Workshopbericht ‘Forced Migration, Exclusion, und Social Class’

Max Planck Institut für ethnologische Forschung, Halle, 23.-24.05.2019

9. August 2019

Der Workshop, der von der Max Planck Forschungsinitiative “Die Herausforderungen von Migration, Integration und Exklusion” initiiert und veranstaltet wurde, konzentrierte sich auf die Zusammenhänge zwischen Zwangsmigration, Exklusion und sozialer Klasse. In der bisherigen Forschung zu Fluchtmigration findet der Aspekt der sozialen Klasse oft wenig Beachtung oder verbirgt sich hinter anderen Begriffen, z. B. wenn Geflüchtete als „verletzlich“, „arm“, oder als „besser gestellt“ beschrieben werden. Daher existieren nur wenige Studien, in denen die soziale Klasse von Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten in ihren Herkunfts- wie auch den Aufnahmeländern Beachtung findet (Van Hear 2004, 2014; McSpadden 1999: 251). Diese Untersuchungen stellten z.B. fest, dass ein Mittelklasse- oder Oberschichtshintergrund den Anfang in einem Aufnahmeland erleichtern, aber auch zu Gefühlen von Frustration und fehlender Anerkennung führen kann (Kleist 2010: 198), und dass ein angesehener sozialer Status nicht unbedingt in das Aufnahmeland übertragbar ist (Jansen 2008: 182). Die Kernfrage war daher, wie ein Fokus auf Klasse zu der Erforschung von Zwangsmigration beitragen kann. Die Beiträge umfassten konzeptuelle Arbeiten zu dem übergreifenden Thema aber auch Arbeiten zu spezifisch regionalen und zeitlichen Fragestellungen.

Klasse und Ambitionen
Auch wenn die Vorträge der ersten Diskussionsrunde sehr unterschiedliche geographische Regionen der Immigration behandelten, zeigten sich viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich des wahrgenommenen und angestrebten Klassenstatus. Ein Hauptthema dieser Beiträge war die Art, wie Geflüchtete versuchen, den rechtlichen Status bzw. die Bezeichnung ‚Flüchtling‘ zu vermeiden, um einen höheren sozialen Status zu behalten, da dieses Label aus ihrer Sicht negativ konnotiert ist. Magdalena Suerbaum und Tabea Scharrer brachten anthropologische Beispiele von Syrern in Ägypten und Somalis in Kenia zusammen, die zeigen, wie Zwangsmigranten wirtschaftliche Unabhängigkeit und eine spezifische Arbeitsethik mit einem höheren sozialen Status verbinden. Dies beeinflusst ihre Mobilitätsbestrebungen und resultiert in einem Widerwillen, nach Europa zu ziehen, wo sie als ‚Flüchtlinge‘ von Wohlfahrtssystemen abhängig wären. Ähnlich betonte Aysen Üstübicis Beitrag zu Syrern in der Türkei, dass Geflüchtete der Mittelklasse nicht vorhaben, nach Europa zu migrieren, um dort bei ‚Null zu beginnen‘. Ärmere Geflüchtete, die in der Türkei weiterhin marginalisiert werden, ziehen dagegen weiterhin in Erwägung, entweder nach Europa zu ziehen oder nach Syrien zurückzukehren. Das zeigt, dass Klassenpositionen stark mit Niederlassungs- oder Integrationsperspektiven in den Aufnahmeländern von Geflüchteten zusammenhängen. Susanne Bygnes Beitrag zu jungen syrischen Geflüchteten in Norwegen beschäftigte sich ebenfalls mit dem Hauptthema des ersten Teils, nämlich wie mit der Kategorie des Geflüchteten als Stigma umgegangen wird, das Zwangsmigrantinnen in ihren Narrativen bewältigen müssen und das sie durch Arbeitsethik zu überwinden suchen. Sie zeigte, wie Geflüchtete sich als ‚normal‘ darstellen, indem sie norwegische Mittelklasse-Werte bezüglich Geschlechterbeziehungen, gesunder Ernährung und ähnlichem übernehmen, um diese als Prestigesymbole zu nutzen. Miriam Schader warf in ihrer Diskussion der Beiträge die Frage nach einer klareren Konzeptualisierung von Klasse auf. Diese sollte über persönliche Narrative hinausgehen, um die Effekte sozioökonomischer Stratifikation auf die Möglichkeiten aufzuzeigen, mit Ausgrenzung und stigmatisierenden Kategorisierungen umzugehen.        

Klasse und Lebensgrundlagen
Der zweite Teil des Workshops untersuchte den Einfluss sozialer Klasse auf die Art, wie Geflüchtete sich einen Weg durch verschiedene Lebensunterhaltsoptionen bahnen, während sie mit beachtlichen Unsicherheiten konfrontiert sind. Die erste Präsentation von Elke Grawert, die auf Feldforschung zu Afghanen in Afghanistan, dem Iran und Pakistan (2015-17) unter langwieriger Vertreibung basierte, zeigte dass Geflüchtete der oberen Mittelklasse eine größere Chance haben, soziale Exklusion (durch staatlichen Politiken sowie wahrgenommene Gruppenzugehörigkeit) zu vermeiden. Translokale Netzwerke, ein höherer Bildungsgrad und ein höheres Level an Kompetenzen, die Mittelklasse-Geflüchtete besitzen, eröffnen ihnen mehr Möglichkeiten, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und erlauben ihnen, die Effekte restriktiver Flüchtlingspolitiken abzumildern. Ähnlich unterstrich die zweite Präsentation von Sena Duygu Topcu in großer Übereinstimmung mit Üstübicis Beitrag aus dem ersten Teil, wie syrische Mittelklasse-Geflüchtete in Istanbul es geschafft haben, ein Leben aufzubauen und in der Türkei in einem solchen Maße emotionale und finanzielle Investitionen geleistet haben, dass sie nicht mehr zurückkehren und nochmal ‚von vorne‘ anfangen wollten. Topcu wies ebenfalls darauf hin, dass, obwohl Geflüchtete mit beträchtlicher Unsicherheit konfrontiert sind, eine klassenbasierte Analyse erlaube, Ähnlichkeiten in den Interessen sowohl von Staatsbürgern als auch Nicht-Staatsbürgern aufzudecken. Jennifer Houghs Präsentation unterschied sich von den beiden vorangegangenen insoweit, als dass sie zeigte, wie die südkoreanische Unterstützung der Umsiedlung von Nordkoreanern diese als hilfsbedürftig konstruiert, völlig unabhängig von sozio-ökonomischen Unterschieden zwischen ihnen. Diese allgemeine Unterstützung führt nicht nur zu Feindseligkeiten in der südkoreanischen Bevölkerung und zu verstärkter Diskriminierung der nordkoreanischen Migrantinnen, sondern auch dazu, dass diese ihre Bemühungen um Integration nicht zeigen können. In seiner Diskussion lud Paolo Gaibazzi die Anwesenden ein, darüber nachzudenken, ob es Sinn mache, Klasse als Variable oder eher als systemische strukturelle Kraft aufzufassen. Im ersten Fall können möglicherweise präzisere Terminologien gefunden werden. Wird Klasse als strukturelle Kraft aufgefasst, wirft dies die Frage auf, ob die Idee einer sich selbst reproduzierenden, relativ stabilen klassenbasierten Gesellschaftsstruktur ein nützliches analytisches Werkzeug in der Forschung zu Geflüchteten ist.

Klasse und Mobilität
Nicholas van Hear setzte sich in seinem Keynote-Vortrag mit der Frage auseinander, inwieweit das Konzept ‘Klasse’ hilfreich ist, um Zwangsmigration zu verstehen, indem er theoretische und empirische Arbeiten zu Klasse und Mobilität vereinte. Während Klasse lange Zeit von der Migrationsforschung (und darüber hinaus) ignoriert wurde, sind sozioökonomische Unterschiede inzwischen wieder Teil der Forschungsagenda auf drei Ebenen: Bei der Frage zu geographischer Mobilität, d. h. mobil zu sein oder an Ort und Stelle zu bleiben, beim Blick auf die Auswirkung von Migration auf die Herkunftsgesellschaft (insbesondere durch Geldsendungen ins Heimatland) sowie bezüglich der Auswirkungen auf das Aufnahmeland.  Was in dieser Forschung allerdings fehlt, ist die Verwendung von Klasse als kollektiver Begriff; bislang wird Klasse meist auf individueller Ebene untersucht. Daher könnte man fragen, ob dafür andere Begriffe, etwa Ungleichheit, Status oder Wohlstand anstelle von Klasse genutzt werden sollten. Im Hinblick auf Migration hat die Einführung des Begriffs ‚Mobilität‘ geholfen, die Praxis der Bewegung (von Menschen, Dingen und Ideen) zu normalisieren, allerdings wurde auch klar, dass nicht jeder willig oder imstande ist, mobil zu sein. Als einen möglichen Forschungsweg führte Nicholas van Hear (in Anlehnung an Hirshman) drei Begriffe ein: bewegende Macht („moving power“), mobilisierende Macht (im politischen Sinne) und bleibende Macht („staying power“). Während für alle drei auch individuelle Aspekte eine Rolle spielen, argumentierte er, dass sie stärker werden, wenn sie als kollektive Angelegenheit aufgefasst werden, statt als individuelle.

Klasse und politisches Engagement
Der dritte Teil der Konferenz begann mit einer Präsentation von Amany Selim über ihre Feldforschung zu Syrern in Oslo und Berlin. Sie untersuchte das kulturelle, symbolische und rechtliche Kapital syrischer Aktivisten und ihre (politische) Selbst-Identifizierung und kam zu dem Schluss, dass diejenigen Syrer, die aktivistisch tätig waren, oft bereits vorausgehende politische Expertise hatten und sich durch Aufenthaltstitel und verschiedene Ressourcen, auf die sie zurückgreifen konnten, häufig in einer stabilen Situation befanden. Helia Lopez Zarzosa konzentrierte sich in ihrer Präsentation auf die Klassenerfahrungen chilenischer Geflüchteter während ihrer Flucht, im Exil und während der Rückkehrmigration. Sie stellte die Idee in Frage, dass Migranten immer in der Lage seien, Ressourcen zu transferieren, die sie erworben hatten, bevor sie in eine neue räumliche Umgebung migrierten. Seda Özdemir präsentierte eine historische klassenbasierte Analyse des erzwungenen Austausches der griechischen und türkischen Bevölkerung in der Stadt Ayvalık. Sie beschrieb wie Immigranten, die mindestens eine Form von Mittelklasse-Kapital (z.B. höhere Bildung) besaßen, Strategien entwickelten, angesehene ökonomische und soziale Positionen zu erlangen. Viele von ihnen beteiligten sich bei Vereinigungen, um ihren politischen Einfluss in der Siedlung zu erhöhen und ein Klassengefühl zu schaffen. In seiner Diskussion der Beiträge argumentierte Boris Nieswand, dass in den spezifischen Fällen jeweils andere Ressourcen von Bedeutung waren, was zeigt, dass Klasse nicht überall dasselbe heißt, sondern kontextabhängig ist. Er betonte, dass einige transkontextuelle Ressourcen verwendet worden seien, etwa Geld, das in verschiedenen Gegenden eingesetzt werden könne, während andere Ressourcen (z.B. sozialer Status) in spezifische Kontexte eingebettet sind. Dies führt zu einem Fokus auf Grenzregime, ihre Durchlässigkeit und ihre Macht zu definieren, welche Ressourcen konvertierbar sind. Alle drei Beiträge behandelten Klasse passend zu neoliberalem Denken als eine persönliche Angelegenheit, während die Vorstellung von Klassenkonflikten im marxistischen Sinne fehlte. Eine andere Frage, die gestellt wurde, zielte auf die Frage von Überlappungen zwischen Klasse und Etablierten-Außenseiter Beziehungen (Elias) ab und wie einige Gruppen normative Macht über andere gewinnen.  

Klasse und Flüchtlingspolitik
Der vierte Teil des Workshops konzentrierte sich auf die Zusammenhänge von Klasse und Migrationspolitik. Zwei Präsentationen beschäftigten sich mit Tansania, einem Land mit einer der strengsten Flüchtlingsgesetzgebungen der Welt. Clayton Boeyik und Jean-Benoit Falisse präsentierten ihre Forschung in einem der Flüchtlingslager im Westen des Landes. Ihr Hauptergebnis ist, dass innerhalb des Kontexts des Lagers sozioökonomische Unterschiede, die vor der Flucht bestanden hatten, keine große Rolle spielten. Stattdessen entstand dort eine neue Klassenstruktur, die hauptsächlich auf dem Sozialkapital, isb. der Möglichkeit gering bezahlte Jobs bei NGOs zu erhalten, basierte. Im Gegensatz dazu argumentierte Markus Rudolph, dass in einer urbanen Umgebung unter nichtregistrierten Geflüchteten eher eine Reproduktion von Klasse stattfinde. Sozialer Aufstieg findet nur selten statt und ist oft mit benötigten Fähigkeiten verbunden (zum Beispiel im Fall von Französisch-Lehrerinnen und Lehrern) und mit sozialen Netzwerken, entweder innerhalb der Familie oder solchen die während des Transits geschaffen wurden (zum Beispiel mit Unterstützung von Hilfsorganisationen). Markus Engler legte in seiner Präsentation den Fokus auf Deutschland und sprach über Flüchtlingsaufnahmepolitiken und die (teilweise unbeabsichtigte) Bedeutung, die Klasse dabei spielt. Er argumentierte, dass, obwohl „Resettlement“ oft als Chance von besonders verletzlichen Geflüchteten diskutiert werde, oft eher wohlhabende und gut gebildete Geflüchtete von diesen Programmen profitieren. Das Gleiche gilt für Familienzusammenführungspolitiken, die ebenfalls ärmere Geflüchtete marginalisieren. In der Diskussion der Beiträge wurde von Luc Leboeuf die Frage aufgeworfen, inwieweit Forschung sich mehr auf ‚Integrationismus‘, die Logiken und Folgen von Integrationspolitiken konzentrieren sollte. Des Weiteren sollte neben Klasse auch der Einfluss von Glück und Zufall berücksichtigt werden, wenn soziale Mobilität im Kontext von Zwangsmigration untersucht wird.   

Abschließende Diskussion
Im letzten Teil des Workshops wurden mehrere Themen in Form von offenen Fragen diskutiert:
Definition von Klasse: Wie definieren wir in unserer Forschung Klasse? Einige Beiträge stützen sich auf eine Bourdieu‘sche Perspektive, also auf den Besitz unterschiedlicher Arten von Kapital. Andererseits wurde auch eine Definition herangezogen, die den Zugang zu Ressourcen sowie zu Macht betonten (Keynote-Vortrag). Offensichtlich wird Klasse in den meisten Beiträgen nicht als kollektive Dimension behandelt: Ist Klasse dennoch mehr als eine individuelle Variable? Sehr wenige Beiträge sprechen über Klassenkonflikt oder Klassenbewusstsein.  
Kontext und Umwandelbarkeit: Sind Klassenpositionen kontextabhängig oder lassen sie sich transferieren? Dies war eine Hauptfrage, mit der sich die meisten Beiträge beschäftigten. Besonders die Übertragbarkeit verschiedener Arten von Kapital von einem nationalen in einen anderen nationalen oder auch transnationalen Kontext sowie die Umwandelbarkeit zwischen verschiedenen Typen von Kapital wurden ausführlich diskutiert.
Temporalität: Wie verändert sich Klasse nicht nur in Bezug auf verschiedene geographische Kontexte, sondern auch über Zeit hinweg? Damit hängt zusammen, dass, wie jedes soziale Phänomen, Klasse nicht zu jedem Zeitpunkt relevant ist. Deshalb bleibt eine wichtige Aufgabe zu identifizieren, wann sie es ist.
Interaktionen: Die vier Teile des Workshops setzten sich mit den Interaktionen von Klasse mit Mobilitäts- oder Migrationsbestrebungen auseinander, mit Inklusions- / Exklusionsprozessen, mit politischem Engagement und Mobilisierung sowie mit Staatspolitiken und arbeiteten heraus, dass diese am besten als mehrdeutig wahrgenommen werden.   

Bibliographie

  • Jansen, S. (2008) ‘Misplaced Masculinities: Status loss and the location of gendered subjectivities amongst ‘non-transnational’ Bosnian refugees’, Anthropological Theory, 8, 181- 200.
  • Kleist, N. (2010) ‘Negotiating Respectable Masculinity: Gender and Recognition in the Somali Diaspora’, African Diaspora, vol. 3, 185-206.
  • McSpadden, L. A. (1999) ‘Negotiating Masculinity in the Reconstruction of Social Place: Eritrean and Ethiopian Refugees in the United States and Sweden’, in Indra. D. (ed.) Engendering Forced Migration: Theory and Practice. New York/Oxford: Berghahn Books, 242-261.
  • Van Hear, N. (2004) ‘I went as far as my money would take me’: conflict, forced migration and class’, Centre on Migration, Policy and Society Working Paper No. 6. Oxford: Compas.
  • Van Hear, N. (2014) ‘Reconsidering migration and class’, International Migration Review, 48 (1), 100-121.
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