe, die von den Mongolen der Republik Mongolei kommen, verteidigen. Als Reaktion darauf entsteht ein Verhalten, das ich „Positionierungs-Dilemma“ nenne (siehe unten). Das von mir beschriebene Dilemma besteht nicht nur in dem wechselhaften Einnehmen verschiedener Positionen, sondern auch in dem flexiblen Umgang mit den hier jeweils generierten Argumenten. Die Argumente speisen sich aus regionalen, politischen und kulturellen Einflüssen aus China und der Republik Mongolei.

Die regionale Einbettung des Untersuchungsgebietes Autonomes Gebiet Innere Mongolei spielt für das Positionierungs-Dilemma eine maßgebliche Rolle und wird im ersten Kapitel der Dissertation beschrieben. Die offiziellen Sprachen in diesem Gebiet sind Mandarin-Chinesisch und Mongolisch, geschrieben in der uiguro-mongolischen Schrift. Die prozentuale Bevölkerungsverteilung zeigt, dass hier gegenwärtig etwa 80% Hàn-Chinesen und 17% Mongolen leben. Die Vermischung beider Gruppen in den Gebieten der Inneren Mongolei ist historisch begründet. Immer wieder kam es hier zu regierungsgesteuerten Massenbesiedlungen, um Grenzgebiete zu sichern, zu kultivieren oder um ihre Bewohner dem chinesischen Staat einzuverleiben. Veränderte Verwaltungsaufteilungen im 19. und 20. Jahrhundert sowie Gebietserweiterungen der Autonomen Region Innere Mongolei ließen den ethnischen Anteil der Mongolen sinken und begünstigten zudem die territoriale Trennung der mongolischen Gruppen.

Die sprachpolitischen Entwicklungen Chinas, die in Kapitel drei beschrieben werden, führten in diesem Zusammenhang zu einer Diglossie-Situation, d.h. einem differenzierten Gebrauch beider Sprachen: Chinesisch wird als Sprache der höheren Varietät in Schulen, offiziellen Ämtern, Universitäten, den Medien etc. gesprochen. Das Mongolische als Sprache der niedrigen Varietät wird hingegen in Familien, unter Freunden oder oftmals in Situationen, in denen ausschließlich Mongolen miteinander kommunizieren, benutzt. Es degeneriert so zunehmend zu einer Lokal- und Familiensprache, die nicht für Kommunikation mit der „Außenwelt“ geeignet ist. In der Folge eignen sich die Mongolen der Inneren Mongolei eine chinesische Sprachkompetenz an, die wesentlich zum stärkeren Gebrauch des Chinesischen beiträgt. Bei den bilingualen Mongolen, die Mongolisch und Chinesisch sprechen, konnte ich entsprechend Code-switching, das heißt den wechselhaften Gebrauch beider Sprachen, als ein typisches Phänomen beobachten. Zudem hat auch dieser Sprachgebrauch Eingang in das Genre „Heftgeschichten“, bensen üliger, das im zweiten Kapitel der Dissertation beschrieben wird, gefunden. Basierend auf der Bearbeitung der Heftgeschichte Ögedei mergen qaγan-u üliger sowie aufgrund von eigenen Feldforschungsdaten, habe ich im vierten Kapitel der Dissertation diesen Sprachgebrauch der Mongolen der Inneren Mongolei unter Anwendung von Theorien der Sprachkontakt-Erscheinung analysiert und beim Code-switching verschiedene linguistische Transfer-Erscheinungen in den Bereichen der Lexik, Phonologie, Morphologie und Syntax nachgewiesen. Mongolische Suffixe werden hierbei an chinesische Wörter gebunden und lassen Wortneuschöpfungen entstehen, die ich „Sinismen“ nenne. Sinismen sind eine „innermongolische Version“ chinesischer Begriffe und werden weder von den Mongolen der Republik Mongolei noch von den Hàn-Chinesen verstanden, da ihre Konstruktion das chinesische Ausgangswort unkenntlich macht. Auffällig im Bereich der Morphologie ist die Anbindung von mongolischen Suffixen an chinesische Wörter. Meine Ausarbeitungen zum Genre „Heftgeschichten“, bensen üliger, und seinem gegenwärtigen Forschungsstand zeigen, dass in ihnen ebenso zahlreiche Sinismen vorkommen: Um der Geschichte die chinesische Stimmung zu geben, werden oftmals Namen historischer Personen, regionale Namen, Dynastienamen, Waffen oder Gebrauchsgüter in ihrer chinesischen Form belassen. In bisherigen Arbeiten zu bensen üliger gibt es noch keine linguistischen Analysen des Genres. Aufgrund seiner sprachlichen Besonderheiten kann das Genre daher für eine Untersuchung der Sprachkontakt-Situation in der Inneren Mongolei mit herangezogen werden. Meine durchgeführte Suche nach Sinismen in frühen Werken wie etwa der Geheimen Geschichte der Mongolen (13. Jhd.), dem Huáyí yìyǔ (1389), dem Erdeni-yin tobči (1662) und dem Altan tobči (Mitte 17. Jhd.) zeigt, dass auch hier Sinismen vorkommen. Transfer-Erscheinungen sind allerdings lediglich im Bereich der Phonologie nachweisbar. Sinismen weisen grundsätzlich auf eine Kontaktsituation zwischen Sprachträgern hin. Allerdings muss betont werden, dass die von mir untersuchten älteren Quellen schriftliche Texte sind. In meiner Arbeit lege ich jedoch besonderes Augenmerk auf den gegenwärtigen mündlichen Sprachgebrauch einer breiten Sprechergruppe. Folglich lassen sich die beiden Informationsquellen nicht vergleichen, sondern liefern vorerst nur Hinweise auf die Vielfalt der Sprachkontakte und auf die Entwicklungen bei unterschiedlichen Kontaktsituationen. Genauere Untersuchungen hierzu werden vertiefende Einblicke erlauben und weitere Kenntnisse liefern können. Bei dem kurzen Blick auf die älteren Quellen fällt auf, dass das gegenwärtige Spektrum der Sinismen deutlich breiter geworden ist, was einen Hinweis auf Kontakte und sprachlichen Austausch zwischen mehreren Bevölkerungsgruppen geben könnte. Die Dissertation beschreibt zudem, dass Sinismen in zeitgenössischen mongolischen Zeitschriften eine Ausnahmeerscheinung sind. Hinweise auf den Eingang chinesischer Begriffe in die gegenwärtige mongolische Literatur habe ich nicht gefunden.

Während ich meine Beobachtungen zu der Sprachpraxis bilingualer Mongolen machte, wurde mir zudem die Bedeutung der Sprache und auch der uiguro-mongolischen Schrift im Zusammenhang mit Aussagen zur mongolischen Identität deutlich, da beides von meinen Gesprächspartnern oft gemeinsam formuliert wurde. Ausgehend von der Annahme, dass Sprache ein eindeutiges Merkmal der mongolischen Identität sei, wurde mir allerdings zunehmend unklar, ob dies denn tatsächlich so sei. Der Grund hierfür ist, dass es zu ganz unterschiedlichen Äußerungen kam: So sagten mir Mitglieder der monolingualen Gruppe, die ausschließlich Chinesisch sprechen, dass die  mongolische Sprache irrelevant sei für die mongolische Identität. Zudem beobachtete ich, dass Sprecher der bilingualen Gruppe ihr Code-switching leugneten und immer wieder betonten, dass sie auf die Reinhaltung der mongolischen Sprache achten würden. Konfrontierte ich sie mit diesem Widerspruch, etwa indem ich ihnen Aufzeichnungen ihrer Gespräche vorspielte, gaben sie zu, dass es aus praktikablen Gründen zum Wechsel zwischen beiden Sprachen käme, aber eigentlich auf Reinhaltung geachtet würde.

Gegenüber Sinisierungs-Vorwürfen aus der Mongolei positionierten sich trotz unterschiedlichen Sprachgebrauchs die Sprecher beider Gruppen eindeutig: Dann war die mongolische Sprache und insbesondere die uiguro-mongolische Schrift eindeutiges Kennzeichen der mongolischen Identität. Die von mir befragten mono- und bilingualen Mongolen der Inneren Mongolei sahen sich also als Bewahrer der Mongolischen Sprache und Schrift. Damit verwiesen sie gleichzeitig auf Činggis Qaγan, die höchste und unerschütterlichste Autorität der Mongolen, der ihnen diese Schrift brachte. Insbesondere, um sich deutlich von den Mongolen der Republik abzugrenzen, betonten sie ihren Stellenwert als „Bewahrer des kulturellen Erbes“ und warfen den Mongolen der Republik Mongolei vor, dass sie mit Einführung der kyrillischen Schrift dieses Erbe aufgegeben hätten.

Ich nahm es als unvereinbaren Widerspruch wahr, dass erstens Mitglieder  der monolingualen Gruppe die mongolische Sprache als irrelevant für ihre mongolische Identität ansahen, dennoch die Sprache als Teil ihrer Identität verteidigten, und dass zweitens Mitglieder der bilingualen Gruppe zwar Chinesisch gebrauchten, sich dennoch als Bewahrer einer reinen mongolischen Sprache sahen.

Die befragten Mongolen in der Republik Mongolei hatten keine Schwierigkeit, eine mongolische Identität zu begründen, denn sie verwiesen auf ihren Staat, in dem sie leben und die mongolische Sprache, die sie dort sprechen. Nun lebt aber der größte Teil der Mongolen nicht in diesem Staat und spricht nicht ausschließlich die dortige Sprache. Dieser große Teil der Mongolen, der in der Inneren Mongolei lebt, ist sich seiner eindeutigen mongolischen Identität ebenso unzweifelhaft bewusst, befindet sich aber in der Situation, die ich Positionierungs-Dilemma nenne. Dieses besteht aus der Gratwanderung zwischen Anpassung an Hàn-Chinesen und der Distanzierung von ihnen sowie der Anpassung an die Mongolen der Republik Mongolei und auch der Distanzierung von diesen. Ziel ist, die mongolische Identität gegenüber den Chinesen, und die „bessere“ mongolische Identität gegenüber den Mongolen der Republik herauszustellen.
Überdeutlich wird von den befragten Mongolen der Inneren Mongolei etwa die Unterschiedlichkeit zu den Chinesen betont, mit denen sie das gesellschaftliche Leben teilen. Hier verweisen sie auf angeblich offensichtliche mongolische Merkmale wie das Nomadentum, die Sprache oder auch Essgewohnheiten. Da sie jedoch im alltäglichen Leben den gleichen Tätigkeiten und Gewohnheiten wie die Chinesen nachgehen, sind diese offensichtlichen mongolischen Merkmale nicht erkennbar. Praxis und Aussage stimmen hier also auch nicht überein. Erklärt wurde mir dies damit, dass es vielmehr gefühlte Unterschiede sind, eine Identität im Herzen, die für Außenstehende nicht sichtbar ist.
Dennoch, gerade weil ihre alltäglichen Praktiken sich nicht offensichtlich von denen der Chinesen unterscheiden, wird ihnen von Mongolen der Republik Mongolei vorgeworfen, sie seien zu Chinesen geworden.

Nicht nur betonten die befragten Mongolen der Inneren Mongolei dann besonders ihren mongolischen Spracherhalt, vielmehr interpretierten sie ihr Leben als Teil der chinesischen Gesellschaft positiv um. Hierbei näherten sie sich den Chinesen an, indem sie sich im Vergleich mit den Mongolen der Republik Mongolei als die „wirtschaftlich erfolgreicheren“ Mongolen bezeichneten. Als Teil der chinesischen Gesellschaft profitieren sie von der guten wirtschaftlichen Lage. Damit, so wurde mir gesagt, schaffen sie für die Mongolen bessere Lebensumstände als es in der Republik Mongolei der Fall ist. Zudem verwiesen sie auf ihre ganz besondere Fähigkeit, sich ihrem chinesischen Umfeld so gut anpassen zu können, dass sie sogar die chinesische Sprache erlernen, um maximal produktiv für die Gruppe der Mongolen wirtschaften zu können. Im Vergleich bezeichneten sie die Mongolen der Republik Mongolei hier als faul, unpünktlich und unzuverlässig und distanzierten sich von ihnen als die „besseren Mongolen“, oftmals gleichzeitig mit Verweis auf ihren Erhalt der uiguro-mongolischen Schrift.

Bei meinem Wunsch nach eindeutigen Hinweisen auf die mongolische Identität musste ich also lernen, dass hierbei zu unterscheiden war zwischen dem, was über Identität gesagt wurde, dem, was in Verbindung mit Identität gewünscht oder gefühlt wurde, und dem, was in Reaktion auf das Umfeld in Hinblick auf Identität praktiziert wurde.

Dies bedeutet für meine anfängliche Fragestellung nach der Relevanz der Sprache für die mongolische Identität, dass eine Kategorie allein, wie etwa die der Sprache, nicht als ausreichend eindeutiges Identitätsmerkmal herangezogen werden konnte, da sie sich nicht auf alle Gruppenmitglieder beziehen ließ, da sie kein ausschließliches Kriterium nationaler und ethnischer Identität ist. Wenn Kategorien, die benutzt werden, nicht ausreichen, um das Problem zu beschreiben, sind sie entweder falsch, oder sie werden falsch gebraucht. Hier half mir das Konzept der cross-cutting ties, der sich überlappenden Kategorien, die von allen Akteuren genutzt und auch situativ ignoriert werden können.

Statt eindeutiger Kategorien für die Bestimmung der mongolischen Identität wurde mir ein dynamisches System deutlich, bei dem zudem auch jede Handlung und Äußerung offenbar eine Wirkkraft besaß und neue Handlungen hervorrief. Das Wesentliche, so stellt es sich nach meiner Analyse dar, sind nicht die einzelnen Kategorien, die für Identitätsbeschreibungen herangezogen werden, sondern das Wesentliche ist das System der Beziehungen. Innerhalb des Systems kommt es zu situativem Gebrauch und Nichtgebrauch sowohl mongolischer als auch chinesischer Kategorien. Dies ermöglicht die Konstruktion und Betonung der mongolischen Identität im Prozess der Anpassung an ein Umfeld oder als Reaktionen auf Hinterfragungen. Damit verweisen meine Beobachtungen auf einen dynamischen, entgrenzenden, heterogenen und im Grunde völlig unhandlichen Komplex, den man Identität nennen könnte.

Da also das System der Beziehungen wesentlich für die Behauptung einer mongolischen Identität ist, stellt sich folglich nicht so sehr die Frage nach der Relevanz von Sprache (oder einer anderen von Akteuren herangezogenen Kategorie), sondern vielmehr die Frage nach ihrem Gebrauch innerhalb des Systems, also die Frage nach ihrer situativen Funktion. Mongolische Identität, verortet in einem geopolitisch breit angelegtem System von Beziehungen, mit Akteuren auf mehreren Ebenen, lässt nun zu, den wechselhaften, widersprüchlichen Gebrauch von Kategorien als konstituierend und schützend, als einzige Lösung für die Identitätskonstruktion zu verstehen.

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