Das Alumni-Interview: 10 Fragen an Luisa Schneider

22. April 2022

In loser Reihenfolge veröffentlichen wir an dieser Stelle Interviews mit Alumni des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung. Wir wollen wissen, wo sie leben und arbeiten, woran sie forschen und welche Rolle die Zeit am MPI für sie heute noch spielt. Und sie erzählen uns, welchen Rat sie ihren Studierenden mit auf den Weg geben und welches Buch sie in letzter Zeit beeindruckt hat.

1. Von wann bis wann warst Du am MPI und was hast Du hier gemacht?
Ich war von 2019 bis 2020 Postdoc in der Abteilung "Recht & Ethnologie". Ich arbeite über Gewalt, Intimität und Recht in Westafrika und Europa. Ich interessiere mich dafür, wie Menschen den Raum verhandeln, um ihre intimsten Bedürfnisse im Leben zu erfüllen. Und ich untersuche die Gesetze und Institutionen, die diese Bemühungen fördern oder erschweren. Während meiner Postdoc-Phase habe ich eine langfristige ethnografischen Forschung mit Menschen in Leipzig begonnen, die keine Wohnung haben. Gemeinsam können wir zeigen, wie der heutige Wohlfahrtsstaat Grundrechte – beispielsweise den Schutz von Partnerschaft und Familie – stillschweigend an eine Wohnung bindet und was das für diejenigen bedeutet, die keinen festen Wohnsitz haben. Mit dieser Forschung können wir die Auswirkungen des individualisierten sozialen Leids in Post-Wohlfahrtsgesellschaften und die Diskrepanz zwischen den staatlichen Versprechungen von Grundrechten und Schutzmaßnahmen und ihrer praktischen Umsetzung beleuchten.

2. Wo bist Du jetzt und was machst Du dort?
Ich bin Assistenzprofessorin an der Vrije Universiteit Amsterdam in der Abteilung für Sozial- und Kulturanthropologie der Fakultät für Sozialwissenschaften. Und ich bin Mitglied des Forschungsprogramms „Mobilities, Beliefs and Belonging: Confronting Global Inequalities and Insecurities (MOBB)“, in dem ich Lehre und Forschung verbinde.

3. Wie sehr hat Deine Tätigkeit am MPI Deine jetzige berufliche Situation geprägt?
Die Zeit am MPI hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf meine Karriere. Als sozial engagierte Wissenschaftlerin ist meine Arbeit politisch ausgerichtet, dekolonial in ihrem Ansatz, kooperativ in der Praxis und leicht zugänglich in ihren Ergebnissen. Da ich mich mit sozialen Fragen beschäftige, ist es mir wichtig, langfristige, sozial engagierte ethnografische Forschung zu betreiben. Ich möchte dabei helfen, Barrieren zwischen der Wissenschaft und der Welt abzubauen. Während meiner Postdoc-Zeit hat mich das MPI bei der Kommunikation mit der Öffentlichkeit immer unterstützt. Ich hatte Zugang zu vielen Kanälen, um meine Ergebnisse innerhalb der Forschungsgemeinschaften weiterzugeben oder in Zeitungen, im Fernsehen und in Expertenforen zu verbreiten. Außerdem konnte ich stabile Verbindungen zu Praktiker*Innen und politischen Entscheidungsträgern aufbauen, die meine Erkenntnisse nun in politische Entscheidungen und Strategien zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit und zur Sicherung von Grundrechten einfließen lassen.

4. Was fällt Dir zuerst ein, wenn Du an die Zeit am MPI zurückdenkst?
Es sind drei Dinge, die das Institut ausgezeichnet haben: die vergleichende Analyse, der interdisziplinäre Fokus auf Recht und Ethnologie und die Möglichkeit, nicht nur akademische Debatten voranzutreiben, sondern auch Wege zu finden, wie die Gesellschaft von den gewonnenen Erkenntnissen profitieren kann. Wenn wir die Relevanz unserer Disziplin steigern und kommende Generationen dazu inspirieren wollen, die aktuellen politischen, sozialen und praktischen Grenzen der Sozialwissenschaften zu erweitern, müssen wir nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander forschen, um Kooperationen zwischen Ethnolog*Innen zu schaffen, die sowohl an unterschiedlichen Themen als auch über die Grenzen der Disziplin hinweg und mit der Welt im Allgemeinen zusammenarbeiten. Das Institut bringt die größte Gruppe von Ethnolog*Innen zusammen, die ich je an einem Ort erlebt habe, aber gleichzeitig ist es keine von der Welt abgeschottete Blase. Stattdessen fördert es aktiv das Engagement der Mitarbeiter*Innen untereinander und mit der Welt.

5. Hast Du noch Kontakt zum MPI und wenn ja, welchen und zu wem?
Ich bin nach wie vor am MPI assoziiert, bin häufig dort und habe mehrere laufende Kooperationen, darunter eine Ausstellung im Landtag von Sachsen-Anhalt, die zeigt, wie Ethnolog*Innen Mikroanalysen nutzen können, um drängende globale Probleme anzugehen.

6. Woran forschst Du im Augenblick?
Ich arbeite derzeit an einer ethnographischen Monographie, die sich mit Wohnungslosigkeit und der Individualisierung von sozialem Leid beschäftigt. In den internationalen Menschenrechten sind Privatsphäre und Intimität Grundrechte. Die Privatsphäre umfasst die nicht-öffentliche Sphäre, die häusliche Sphäre, das Heim, die Familie und das Privatleben. Intimität umfasst unter anderem das Gefühls-, das Sexual- und das Innenleben des Einzelnen. Diese Rechte und ihr Schutz sind jedoch an die Vorstellung gekoppelt, dass die private Sphäre von der öffentlichen Sphäre durch die Wände der eigenen Wohnung getrennt ist. Viele Gesetze stützen sich auf diese Unterscheidung: Man denke nur an Gesetze im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und die Beschränkungen durch einstweilige Verfügungen, an Sorgerechtsgesetze, die Eltern ohne Wohnung das Sorgerecht für ihre Kinder verwehren, oder an Gesetze, die sexuelle Intimität, Selbstentblößen oder Waschen und sogar Schlafen in der Öffentlichkeit verbieten. Selbstbestimmtes Wohnen ist also eng mit Sicherheit und Wohlbefinden verbunden; es bietet den Raum, in dem man seinen grundlegenden Lebensbedürfnissen ohne Einmischung oder Überwachung nachgehen kann. Was aber passiert, wenn man kein Zuhause hat, keine Wände, die die Voraussetzungen für das Ausleben von Intimität schaffen? In meinem Buch gehe ich folgenden Fragen nach:
1. Wie erleben wohnungslose Menschen Privatsphäre und Intimität? Wie praktizieren sie Beziehungen und Familienleben? Was bedeuten Heimat, Sicherheit und Zugehörigkeit für sie?
2. Wie nehmen Wohnungslose ihre rechtlichen Möglichkeiten wahr und wie interagieren sie mit dem Staat und mit Dienstleistern? Ergreifen sie Maßnahmen, um ihre Rechte wahrzunehmen und den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen? Wenn nicht, welche alternativen Strategien entwickeln sie?
3. Wie wirken sich unterschiedliche politische und praktische Ansätze auf die Rechte von Wohnungslosen, auf ihre Privatsphäre und Intimität sowie auf ihre Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen, aus? Wird Intimität – und damit auch Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit – nicht als Grundbedürfnis angesehen? Entsteht durch die Bereitstellung von Dienstleistungen ein unbewusstes Vorurteil gegenüber Wohnungslosen als Menschen, die nicht die gleichen unmittelbaren Bedürfnisse oder Rechte haben wie andere, oder ist etwas anderes im Spiel? Das Buch zeigt, in welchem Ausmaß die europäischen Gesellschaften soziales Leid individualisiert haben, indem sie versuchen, die ihnen Anvertrauten in die Verantwortung zu nehmen und den Eindruck von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Wohnungslosigkeit ermöglicht einen Blick auf die Folgen, die der Abbau, die Auslagerung und die Zersplitterung der öffentlichen Sozialleistungen mit sich bringen, die in den letzten zehn Jahren in ganz Europa zu beobachten waren. Sie ermöglicht es außerdem, die Folgen der Veränderungen des demokratischen Gesellschaftsvertrags zu untersuchen, der sich weg von der Fürsorge (auf Seiten des Staates) und hin zur Eigenverantwortung (auf Seiten der Bürger) bewegt. Am Beispiel Deutschlands untersucht mein Buch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Staaten und ihren Verpflichtungen zur Garantie grundlegender Menschenrechte auf der einen Seite und den gefährdeten Gruppen, die unter ihre Rechtsprechung fallen, aber nicht in den Genuss ihres Schutzes kommen, auf der anderen Seite.

7.    Was planst Du in der Zukunft?
Bei meiner früheren Forschung bin ich durch meine wohnungslosen Forschungspartner*Innen auf eine der großen unausgesprochenen Wahrheiten der Gefängnis- und Haftforschung aufmerksam geworden: Es gibt Menschen, die ins Gefängnis wollen. Während die Logik von Gefängnissen als Orte der Bestrafung seit langem ein Thema von wissenschaftlicher und politischer Bedeutung ist, wurde der Rolle von Gefängnissen als Orte der Chancen weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei sind Gefängnisse auch Orte, an denen Menschen versuchen, ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und ihre soziale Teilhabe zu verbessern, sich mit ihren Familien zu vereinen und einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Wenn Gefängnisse eine Möglichkeit bieten, psychosoziale Betreuung in Anspruch zu nehmen und Formen des Mangels zu entkommen, dann zeigt uns dies nicht in erster Linie etwas über Gefängnisse als Betreuungseinrichtungen, sondern vielmehr über die Gewalt, die bestimmte Personengruppen außerhalb von Gefängnissen erleben, und über ihre Erfahrungen mit den Konsequenzen dieser Erlebnisse. Diese Forschung erfordert theoretische und empirische Innovationen, um das traditionelle akademische Verständnis von Verbrechen, Strafe und sozialer Sicherheit zu überwinden und die einschränkenden Auswirkungen von sozialem Leid zu thematisieren. In meiner kommenden Arbeit werde ich mich daher darauf konzentrieren, eine neue Perspektive zum Thema Betreuung und Freiheitsentzug zu entwickeln. Mit Hilfe eines vergleichenden Ansatzes hoffe ich, lokale Prozesse der Fürsorge und des Freiheitsentzugs empirisch mit neuen Formen der Bestrafung und Kriminalisierung insbesondere von gefährdeten Gruppen in Verbindung zu bringen.
Ein weiterer Eckpfeiler meiner Forschung wendet sich nach innen und befasst sich mit unserer Disziplin, mit der Verbindung zwischen ethnographischer Unberechenbarkeit und institutionellen Anforderungen und damit, wie wir uns in der Forschung, in der Wissenschaft und an der Universität bewegen. Ich frage, was Ethnolog*Innen und Institutionen tun können und sollten, um gewalttätige Strukturen zu hinterfragen und zu entlarven, Schaden zu verhindern, wo es möglich ist, und Unterstützung anzubieten, während sie die Unvorhersehbarkeit menschlicher Interaktionen anerkennen. Ich verfolge einen feministischen und dekolonialen Ansatz und arbeite eng mit Wissenschaftler*Innen und Studierenden zusammen, um diese Vision einer engagierten, verantwortungsvollen Wissenschaft zu verwirklichen.

8. Was kann die Ethnologie besser als andere Sozialwissenschaften?
Ich glaube, was unsere Disziplin heute rechtfertigt, ist die einzigartige Fähigkeit, klassische ethnologische Aktivitäten wie lokale Feldforschung mit neuen globalen Fragen und dringenden Problemen unserer Zeit zu verbinden. Für mich ist die Ethnologie eine Lebensweise, die die Bereitschaft einschließt, vorgefasste Meinungen zu untersuchen, zu hinterfragen, das eigene Selbst nicht in den Mittelpunkt zu stellen und Fragen aus einer Vielzahl von Blickwinkeln zu betrachten.

9. Was würdest Du heutigen Studierenden der Ethnologie raten?
Die Ethnologie ermöglicht es uns, die Bedingungen, unter denen Menschen auf der Welt leben, in ihrer ganzen Vielfalt zu erforschen. Indem wir Menschen lange in ihrem Alltag begleiten, erhalten wir nicht nur ein tieferes Verständnis für die Erfahrungen der Menschen, sondern auch neue Einsichten in die Grenzen und Möglichkeiten der vergleichenden Analyse und wie wir in unserer Welt dauerhaft zusammenleben können. Die Ethnologie ist ein Werkzeugkasten, keine Zwangsjacke. Daher möchte ich die Studierenden ermutigen, viel zu lesen, sich selbst zu analysieren, alles in Frage zu stellen – auch die eigenen Überzeugungen – und zu versuchen, ihre eigenen Spuren in der Disziplin zu hinterlassen.

10. Welcher Text – Buch oder Artikel – hat Dich in letzter Zeit beeindruckt?
Ein Text, den ich kürzlich gelesen habe, ist Cheryl Mattinglys "Defrosting concepts, destabilizing doxa: Critical phenomenology and the perplexing particular", in: Anthropological Theory 19(4): 415–439 (2019). Sie fragt, wie die Sozialwissenschaften genau die Begriffe problematisieren können, die ihre eigenen Grundlagen bilden, sobald sie kanonisch geworden sind, und sie bietet einen phänomenologischen Ansatz zur Kritik von Begrifflichkeiten an.

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