Beyond Autochthony Discourses: Sherbro Identity and the (Re-)Construction of Social and National Cohesion in Sierra Leone

Anaïs Ménard
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
30.06.2015

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Jacqueline Knörr
Prof. Dr. Wilson Trajano Filho
Prof. Dr. Burkhard Schnepel

OPAC

German Summary | Deutsche Zusammenfassung

Feldforschungsgebiet und Kontext

Die Arbeit thematisiert die Rolle einer spezifischen Identität in lokalen und nationalen Integrationsprozessen, die als Reaktionen und Anpassungen an Machtverhältnisse zwischen sozialen Gruppen verstanden werden. Hierzu untersuche ich die Sherbro-Identität, die aufgrund ihrer besonderen Geschichte eine wichtige Rolle als Mediationskraft in interethnischen und ländlich-urbanen Beziehungen spielt.

Meine Feldforschung führte ich über einen Zeitraum von sechzehn Monaten zwischen März 2011 und Juli 2012 auf der Freetown Peninsula in Sierra Leone durch. Auf dieser Halbinsel  findet sich ein sehr spezifisches Sozialgefüge: zum einen ist es eine Randregion der Hauptstadt Freetown, zum anderen herrscht ein eher ländlichen Charakter vor, da die Region  aus mehreren Küstenorten besteht, deren wirtschaftliche Grundlage die Fischerei ist. Historisch gesehen war die Halbinsel Teil der Kolonie Freetown, einem kleinen Territorium unter direkter britischer Herrschaft. Der  Rest Sierra Leones hingegen war britisches Protektorat. Heute sind Freetown und die Freetown Peninsula Teil der Western Area, die sich in die beiden Distrikte Western Area Urban (Freetown und seine Umgebung) und Western Area Rural (die Freetown Peninsula) teilt. Im Rahmen meiner Feldforschung habe ich die Freetown Peninsula als eine physische und soziale Einheit gefasst. Die Feldforschung wurde in verschiedenen Küstenorten durchgeführt.

Die Feldforschungsorte umfassen sowohl Sherbro- als auch Krio-Siedlungen. Diese Unterscheidung reflektiert die besondere koloniale Geschichte der Freetown Peninsula. Erstere wurden vorgeblich von den Sherbros gegründet, die sich dort als autochthone Bevölkerung verstehen. Letztere wurden von befreiten afrikanischen Sklaven (den sogenannten Liberated Slaves) gegründet, die im 19. Jahrhundert von Sklavenschiffen befreit und in der Kolonie angesiedelt wurden. Drei der untersuchen Siedlungen haben sowohl einen Krio- als auch einen Sherbro-Ortsteil.

Zudem wurde die Freetown Peninsula sowohl während des Bürgerkrieges in Sierra Leone (1991-2002) als auch im Anschluss an den Konflikt zu einem wichtigen Zuwanderungsziel. Viele Menschen aus dem Inland zogen auf der Suche nach neuen wirtschaftlichen Chancen, insbesondere in der Fischerei, dorthin. Einige Siedlungen erfuhren einen so großen Zustrom an Migranten, dass diese dort nun die Mehrheit der Bevölkerung bilden und die örtliche Sherbro-Bevölkerung fürchtet, von den neuen Zuwanderern dominiert und überstimmt zu werden. Dies hat zu Autochthoniediskursen Anlass gegeben und zu Spannungen zwischen der lokalen Sherbro-Bevölkerung und den Zuwanderern geführt, die mehrheitlich der Gruppe der Temnes angehören. In einigen wenigen Siedlungen vermochten die Zuwanderer mittlerweile politische Führungspositionen aus ihren eigenen Reihen zu besetzen. Die Sherbros sind auf der Freetown Peninsula inzwischen zur ethnischen Minderheit geworden und führen mit zunehmendem Nachdruck einen Diskurs, der ihren Status als Autochthone gegenüber anderen Bevölkerungen hervorhebt und der im Zusammenhang des sozialen Miteinanders und in politischen Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle spielt. Die vorliegende Arbeit analysiert die zunehmende Bedeutung des Autochthonie-Diskurses mit Blick auf die damit verbundenen Integrationsmechanismen zwischen Gruppen. Sie untersucht die lokalen Inkorporationsmechanismen, mittels derer Migranten in lokale Gemeinschaften integriert werden und erklärt die Zunahme von Autochthoniediskursen mit den begrenzten Möglichkeiten dieser Mechanismen in einem durch Migration gekennzeichneten gesellschaftlichen Kontext. Es wird beleuchtet, wie diese Mechanismen kontinuierlich verändert und an neue Umstände angepasst werden. Die Resilienz lokaler Modi der Integration im Autochthoniekontext verdeutlicht die Komplexität der Intergruppenbeziehungen.

Ausgehend von der Analyse lokaler Integrationsmechanismen zeige ich die grundlegende Rolle auf, welche die Sherbro-Identität für die soziale Kohäsion und die Konstituierung der Nation als Ganzes besitzt. Das soziale Leben mag von Exklusionsdiskursen durchsetzt sein, dennoch sind ethnische Identitäten weiterhin verhandelbar und flexibel. Individuen verknüpfen verschiedene ethnische Kategorien mit bestimmten sozialen Welten. Die Sherbro-Identität fungiert zudem als Brücke zwischen Identitäten, die sonst als inkompatibel betrachtet werden – eine Eigenschaft, die besonders im Kontext der Nachkriegszeit und der nationalen (Re-)Integration wichtig ist.

Theoretischer Rahmen

Die vorliegende Arbeit nimmt die jüngste Literatur, die die Zunahme von Autochthoniediskursen als das Resultat einer Kombination von Faktoren im Kontext globaler Prozesse der Demokratisierung und Dezentralisierung interpretiert (siehe Geschiere 2009; Geschiere und Ceuppens 2005; Geschiere und Jackson 2006) zum Ausgangspunkt. Mit der Fokussierung auf die Untersuchung lokaler Mechanismen im Umgang mit Alterität möchte ich hierzu eine alternative Perspektive entwickeln. Eine Politik der Autochthonie, im Sinne rechtlicher Privilegien für Autochthone, hat eine lange Tradition in der Region der Oberen Guineaküste, wo politische und Landnutzungsrechte weiterhin auf der Unterscheidung zwischen Erstangekommenen (firstcomers) und späteren Zuwanderern (latecomers) beruhen.1 Beziehungen zwischen firstcomers-Gruppen (die auch als landlord oder host bezeichnet werden) und newcomers-Gruppen (auch als strangers oder guests bezeichnet) folgen spezifischen Mustern der Reziprozität. In der landlord/stranger Reziprozität sind gegenseitige Verpflichtungen institutionalisiert. Newcomers stellen sich unter die Autorität eines lokalen landlord, der ihnen gegen die Gewährung von Respekt und Loyalität Land zuweist und Schutz bietet. Diese Beziehung folgt matrilateralen Verwandtschaftsbeziehungen, die eine Hierarchie zwischen lineages der firstcomers (bzw. Frauengeber) und lineages der latecomers (bzw. Frauennehmer) etabliert (Murphy und Bledsoe 1987).

Die landlord/stranger Reziprozität konstituiert ein soziales System, in dem Integration durch die Konstruktion von Differenz erzielt wird (cf Schlee 2001). Es ist ein dynamisches soziales Muster, das den Umgang mit dem Anderen (Otherness) sowie die zunehmende Inkorporation verschiedener Typen von newcomers ermöglicht. Beziehungen zwischen firstcomers und latecomers unterliegen ständiger Neuverhandlung und können bei Ankunft neuer Gruppen neu bewertet werden (Lentz 2006; Lund 2008). Soziale und ethnische Zugehörigkeiten sind also flexibel. Historisch betrachtet erlaubte das Modell der landlord/stranger Reziprozität die Entstehung multi-ethnischer Gemeinwesen und fließender ethnischer Identitäten (Knörr und Trajano Filho 2010). Ethnologen, die in der Region arbeiten, haben immer wieder festgestellt, dass es relativ leicht ist, mittels der Ausstattung mit bestimmten Merkmalen die Mitgliedschaft in einer ethnischen Gruppe zu erwerben.

In der vorliegenden Arbeit argumentiere ich, dass Autochthoniediskurse dann auftreten, wenn lokale Integrationsmechanismen versagen, für den Erhalt sozialer Beziehungen notwendige Reziprozitätskanäle wegfallen und Alterität als nicht verhandelbare Differenz betrachtet wird. Das heißt, Autochthonie wird ins Spiel gebracht, wenn soziale Kategorien in Bezug auf Reziprozität nicht mehr flexibel genug sind, um Angehörige anderer Kategorien  einzubeziehen.

In Autochthoniediskursen beruht die Zurückweisung von Alterität oft auf den gewohnten Standards sozialer Integration. So argumentieren Akteure, die sich als Autochthone verstehen, dass Fremde die Regeln des Systems der Reziprozität brächen, und befürworten folglich deren politische und soziale Exklusion. Dies weist auf eine Verschiebung der sozialen Beziehungen hin: von der landlord/strangers-Reziprozität als System zum Umgang mit den jeweils Anderen  hin zu Autochthonie als Prozess des Othering. Die Rechte der firstcomers sind oftmals auch Merkmale einer bestimmten ethnischen Identität. Im Kontext  politisierter Autochthonie nehmen ethnische Identitäten, die zuvor flexibel und verhandelbar waren, oft den Charakter einer starren Definition von Zugehörigkeit an, die der Abgrenzung und Ausgrenzung der jeweils Anderen dient.

Die vorliegende Arbeit betrachtet Modalitäten, Beschränkungen und Veränderungen von lokalen Inklusionsmechanismen, die es in eher friedlichen Zeiten erlauben, Alterität zu verhandeln. Sie geht der Frage nach, wie diese Mechanismen funktionieren, warum sie versagen und wie und warum man sich in Autochthoniediskursen auf ‚Integrationsstandards’ beruft. Eine Rhetorik der Autochthonie stellt – jenseits der puren Zurückweisung des ‚Fremden‘ – häufig den Versuch dar, die Modalitäten der sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen neu zu definieren. Zudem können Autochthonie und Ethnizität gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen genutzt werden. So kann man etwa auf der politischen Bühne ‚Fremde‘ erschaffen, während man gleichzeitig im alltäglichen Miteinander Differenz bewältigt und integriert. Die Beobachtung von Inkorporationsprozessen liefert Erkenntnisse darüber, wie im Rahmen neuer Migrationskontexte bekannte Inkorporationsmechanismen verändert und angepasst werden.

Die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen in einer postkonfliktären Zuwanderungssituation bieten wertvolle Einblicke in Prozesse der Identitätskonstruktion und gesamtgesellschaftlichen (Re-)Integration. In der Literatur wird Ethnizität oft als Faktor nationaler Fragmentierung beschrieben (Højbjerg et al. 2013). Der hier präsentierte Fall zeigt jedoch, dass eine spezifische (ethnische) Identität insbesondere mit Blick auf die Konstruktion der (ethnisch heterogenen) Nation eine zentripetale integrative Kraft sein kann. Ich verstehe nationale und ethnische Identitäten als ‚imagined communities‘, die auf einem gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühl basieren (Anderson 1982). Den Begriff Nation verwende ich für die gelebte Erfahrung der Nation, die aus lokalen Integrationsprozessen und transethnischen Zugehörigkeiten entsteht. Lokale Konzeptualisierungen nationaler Identität entstehen durch soziale Interaktionen im lokalen Kontext. Die Sherbro-Identität dient hierbei als Brücke zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Kategorien. Dieser Prozess steht im Kontrast zur Autochthonie-basierten Exklusionsrhetorik und verweist auf  lokale Reziprozitätspraktiken.

Mein Ansatz lehnt sich an Konzepte ethnischer Identität als historisches Konstrukt (Amselle und M’Bokolo 1999; Lentz 1995; Spear 2003; Vail 1989) und als soziale Praxis (Donahoe et al. 2009; Eriksen 2002; Hutchinson und Smith 1996; Jenkins 1997) an. Um sowohl die Komplexität wie auch die spezifische Ausprägung der Sherbro-Identität besser erfassen zu können, betrachte ich drei Dynamiken, die für die Konstruktion ethnischer Identität von herausragender Bedeutung sind: 1) Zeit – die Konstruktion ethnischer Kategorien über Zeiträume hinweg, was sowohl Fremdzuschreibungen als auch Selbstzuschreibungen umfasst; 2) Sprache – die Fähigkeit von Individuen, ethnische Kategorien sozial zu praktizieren und sie mit Bedeutung auszustatten; und 3) Macht – die Art und Weise, wie ethnische Kategorien mit historischen und aktuellen Machtbeziehungen assoziiert werden. Diese drei Dynamiken haben zu einem bestimmten Zeitpunkt Anteil an der Konstruktion einer ethnischen Gruppe. Mittels dieses Ansatzes kann aufgezeigt werden, wie ethnische Grenzen durch soziale Praktiken durchbrochen werden können.

Soziale und ethnische Kategorien verstehe ich dabei als Sprachregister (Agha 2004), die durch historische Prozesse konstituiert werden, in täglichen Interaktionen zu bestimmten Zwecken benutzt werden und die Machtbeziehungen widerspiegeln und verstärken (Blommaert 2005).

Die Sherbro-Identität stellt eine intermediäre soziale Kategorie dar, die an der Schnittstelle mehrerer Identitäten situiert ist, von denen einige als sich gegenseitig ausschließend angesehen werden. Individuen, die sich selbst als Sherbros bezeichnen, haben die Möglichkeit, sich verschiedene ethnische Zugehörigkeiten zuzuordnen, obgleich diese in einigen Kontexten antagonistisch erscheinen mögen.

Zum einen ist die Sherbro-Identität durch soziale Dualität gekennzeichnet: sie wird als ursprünglich sierra-leonisch angesehen und steht gleichzeitig in enger Verbindung mit der Krio-Identität, die eine besondere Stellung in der sierra-leonischen Gesellschaft einnimmt. Die Gruppe der Krios entstand durch Integrationsprozesse zwischen verschiedenen Siedlergruppen und befreiten Sklaven (Liberated Slaves), die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in der Kolonie Freetown beheimateten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten die Krios eine eher exklusive Gruppe. Viele unter ihnen hatten Zugang zu Bildung und die Mehrheit war christianisiert. Die britische Kolonialverwaltung erwartete von den Krios, christliche Werte zu übernehmen, einen europäischen Lebensstil zu führen, afrikanische Traditionen abzulegen und so den autochthonen Afrikanern als Vorbild zu dienen. Krios passten sich dem europäischen Lebensstil weitgehend an und pflegten als ‚zivilisiert‘ erachtete Werte und Gewohnheiten (Cohen 1981; Spitzer 1974). Ihre Identität basierte auf kultureller Besonderheit und diente der Abgrenzung gegenüber indigenen Gruppen, den sogenannten ‚natives‘. Auf der Freetown Peninsula  jedoch entwickelten Krios und Sherbros seit dem 19. Jahrhundert – seitdem befreite Sklaven dort neue Siedlungen gründeten – enge soziale und Verwandtschaftsbeziehungen. Heiraten zwischen beiden Gruppen waren verbreitet. Der langfristige soziale und wirtschaftliche Kontakt zwischen Krios und Sherbros erklärt, warum Letztere entsprechend ihrer eigenen Interessen an der  Krio-Kultur partizipieren können. Sherbro- und Krio-Familien sind oft miteinander verwandt und Sherbros können beide Identitäten in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation nutzen. Sherbros stehen zwar in enger Beziehung zu den Krios, anders als diese werden sie jedoch als autochthone sierra-leonische Gruppe angesehen. Sherbros nehmen damit eine Position zwischen ländlichen ‚natives‘ und urbanen Krios ein.

Sherbro-Identität kann (auch historisch) zu verschiedenen ethnischen Identitäten in Bezug gesetzt werden. Sherbros koexistierten und koexistieren mit etlichen ethnischen Gruppen, darunter den Mendes und Temnes. Das Verwandtschaftssystem der Sherbros, das matrilineare Verbindungen vorrangig behandelt, erlaubt die Integration verschiedener Typen von Fremden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das landlord/stranger Reziprozitätsmodell der Sherbro-Gesellschaft von jenem der patrilinearen forest societies der Oberen Guineaküste. Historisch betrachtet bewirkte der ‚matrilineare bias‘ der Sherbro-Gesellschaft, dass es weißen Fremden und ihren Kindern möglich war, in einflussreiche soziale Positionen aufzusteigen und afro-britische lineages an der Küste zu etablieren (Brooks 2003; Day 1983; Hoffer 1971; Rodney 1970).

In Sherbro-Gemeinschaften werden Gruppenidentität und soziale Rechte weiterhin über die Frauen weitergegeben (Day 1983:84). In Folge können gruppenfremde Männer (und deren Nachkommen) die Sherbro-Identität durch Heirat erlangen und/oder indem sie sich Sherbro-spezifischen Integrationsmechanismen unterwerfen, sich etwa der Initiation in die lokale Geheimgesellschaft unterziehen und sich am Fischfang beteiligen. Das landlord/stranger Reziprozitätsmodell erweist sich hierbei als sehr integrativ und legt auch keine langfristigen Hierarchien zwischen den lineages der firstcomers und latecomers entlang matrilateraler Verwandtschaftsverhältnisse fest. Dies rückt den Begriff der Transformation (Sarró 2010) ins Rampenlicht: der Prozess, durch den jemand zum Sherbro wird, ist eine wichtige Dimension der individuellen Identität, ebenso wie die lokalen Integrationsmechanismen, die eine Transformation der Identität erlauben, wie etwa Heirat oder Initiation.

Ethnographie und Ergebnisse

Die Arbeit umfasst fünf Kapitel und die Schlussbetrachtung. Das erste Kapitel steckt den theoretischen Rahmen ab, danach folgen die vier ethnographischen Kapitel. Diese behandeln die verschiedenen Wege, auf denen die Sherbros mit anderen Gruppen interagieren bzw. diese integrieren, während sie selbst ihren Status als firstcomers ausbauen. Das letzte Kapitel enthält die Schlussbetrachtung.

Kapitel II mit dem Titel „Sherbro/Krio-Siedlungen und ihre oralen Traditionen: die historische Konstruktion von Verwandtschaftsbegriffen“ untersucht Intergruppenbeziehungen als Ergebnisse historischer Prozesse. Das Kapitel stellt orale Traditionen aus Sherbro- und Krio-Siedlungen vor. Die Betonung liegt dabei auf historischen Erzählungen, die ich als offizielle Versionen der Gruppengeschichte verstehe, und die u.a. dazu dienen, gegenwärtige Machtverhältnisse zu legitimieren. Es wird dargelegt, wie die Sherbro mittels oraler Traditionen ihre Autochthonie und die daraus resultierenden Rechte gegenüber anderen Bevölkerungen rechtfertigen.

Orale Traditionen zeigen, wie die Sherbros ihre historischen und gegenwärtigen Beziehungen zu unterschiedlichen Gruppen von Fremden konzeptualisieren. Sherbros unterscheiden dabei zwischen zwei Arten von Interaktionen: Sherbro/Krio-Beziehungen einerseits und Beziehungen zwischen Sherbros und Migranten aus dem Inland andererseits. Während Beziehungen zu Zuwanderern hierarchisch und konkurrenzbetont sind, erscheinen die Sherbro/Krio-Beziehungen gleichberechtigt und kooperativ. Diese Unterscheidung wird deutlich in der Art und Weise, wie Verwandtschaftsbeziehungen in der oralen Geschichte dargestellt werden. Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sherbros und Migranten beinhalten eine Hierarchie zwischen hosts und strangers. Von Fremden und deren Nachfahren wird erwartet, dass sie die Sherbro-Identität annehmen, indem sie ihre frühere ethnische Identität aufgeben und sich lokalen Integrationsregeln unterwerfen, was Heirat, Initiation in die lokale Geheimgesellschaft und das Betreiben von Fischerei als Lebensunterhalt einschließt. Im Gegensatz dazu werden Sherbros und Krios als Mitglieder derselben Familien dargestellt, was  keine Unterordnung im Sinne der host/stranger-Beziehung impliziert.

Verwandtschaft dient auch als Idiom für weitergefasste soziale Beziehungen. Kopytoff (1977) folgend sehe ich die Freetown Peninsula als Siedlungszone an, innerhalb derer verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Bewohnern bestehen. Krios und Sherbros gehören zu einer Siedlungszone, die auf Matrifokalität basiert. Historische Interaktionen zwischen den beiden Gruppen folgten jedoch nicht dem typischen host/stranger Muster der Integration, das eine Assimilation der Fremden an die lokale Gemeinschaft verlangt. Stattdessen integrierten sich beide Gruppen im Verlaufe der Zeit innerhalb einer gemeinsamen Zone, in der jede Gruppe ihre eigene ethnische Identität beibehielt. Die Sherbro/Krio-Siedlungs- (und Verwandtschafts-) Zone basiert auf der räumlichen und sozio-politischen Trennung von Krio- und Sherbro-Siedlungen und einer hohen Mobilität zwischen den Siedlungsgebieten. Es sind vor allem Matrifokalität (Tanner 1974) einschließlich der zentralen Rolle von Frauen in Krio- und Sherbro-Gesellschaften, welche in dieser Zone die Sherbro/Krio Familiennetzwerke miteinander verbinden.

Im Vergleich zu den Verbindungen zu den Krio werden die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sherbros und Migranten, insbesondere den Temnes, in der oralen Tradition als eher problematisch dargestellt. Eine mögliche Konkurrenz findet hierbei Erwähnung und die Sorge, dass die Migranten eine Vorherrschaft ihrer eigenen lineages beabsichtigen könnten. Dies spiegelt gegenwärtige Bedenken hinsichtlich der Integration neuer Migranten wider. Fremde aus der Gruppe der Temnes werden oft verdächtigt, sich der lokalen Führung und der Initiation ihrer Kinder in die lokalen Geheimgesellschaften zu widersetzen. Das host/stranger-Integrationsmodell und die damit verbundenen Mechanismen, welche der völligen Integration von Fremden dienen sollen, werden durch das erhebliche Migrationsaufkommen immer wieder in Frage gestellt.

Kapitel III „Performanzen des ‚zivilisierten Menschen‘: die Navigation der sozialen Kategorien Krio und kɔntri“ betrachtet die Performanzen sozialer Dualität. Die Sherbro-Identität hat eine vermittelnde Position in der Gesellschaft Sierra Leones inne, die lange von der kolonialen Dichotomie zwischen Krios einerseits und Einheimischen andererseits geprägt war. Diese distinkte soziale Position findet ihren Ausdruck in der Bezeichnung der Sherbros als civilayzd, ein Kriowort, abgeleitet vom englischen ‚civilised‘. Der Begriff civilayzd weist auf den höheren sozialen Status der Sherbro hin, der mit dem Lebensstil der Krios assoziiert wird. In Verbindung mit den Sherbro wird dadurch ihr autochthoner Status jedoch nicht in Frage gestellt. Es ist ein Konzept, mittels dessen zum einen die eigene Autochthonie hervorgehoben und zum anderen soziale Abgrenzung gegenüber Neuankömmlingen verdeutlicht werden kann. Das Kapitel untersucht wie die semiotischen Register Krio und kɔntri (einheimisch, abgeleitet von ‚country‘) in den sozialen Interaktionen der Sherbros mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Verwendung finden. Die individuelle und kollektive Umsetzung sozialer Dualität wird analysiert, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Sherbro-Individuen sowohl als Krios als auch als kɔntri auftreten können. Die Krio-Dimension der eigenen Identität ist ein wichtiger Aspekt in den persönlichen Narrativen der Sherbros, die bestimmte Sozialisationspraktiken, Bildung und das Christentum als krioische Merkmale ihrer Identität hervorheben. Mechanismen des Verbergens und Enthüllens der einen oder anderen Identität sind abhängig von dem jeweiligen Publikum. Im gegenwärtigen Migrationskontext steht die Navigation zwischen Krio- und kɔntri-Registern in enger Verbindung zur Anwesenheit von Migranten aus dem Landesinneren. Krio-Eigenschaften und -Verhaltensweisen dienen der sozialen Abgrenzung, während kɔntri-Embleme den Autochthonieanspruch untermauern.

Darüber hinaus untersuche ich rituelle Praktiken, da diese einen bevorzugten Bereich für Statements zur ethnischen Identifikation darstellen. Analysiert wird, wie Akteure sowohl in Krio- wie auch Sherbro-Siedlungen ganz bewusst bestimmte religiöse Aspekte in Ritualen betonen, um sich selbst als Krio oder kɔntri darzustellen. Krios und Sherbros haben sich hinsichtlich ihrer kulturellen Praktiken gegenseitig beeinflusst –  Sherbros durch die Übernahme des Christentums und Krios durch die Einbindung afrikanischer spiritueller Glaubenspraktiken in ihre Rituale. Über Rituale werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Gruppen zum Ausdruck gebracht und umgesetzt. Rituale sprechen die Sherbro/Krio-Gemeinschaft in besonderer Weise an, da über deren gemeinsame Ausführung die residenzbezogene (Verwandschafts-)Zone der Sherbro/Krio umgesetzt und Netzwerke der Sozialität untermauert werden. Dennoch bleiben Rituale auch ein wichtiger Aspekt der Differenzierung zwischen Sherbros und Krios, da jede Gruppe weiterhin an ihren spezifischen religiösen Bezügen festhält.

Kapitel IV „Dynamiken der Mitgliedschaft in Geheimgesellschaften: die Untersuchung von Diskursen und Reziprozitätspraktiken“ untersucht die Rolle lokaler Geheimgesellschaften in der Etablierung von Reziprozitätsbeziehungen zwischen Gruppen. „Geheimgesellschaften“ bezeichnen geschlechtsspezifische Sodalitäten, die entlang der Oberen Guineaküste sehr verbreitet sind, insbesondere Poro für Männer und Bondo für Frauen. Es handelt sich dabei um soziopolitische und religiöse Institutionen mit Initiationsriten. Andere Formen von Sodalitäten, die auf Yoruba-Riten zurückgehen, wurden von befreiten Sklaven im 19. Jahrhundert in Sierra Leone eingeführt, z.B. die Hunting Society, der beide Geschlechter angehören. Ich untersuche die Diskurse zur Mitgliedschaft in diesen Geheimgesellschaften und zeige, wie diese in Bezug auf Reziprozität zwischen hosts und strangers gerahmt werden. Initiationen in lokale Geheimgesellschaften sind oftmals Teil des Integrationsprozesses, durch den Fremde in die lokalen Gemeinschaften aufgenommen werden. Die Initiation ist auch Kriterium ethnischer Zugehörigkeit. Der Fokus der Betrachtung liegt also auf Mitgliedschaftsdiskursen als integrativen Prozessen, die üblicherweise mit der host/stranger-Beziehung assoziiert werden. Mitgliedschaft erscheint dabei als Gabe: als Gegenleistung für die Bereitschaft zur Initiation wird ein äquivalenter Gefallen erbracht (cf. Mauss 1990).

Muster der Mitgliedschaft reflektieren vergangene und gegenwärtige Reziprozitätsbeziehungen zwischen Gruppen. Die Mitgliedschaft in Geheimgesellschaften folgt verschiedenen Modalitäten, dies abhängig davon, ob sie Sherbro/Krio oder Sherbro/Migranten-Beziehungen betreffen. Sherbro/Krio-Beziehungen basieren auf Dynamiken doppelter Mitgliedschaft. In Krio-Siedlungen ist die Hunting Society zu finden und in Sherbro-Siedlungen sind es die Poro und/oder Bondo-Gesellschaft. Mitgliedschaft in der Geheimgesellschaft der eigenen Siedlung ist auch ein Merkmal ethnischer Identität. Sie unterscheidet Krio- und Sherbro-Gebiete entlang ritueller Grenzen. Dennoch haben die Siedlungen auf der Freetown Peninsula eine lange Tradition doppelter Mitgliedschaft. Individuen werden dabei üblicherweise zunächst Mitglied der Geheimgesellschaft in ihrer eigenen Siedlung und gehen später eine zweite geheimgesellschaftliche Affiliation ein. Im Verlaufe ihres Lebens können Sherbros also auch der Hunting Society beitreten und Krios können Mitglieder von Poro/Bondo werden. Diese Dynamiken laufen im Rahmen reziproker Verpflichtungen und Austauschbeziehungen ab. Sherbros und Krios ‚tauschen‘ Mitgliedschaften ‚aus‘: der Eintritt in die Geheimgesellschaft einer anderen Gruppe wird als Gefallen zurückgegeben, wenn ein Mann der betreffenden anderen Gruppe in die betreffende eigene Geheimgesellschaft eintritt. Doppelte Mitgliedschaften verstärken auch Familienverbindungen und dienen dazu, soziale Beziehungen in der Sherbro/Krio-Siedlungszone zu entwerfen, zu reaktivieren und umzusetzen.

Integrationsmechanismen durch Initiation stellen sich im Falle der Migranten anders dar. Im Zuge ihrer reziproken Verpflichtungen gegenüber ihren hosts wird von Migranten erwartet, Mitglied in der lokalen Geheimgesellschaft zu werden. Im Unterschied zu den reziproken Sherbro/Krio-Beziehungen, in denen jede Gruppe ihre eigene Identität beibehält, wird von Migranten verlangt, dass sie im Zuge ihrer Initiation in die Poro-Geheimgesellschaft ihre bisherige ethnische Identität aufgeben. Sherbros erwidern dies mit sozialen Verpflichtungen ihrerseits – z.B. durch Schutz und durch Zugang zu Land. Mitgliedschaftsmuster sind auch in Relation zu den in Kapitel II behandelten Verwandtschaftsidiomen zu sehen. Initiation erlaubt es den Sherbros, die Autorität über ihre eigenen lineages zu behalten, um politische oder rituelle Konkurrenz zu verhindern. Sie erleichtert aber auch die Eingliederung von Fremden in lokale Gemeinschaften.

Integration durch Initiation, insbesondere von Migranten, hat jedoch durch den Anstieg der Migration an Bedeutung verloren. In den Nachkriegsjahren waren die Poro-Mitglieder mit einer neuen politischen Situation konfrontiert. Viele Migranten lehnen Initiationsriten, traditionelle Ritualpraktiken und eine durch die Poro-Mitgliedschaft legitimierte politische Autorität ab. In vielen Siedlungen fällt es Poro-Mitgliedern daher zunehmend schwerer, die politische Kontrolle zu behalten und rituelle Praktiken fortzuführen. In Folge wird versucht, die Geheimgesellschaften mittels kultureller Kommodifikation an die veränderten Umstände anzupassen. Poro-Mitglieder suchen daher nach neuen Umfeldern, z.B. im Tourismus, in denen sie rituelle Praktiken weiterhin pflegen und als neuen, mit Urbanisierung und ‚Modernität‘ kompatiblen, Integrationsmodus präsentieren können, der nicht zuletzt auch der Erschließung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten dienlich ist.

Kapitel V „Landdispute: die (Neu)Verhandlung von Indigenität gegenüber dem Staat“ betrachtet Landdispute als Form der Neuverhandlung der Sherbro-Beziehungen sowohl mit dem Staat als auch den Migranten. Das Kapitel untersucht die verschiedenen Varianten, das Gewohnheitsrecht in Bezug auf Landbesitz als Kennzeichen von Sherbro-Autochthonie und Indigenität zu nutzen. Auf der Freetown Peninsula sind die Beziehungen zwischen hosts und strangers und das Ausfechten von Landrechten zwischen verschiedenen Gruppen in einen rechtspluralistischen Kontext eingebettet. Rechtspluralismus definiert sich als die Koexistenz verschiedener normativer Ordnungen in einem politischen Raum (Benda-Beckmann und Benda-Beckmann 2006). Ich verwende das Konzept für die Koexistenz von Gewohnheitsrecht und staatlichem Recht in der Western Area und betrachte dessen Auswirkungen auf gegenwärtige Landdispute. Historisch gesehen existierten in der  Kolonie und dem Protektorat zwei unterschiedliche Rechtssysteme. Im Protektorat wurde das Gewohnheitsrecht neben dem englischen Recht beibehalten, da es den effizientesten Modus indirekter Herrschaft darstellte. In der Kolonie, einem Gebiet unter direkter Herrschaft, obsiegte das englische Recht. Bis heute werden deshalb in der Western Area, die zur Kolonie gehörte, seitens des Staates weder gemeinschaftliche Landpacht noch gewohnheitliche Landrechte anerkannt.

Obgleich das Gewohnheitsrecht vom Staat nicht anerkannt wird, spielen gewohnheitsrechtliche Argumente bis heute eine entscheidende Rolle in lokalen Landkonflikten. Hierbei werden Forderungen, die mit Autochthonie begründet werden, eng mit dem Merkmal der Indigenität verknüpft, also mit dem Argument, sich als indigene ethnische Gruppe auf Gewohnheitsrecht berufen zu dürfen, wenn es um gemeinschaftlichen Landbesitz geht. Insofern ist gewohnheitsrechtlicher Landbesitz ein Symbol von Sherbro-Indigenität. Sherbros und Migranten verhandeln ihre Beziehungen im Hinblick auf gewohnheitliches Pachtrecht und nutzen das kodifizierte Recht in eher strategischer und individueller Weise. Konflikte werden in Verknüpfung zu gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen dargestellt, die für die Beziehungen zwischen Landbesitzern (hosts) und Landnutzern (strangers) maßgeblich sind. In einer fortgesetzten landlord/stranger-Beziehung erlangen die Pächter der zweiten Generation erweiterte Eigentumsrechte. Migranten nutzen daher oft das Argument langfristiger Ansässigkeit, um ihre lokalen Rechte, einschließlich Landeigentum, durchzusetzen. Gewohnheitsrecht ist also sowohl für Migranten als auch für Sherbros weiterhin ein wichtiges Instrument, Eigentumsrechte an Land zu erlangen bzw. zu bewahren. Sherbros berufen sich auf ihr Recht auf ‚Gemeinschaftsland‘, um sowohl die Landansprüche von Migranten zu negieren als auch die Privatisierungspolitik des Staates aufzuhalten. Ich stelle mehrere Strategien vor, mittels derer die Sherbros Gemeinschaftsland bewahren, einschließlich der Nutzung offizieller staatlicher Mechanismen.

Das letzte Kapitel geht auf jene Punkte der Analyse ein, die die Verbindung zwischen lokalen und translokalen Integrationsprozessen betonen. Zwei Aspekte der Analyse sind von besonderer Bedeutung für die lokale Integration: die Rolle der matrilinearen Integrationsmuster der Sherbros bei der Eingliederung verschiedener Gruppen von Fremden und die besondere Beschaffenheit der Sherbro/Krio-Beziehung.

Die Fähigkeit der Sherbro-Identität zwischen verschiedenen sozialen und ethnischen Identitäten eine Brückenfunktion einzunehmen, macht sie besonders bedeutsam für übergeordnete Integrationsprozesse. Einerseits tritt die Sherbro-Identität als transethnische und neutrale Identifikation in Erscheinung. Die Rolle der Sherbro-Identität für transethnische Integrationsprozesse resultiert zum Teil aus ihrer Verbindung mit den Krios. Knörr (2010a; 2010b; 2014) betont das ‚Pidginisierungspotential‘ kreolischer Identität insbesondere für die nationale Integration: kreolische Kultur und Identität kann aufgrund ihrer heterogenen Wurzeln  Menschen unterschiedlicher Herkunft transethnisch verbinden. Auf ähnliche Weise ermöglicht der heterogene Charakter der Sherbro-Identität, die mit verschiedenen sozialen und ethnischen Kategorien assoziiert wird, transethnische Identifikation. Die Sherbro-Identität befördert Integration in zweierlei Weise. Erstens können Menschen unterschiedlicher Herkunft Merkmale der Krio-Identität annehmen. In einem heterogenen, ländlich-urbanen Kontext, der zunehmend von Migration geprägt ist, bedarf es transethnischer Identifikationen, die die Entstehung neuer sozialer Kontakte und Netzwerke erleichtern. Soziale Dualität wird dabei ein Vektor transethnischer Zugehörigkeit: Menschen unterschiedlicher Herkunft können die Sherbro-Identität flexibel nutzen, dafür Krio-Register verwenden und gleichzeitig ihre eigene, originäre Identität bewahren. Zweitens wird die Sherbro-Identität im Kontext politisierter Identitäten als neutral angesehen. Ähnlich wie kreolische Identitäten besitzt die Sherbro-Identität das Potential, die Entstehung gemeinsamer transethnischer Symbole zu befördern sowie zu einer nationalen öffentlichen Sphäre beizutragen, die auf lokalem Konsens basiert (cf. Eriksen 1998). Gerade hinsichtlich postkonfliktärer Reintegrationsprozesse, wie diese in Sierra Leone stattfinden, ist dies von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung.
 
Andererseits verdeutlichen lokale Modi der Integration die Bedeutung von Reziprozitätspraktiken zwischen Gruppen und ihre Relevanz für die (Wieder-)Herstellung sozialer Kohäsion. Es ist wichtig, die Bedeutung von Reziprozität wieder als zentralen Aspekt des sozialen Lebens anzuerkennen, auch (oder vielleicht gerade) in Zeiten lokaler Konflikte, in denen es darum geht, politische Entscheidungen im Sinne von (Re-)Integration zu treffen. Erkenntnisse über Reziprozitätsbeziehungen und -praktiken (einschließlich ihrer Defizite) zwischen Gruppen ermöglicht ein vertieftes Verständnis lokaler Konfliktdynamiken. Soziale Normen, die das host/stranger-Reziprozitätsmodell charakterisieren, bleiben auch in gegenwärtigen sozialen Repräsentationen der lokalen Gesellschaft von Bedeutung. Soziale Konflikte müssen daher historisiert und zu einem Kontinuum von sozialen Beziehungen in Bezug gesetzt werden, in denen diese Normen weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Im gegenwärtigen Kontext werden Reziprozitätsbeziehungen unterlaufen, wodurch aber auch ihre bedeutsame Rolle für die Schaffung sozialer Kohäsion verdeutlicht wird. Die Erosion ‚alter‘ Reziprozitätspraktiken hat signifikante Auswirkungen auf das soziale Leben und kann durch die Exklusion des Anderen zu Gewalt im Diskurs und in der Praxis führen. Die gegenwärtige Situation auf der Freetown Peninsula  zeigt, dass Reziprozitätspraktiken stark von Gruppengrößen abhängen (cf. Schlee 2008). Die starke Präsenz von Migranten beeinflusst soziale und kulturelle Integrationsstrategien. Bei der Entscheidung über politische Maßnahmen zur Konfliktlösung und nationalen Reintegration sollten daher diese langfristigen und lokalspezifischen Dynamiken zwischen Gruppen berücksichtigt werden.

1 Wo geeignete deutsche Übersetzungen für die Bezeichnung von Gruppen und Kategorien von Menschen fehlen, wird die englische Bezeichnung verwendet.

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