Workshop-Bericht "Is Terrorist Learning Different?"

27. Januar 2020

Am 21. und 22. November 2019 veranstaltete das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung den Workshop "Is Terrorist Learning Different?", organisiert von Carolin Görzig, Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe "How 'Terrorists' Learn", und den Postdocs Imad Alsoos, Michael Fürstenberg und Florian Köhler. ExpertInnen aus Europa, Tunesien, Mexiko, den USA und Indien diskutierten, ob es charakteristische Merkmale von Terrorgruppen und deren Mitgliedern gibt, wie gruppeninterne Dynamiken und Einflüsse aus dem Umfeld ihre Lernprozesse prägen und in welcher Weise unterschiedliche Formen von Lernen den Erfolg oder Misserfolg von Terrorgruppen erklären. Die Keynote Speech von Günther Schlee, einem der beiden Gründungsdirektoren des Instituts, lud unter dem Titel "Studying Evil" die TeilnehmerInnen dazu ein, die Möglichkeiten und Grenzen der Erforschung des Lernens von Terrorgruppen sowie die damit verbundenen ethischen Probleme zu reflektieren.

Lernen in einem speziellen Kontext
Was die im Titel des Workshops formulierte Frage betrifft, so verwarfen die TeilnehmerInnen im Wesentlichen die Vorstellung, dass sich die inhärenten Eigenschaften und das Lernen terroristischer Individuen oder Organisationen grundsätzlich von denen anderer (legaler oder illegaler) Akteure oder Gruppen unterscheiden. Wie am ersten Tag des Workshops ausführlich diskutiert wurde, werden deren Entwicklungen und Lernprozesse jedoch grundlegend durch Wechselwirkungen zwischen spezifischen gruppeninternen Dynamiken und dem externen Umfeld beeinflusst. Terrorgruppen werden wegen des erschwerten Zugangs und der begrenzten Möglichkeiten zur Datensammlung oft wie eine Black Box behandelt. Eine Möglichkeit, diese Black Box aufzubrechen, ist es, sich auf Wechselwirkungen zwischen internen Dynamiken und dem Umfeld zu konzentrieren, anstatt die Gruppen nur als unitäre Akteure oder als isoliert von ihrem Kontext zu betrachten.

Dilemmata des Untergrunds
Während dieser Kontext und die spezifischen Konstellationen der Interaktionen sehr unterschiedlich sein können, ist der Aspekt der Klandestinität etwas, das die meisten terroristischen Akteure gemein haben: Terroristische Gruppen agieren weitgehend im Untergrund, was besondere Fähigkeiten erfordert. So müssen Mitglieder von Terrorgruppen mit Situationen umgehen, in denen Kontakte nach außen leicht zur Bedrohung werden können. Die Notwendigkeit von Geheimhaltung kann es auch mit sich bringen, dass die Akteure mehrere, oft widersprüchliche Identitäten zu bewältigen haben, was zu inneren Konflikten und Dilemmata führen kann.

Ursachen von Radikalisierung
Dies wirft die Frage auf, in welchem Ausmaß sich Individuen bewusst und freiwillig dafür entscheiden, sich solchen heiklen Situationen auszusetzen? Wenn Individuen, die sich Terrorgruppen anschließen, sich nicht prinzipiell von Anderen unterscheiden, so ist es naheliegend, dass die Besonderheit eher in ihrer Situation begründet liegt. In den Beiträgen, die sich mit den persönlichen Hintergründen einzelner Gewalttaten oder des Beitritts zu gewalttätigen Organisationen befassten, wurden die oft prekären Situationen der betreffenden Personen hervorgehoben. Nina Käsehage gab in diesem Zusammenhang Einblicke in die schwierige Situation kurdischer Salafisten in Deutschland, die zwischen zwei kaum zu vereinbarenden Identitäten hin- und hergerissen sind. Wael Garnaouis Analyse des Lebensweges von Anis Amri, dem Täter des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt, beleuchtete die Rolle gesellschaftspolitischer Missstände und der Gleichgültigkeit von Staaten gegenüber ihren Bürgern als Ursachen für Radikalisierung.

Suche nach Zugehörigkeit
Sheelagh Bradys Beitrag zum Wechsel von Individuen zwischen verschiedenen Arten von Gewaltorganisationen (kriminellen Banden, militanten Gruppen und dem Militär) deutete einerseits darauf hin, dass bei vielen Mitgliedern solcher Gruppen eine gewisse Neigung zur Gewalt ursächlich relevant ist, es jedoch letztendlich oft eher von Gelegenheiten abhängt, welcher spezifischen Art von Gewaltorganisation sie sich anschließen. Andererseits zeigte Brady auch die Bedeutung eines verbreiteten Bedürfnisses nach Zugehörigkeit auf, das auch von anderen Vortragenden betont wurde. So hob etwa Almakan Orozobekova in ihrer Analyse von kirgisischen Individuen, die sich dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien angeschlossen haben, die Rolle von sozialen Netzwerken und Peergroups für die Rekrutierung hervor. Ein starkes Bedürfnis nach Peergroup-Zugehörigkeit, ebenso wie eine Neigung zu Abenteuer und Rebellentum, ist gerade unter jungen Menschen recht häufig anzutreffen. Das Alter spielt eine Rolle bei der Radikalisierung, wie insbesondere auch Bradys Beitrag nahelegte.

Das Innenleben militanter Organisationen
Agieren unter Bedingungen von Klandestinität schränkt Handlungsoptionen ein – auch auf Gruppenebene. Starre Ideologien, geschlossenes Gruppendenken und die Notwendigkeit, Kontakte nach außen einzuschränken, haben zur Folge, dass abweichende Ansichten und kritische Stimmen häufig nicht wahrgenommen werden. Macht dieser Zusammenhang zwischen Isoliertheit und mangelnder Wahrnehmung von kritischen, möglicherweise kurskorrigierenden Stimmen das Lernen von Terrorgruppen anders und erklärt womöglich, warum diese mitunter gerade nicht lernen? Um dies zu beantworten, diskutierten die TeilnehmerInnen zunächst die Rolle von internen Faktoren, so etwa Persönlichkeitsmerkmale von Anführern, der Einfluss der Anhängerbasis, etwaige Infragestellungen der Führungsebene, aber auch Organisationsstrukturen und Ideologien. Der verstorbene IS-Führer al-Baghdadi sei, wie Nori Katagiri in seinem Beitrag betonte, für seinen engen Horizont und sein in sich geschlossenes Weltbild bekannt gewesen, weshalb es der Organisation an der für erfolgreiches Lernen nötigen Offenheit gefehlt habe. Michael Fürstenberg zeigte dagegen auf, wie Theorien Organisationalen Lernens zur Analyse von Lernprozessen bei Al-Qaida genutzt werden können, deren Anführer im bewussten Kontrast zum IS eine Transformation hin zu einer eher lokalen und bevölkerungszentrierten Strategie initiiert haben. Komplementär verdeutlichte Florian Köhlers Beitrag, dass Lernprozesse nicht nur von den Anführern, sondern auch auf anderen Ebenen einer Organisation in Gang gesetzt werden können und dass daraus resultierende Infragestellungen der Anführer zu Spaltungsprozessen führen können. Während so einerseits die Rolle des Individuums im Lernprozess einer Organisation hervorgehoben wurde, spielt andererseits auch die Organisationsdynamik eine wichtige Rolle. Imad Alsoos stellte mit einem seltenen Einblick in das Innenleben einer militanten Organisation dar, wie die Hamas Anhänger nach innen und außen mobilisiert. Katharina Siebert und Regine Schwab zeigten, dass ideologisch ähnliche Gruppen überraschenderweise oft nicht kooperieren, was die Frage aufwirft, ob man von einer Ökologie des Terrorismus sprechen kann, in der ähnliche Gruppen unterschiedliche Nischen besetzen. Ideologie spielt offensichtlich eine bedeutende Rolle in den Lernprozessen von Gruppen und steht in engem Zusammenhang mit deren Fähigkeit, von der Umwelt zu lernen.

Externe Rahmenbedingungen
Des Weiteren untersuchten die Teilnehmenden die externen Faktoren, die das Lernen beeinflussen, wie etwa globale Ereignisse, den Staat, Verbündete und Feinde sowie das Gefängnisumfeld. Globale Ereignisse bilden den Handlungsrahmen von terroristischen Gruppen weltweit: Das Ende des Kalten Krieges beeinflusste zum Beispiel die Strategie der IRA, der Arabische Frühling die von Al-Qaida. Neue Kommunikationstechnologien revolutionierten die Propagandastrategien von Gruppen wie Al-Qaida und dem IS. Diese beiden Gruppen unterscheiden sich dabei, wie Boyan Hadzhiev mit einer Analyse ihrer jeweiligen Online-Magazine Inspire und Dabiq zeigte, darin, ob ihre Botschaften eher nach innen oder eher nach außen gerichtet sind, was Rückschlüsse auf zugrundeliegende Lernprozesse ermöglicht. Im Verborgenen agierende terroristische Gruppen sind stark eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, ihr Umfeld zu kontrollieren. Sie operieren in einem feindlichen Umfeld, das durch ihre Auseinandersetzung mit dem Staat gekennzeichnet ist. Dieser Umstand zwingt sie dazu, Anpassungsfähigkeit gegenüber Veränderungen zu entwickeln.

Flexible Strategien
Wie sie ihr Handeln dabei an den Stärken und Schwächen des Staates orientieren, wurde von Luis de la Calle erläutert. Viele terroristische Gruppen sind bei der Wahl der passenden Strategien flexibler, als man annehmen könnte. Dies wirft die Frage auf, wie sie ihr Umfeld einschätzen und warum einige dabei erfolgreicher sind als andere. Darüber hinaus lernen terroristische Gruppen auch von anderen militanten Akteuren, seien es Freunde oder Feinde. Ari Weil zufolge lernen Terroristen zwar anhand der Handlungsanweisungen ideologischer Propagandamaterialien, kopieren aber ebenso auch ihre Feinde - ein Prozess, der oft durch Rache motiviert ist. So steuerte beispielsweise ein rechtsextremer Terrorist sein Fahrzeug in eine Menschenmenge nahe der Finsbury-Park-Moschee, kurz nachdem drei Islamisten auf der London Bridge ihrerseits gezielt PassantInnen überfahren hatten. Ein spezielles, für das Thema Terrorismus relevantes Umfeld, das ebenfalls Gegenstand der Diskussion war, ist das Gefängnis. Autodidaktische Bildung im Gefängnis war, wie Dieter Reinisch erläuterte, eine wesentliche Grundlage für die Deradikalisierungsprozesse von Gruppen wie der IRA, PKK und ETA. Diese Einsicht eröffnet eine Alternative zu dem verbreiteten Narrativ des Gefängnisses als Brutstätte von Radikalisierung. Wenn Personen eine zweite Chance zum Lernen erhalten, kann die Rolle des Individuums und seiner Umgebung neu bewertet werden, wie es auch von Melinda Holmes in ihrer Präsentation dargestellt wurde. Holmes lenkte die Aufmerksamkeit auf die besondere Situation von Frauen, die sich nach Beteiligung am gewalttätigen Extremismus reintegrieren.

Die entscheidende Rolle von Klandestinität
Viele dieser internen und externen Faktoren und ihr jeweiliger Einfluss auf Lernprozesse sind nicht nur für terroristische Organisationen kennzeichnend. Interne Machtdynamiken, organisatorische Abläufe, Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und der breiteren Bevölkerung sowie Geschichte und globale Ereignisse sind für alle Arten von Organisationen relevant, sei es im politischen oder im ökonomischen Bereich. Während das Element der Klandestinität für den Terrorismus zentral zu sein scheint, wurde die Frage aufgeworfen inwieweit nicht auch andere Organisationen unter Bedingungen der Geheimhaltung arbeiten. Luis de la Calle wies darauf hin, dass der Aspekt der Geheimhaltung letztlich Terrorismus und Staatsterrorismus gleichermaßen kennzeichnet. Die Bedeutung einer nuancierteren Betrachtung gewalttätiger Organisationen wurde auch von Juhi Tyagi betont, die aufzeigte, dass nicht etwa Terrorakte, sondern vielmehr gewaltloser lokaler Aktivismus und Massenunterstützung entscheidend dafür waren, dass sich die bewaffnete maoistische Bewegung in Indien bis heute erhalten konnte. Das erfolgreiche Wechseln zwischen Klandestinität und offenem Agieren, je nach den Erfordernissen der Situation, kann sich positiv auf den Erfolg und die Langlebigkeit von militanten Organisationen auswirken. Wenngleich keiner der oben diskutierten Faktoren ein Alleinstellungsmerkmal von terroristischen Organisationen sein mag, ist es möglicherweise ihre Wechselwirkung, welche einzigartig sein könnte. Das klandestine Umfeld hat einen entscheidenden Einfluss auf die Persönlichkeit von terroristischen Akteuren und wirkt sich ebenso auf organisatorische Abläufe aus.

Das Erforschen politischer Gewalt
Im letzten Teil des Workshops regte ein Vortrag von Günther Schlee die Teilnehmenden zum Perspektivwechsel und zur Reflexion der eigenen Rolle als ForscherInnen im Bereich politischer Gewalt an – insbesondere im Hinblick auf direkte Interaktionen mit gewalttätigen Gruppen oder deren Mitgliedern. Zahlreiche Beispiele aus langer umfangreicher Feldforschungserfahrung verdeutlichten, dass das Erforschen von Gewalt die WissenschaftlerInnen vor große Herausforderungen stellt: Sie müssen GewalttäterInnen verstehen, ohne jedoch Verständnis für sie zu haben – mit Empathie, jedoch ohne Sympathie, und ohne Zweifel an ihrer eigenen Position aufkommen zu lassen. Die Befragung von Mitgliedern von Terrorgruppen wirft auch ethische Dilemmata auf, die die Sicherheit von InformantInnen und ForscherInnen gleichermaßen betreffen. Die sich anschließende lange und aufschlussreiche Diskussion, in der die Teilnehmenden ihre eigenen Erfahrungen und Strategien zum Umgang mit diesen Fragen teilten, machte deutlich, dass das spezifische Umfeld von Terroristen nicht nur deren eigenes Lernen, sondern auch die Möglichkeiten des Lernens über ihr Lernen beeinflusst.

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