Interview mit Annika Lems – Neue Forschungsgruppenleiterin am MPI

27. Februar 2019

Annika Lems arbeitet seit Anfang Januar 2019 am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Sie ist Leiterin einer von der Max-Planck-Gesellschaft finanzierten unabhängigen Forschungsgruppe. Die Österreicherin hat einen MA-Abschluss in Sozialanthropologie der Universität Wien und wurde an der Swinburne University in Melbourne promoviert. In ihrer Promotion mit dem Titel “Being-Here: Placemaking in a World of Movement” ist sie anhand der Geschichten von drei somalischen Flüchtlingen der Frage nachgegangen, was es bedeutet, in eine fremde Welt geworfen zu werden und an diesem Ort nach einem neuen Dasein suchen zu müssen. Im Augenblick ist sie dabei, ihr neues Projekt in den deutschsprachigen Alpen vorzubereiten. Wir haben sie dazu befragt.

Annika, als Leiterin einer unabhängigen Max-Planck-Forschungsgruppe konntest Du Dir das Max-Planck-Institut aussuchen, an dem Du mit Deiner Gruppe arbeiten möchtest. Warum hast Du Dich für das MPI für ethnologische Forschung entschieden?
Zum einen passt mein Projekt, in dem es um die Konstruktion von Zugehörigkeit und Fremdheit gehen wird, sehr gut zu den Forschungsprojekten von Marie-Claire Foblets zum Thema Migration, Integration und Exklusion und zu Chris Hanns langjähriger Forschung in den Bereichen historische Ethnologie und Dorfethnologie. Und zum anderen ist das MPI für ethnologische Forschung eines der größten und bekanntesten ethnologischen Institute der Welt. Als überzeugte Sozialanthropologin wollte ich deshalb natürlich nach Halle.

Dein Projekt hat den Titel „Alpine Geschichten des globalen Wandels: Zeit, das Eigene und das Fremde im deutschsprachigen Alpenraum“. Was bedeutet dieser Titel und worum wird es in Deinem neuen Projekt gehen?
Bei der Suche nach dem Projekttitel habe ich mich von Johannes Fabians Buch „Time and the Other: How Anthropology Makes its Object“ inspirieren lassen. In diesem Buch setzt er sich kritisch mit der Haltung auseinander, die Ethnologen zu den Menschen einnehmen, die sie erforschen. Sie neigen nach Fabian dazu, über Menschen, die ihnen fremd sind, so zu schreiben, als lebten sie in einer weit zurückliegenden Zeit und hätten noch etwas aufzuholen. Die Ethnologen selbst sehen sich natürlich fest in der modernen Gegenwart verankert.

Und in Deinem Projekt wird diese wissenschaftskritische Haltung auch eine Rolle spielen?
Ja. Wir wollen uns mit der Verbreitung von anti-kosmopolitischen, exkludierenden Gedanken in Europa beschäftigen, wobei wir auch den Gründen für die zunehmende Globalisierungsverdrossenheit nachgehen wollen. Wir werden uns außerdem damit beschäftigen, woher es kommt, dass Menschen, die in abgelegenen Orten leben, oft als ewiggestrig und traditionalistisch abgestempelt werden und wie diese Menschen sich selbst in einer vom globalen Wandel geprägten Welt sehen.

Warum sind gerade deutschsprachige Alpenregionen dafür besonders geeignet?
Sie sind ein hervorragendes Forschungsfeld, weil es in allen vier Gemeinden in Österreich, Deutschland, Südtirol und der Schweiz, die wir uns näher anschauen wollen, eine lange Tradition reaktionärer und rechter politischer Bewegungen gibt. Hier können wir die vielen Facetten von Exklusion und Inklusion studieren und in die Tiefe einzelner Lebensgeschichten gehen. Wir können mit ethnografischer Forschung in Bergdörfern einer Antwort auf die Frage näherkommen, weshalb sich Menschen in ländlichen Regionen oft ausgeschlossen und von populistischen Parteien angesprochen fühlen. Und wie diese Menschen wiederum mit ihren Alltagsgeschichten soziale Nähe erzeugen oder Gruppen und Individuen als anders abstempeln und damit ausgrenzen.

Das heißt, Du gehst nicht davon aus, dass Menschen, die in abgelegenen Bergregionen leben, per se fremdenfeindlich sind?
Nein, natürlich nicht. Unser Ausgangspunkt ist zunächst einmal nur die Beobachtung, dass rechte und antiliberale politische Gruppierungen dort einen großen Unterstützerkreis haben, mehr nicht. Alles andere sind offene Forschungsfragen, auf die wir uns eine Antwort erhoffen, indem wir im Alltagsleben die vielschichtigen Gründe aufdecken, die dazu führen, dass bestimmte Gruppen als Bestandteil der eigenen Tradition gesehen werden und anderen wiederum das Attribut „fremd“ zugeschrieben wird.

Und welche Rolle spielt dabei der globale Wandel, den Du im Projekttitel explizit nennst?
Er spielt eine große Rolle. Zum einen deshalb, weil es viele der einst abgelegenen Alpenregionen durch den wachsenden Tourismus und das steigende Interesse von Menschen aus aller Welt zu Wohlstand und Bekanntheit gebracht haben. Zum anderen führt aber in jüngerer Vergangenheit eben diese weltweite Vernetzung dazu, dass Unternehmen ins Ausland abwandern, wo sie günstigere Produktionsbedingungen vorfinden. Die einstmals peripheren Gemeinden sind also sehr eng mit dem Auf und Ab der Weltwirtschaft verwoben. Inwiefern diese Tatsache mit der zunehmenden Globalisierungsverdrossenheit zu tun hat, werden wir untersuchen.

Aber wären Metropolen und urbane Ballungsräume nicht viel besser geeignet, um die Ursachen von Globalisierungsverdrossenheit zu erforschen?
Nein, eben gerade nicht. Bewohnern von ländlichen Gegenden wird in der Forschung nur wenig Gehör geschenkt. Kommentatoren stempeln diese Orte oft vorschnell als rückständig, traditionalistisch und ewiggestrig ab, ohne sich anzuhören, wie Menschen jenseits von urbanen Zentren globale und historische Transformationen eigentlich erleben. Deshalb haben wir nur sehr wenig fundiertes Wissen über die lokalen, alltäglichen Versionen von Geschichte die in diesen Orten zirkulieren. Und wir wissen auch nicht, ob und wie diese Geschichten und ihre Konstruktion uns dabei helfen könnten, besser zu verstehen, wie Menschen den beschleunigten globalen Wandel im Alltag wahrnehmen.

Du hast ein sehr vielschichtiges und voraussetzungsreiches empirisches Forschungsdesign entworfen. Auf welche theoretische Tradition stützt Du Dich und auf welche Theoretiker baust Du dabei?
Meine Arbeiten sind stark von existenzialistischen und phänomenologischen Ansätzen in der Sozialanthropologie geprägt. Eines der Leitmotive dieser Denkschule ist die Auseinandersetzung mit den Spannungen zwischen persönlichen Handlungsmöglichkeiten und den externen Kräfteverhältnissen, die die individuellen Möglichkeiten eingrenzen oder untergraben. Eines der Hauptanliegen existenzieller Ethnologen ist es, durch direkte Auseinandersetzung mit den gelebten Erfahrungen von Individuen und Gruppen zu einem tieferen Verständnis über die vielfältige Qualität der menschlichen Existenz zu kommen. Diese intensive Beschäftigung mit einzelnen Lebenswelten ist vom Interesse geleitet, sich von der in den Sozialwissenschaften üblichen Neigung zur abstrakten Theoriebildung wegzubewegen, die mit den gelebten Erfahrungen von Menschen oft nur wenig zu tun hat.

Und was bedeutet das konkret für das Projekt?
Es bedeutet, dass wir uns nicht für soziale oder kulturelle Schemata interessieren, sondern für die experimentelle und oft widersprüchliche Art und Weise wie Menschen ihren Alltag leben und erleben. Deshalb beschäftigen wir uns vor allem mit Alltagsgeschichten – auch mit jenen Geschichten über die Vergangenheit, die Leute im Alltag erzählen, um ihre Zugehörigkeit und Nähe zu einem Ort zum Ausdruck zu bringen. Manche dieser Alltagsgeschichten werden kollektiv erzählt, andere wiederum sind tief in den Biografien von Individuen verankert. Wir wollen das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen erforschen.

Wie geht es jetzt weiter, was sind die nächsten Schritte?
Im Augenblick sind noch nicht alle Stellen in der Forschungsgruppe besetzt. Aber sobald wir für jede Region eine Kollegin oder einen Kollegen haben, machen wir uns an die Arbeit und bereiten die Feldforschungsphase vor, die 2020 beginnen und etwa ein Jahr dauern wird.

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