Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia

Dereje Feyissa
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
11.07.2003

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Richard Rottenburg
Prof. Dr. Günther Schlee

Findings of this PhD project resulted in the following publication within the series "Integration and Conflict Studies" - Berghahn Books (2011).
Playing Different Games.
The paradox of Anywaa and Nuer identification strategies in the Gambella Region, Ethiopia
Dereje Feyissa New York, Oxford: Berghahn Books

German Summary - Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation untersucht in einer vergleichenden Studie zweier ethnischer Gruppen, der Nuer und der Anywaa, die Vorstellung von einer ethnischen Gruppe als Form kollektiver Identität und bestimmt die Bedingungen, unter denen die ethnische Identität mobilisiert wird und wie dies zu Konflikten führt. Geographisch ist die Studie in der Region Gambela in West-Äthiopien angelegt, doch die angesprochenen Probleme, die beteiligten Akteure und der soziale Raum, in dem der Konflikt auftritt, gehen über den äthiopischen Staat hinaus (sowohl die Nuer als auch die Anywaa leben im Sudan) und sind eng mit den politischen Prozessen im benachbarten Südsudan verknüpft. Forschungsdaten wurden während einer 13 Monate dauernden systematischen Feldforschung in der Region Gambela und einem zweimonatigen Feldforschungsaufenthalt im Sudan und in Kenia gesammelt.

Die Forschung wurde vor dem Hintergrund der heute stattfindenden Explosion von Ethnizität als Fokus für die Identifizierung und für politische Aktivitäten weltweit, und der Eskalation ethnischer Konflikte besonders in Äthiopien begonnen, wo auch der Konflikt zwischen den Anywaa und den Nuer angesiedelt ist. Die Anywaa und die Nuer befinden sich in einem tödlichen sozialen Kampf um die Bestimmung ihrer Zukunft. In den Beziehungen zwischen Personen und zwischen Gruppen werden Freunde und Feinde mittels ethnischer Begriffe dargestellt, und Spannungen und Gewalt drücken sich in verschiedenen Bereichen der sozialen Interaktion aus, die sich von den Dörfern zu den Kirchen, von den Schulen zu den politischen Parteien erstrecken. Die Manifestierung der Gewalt reicht von der völligen Zerstörung von Dörfern bis zum Steine werfen in Schulen, von Übergriffen auf Minderjährige und auf öffentliche Verkehrsmittel bis zur Kreuzigung einzelner, um symbolisch eine Gruppe zu erniedrigen. In letzter Zeit hat der Konflikt gewalttätigere Formen angenommen, dazu gehören Bombenexplosionen, Massaker und der Umlauf aufrührerischer sogenannter ‚vertraulicher Papiere’, die die ethnische Feindseligkeit weiter anstacheln sollen.

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia

Das Forschungsgebiet der Ethnizität und der Studien des ethnischen Konflikts ist ein verworrenes Feld, das die höchste ‚Dichte’ theoretischer Polemik aufzeigt. Es gibt zwei theoretische Hauptansätze, die beide auf einer idealtypischen Definition einer ethnischen Gruppe aufbauen. Diese werden in der Fachliteratur als Primordialismus und als Konstruktivismus bezeichnet. Die primordialistische Konzeptualisierung der Ethnizität betont die Bedeutungsdimension, die von den „Vorgaben der sozialen Existenz“ ausgehen. So wird eine ethnische Gruppe als eine Art Solidargruppe beschrieben, die auf der Basis eines gemeinsamen Ursprungs (real oder angenommen) gebildet wird und die ein kulturelles Repertoire besitzt, mit dem die Menschen ihrem Dasein einen Sinn geben. Andererseits betont die konstruktivistische Konzeptualisierung der Ethnizität die Interessedimensionen, die von einem interaktionellen Rahmen ausgehen, d.h. ethnische Identität wird subjektiv bei der Verfolgung wahrgenommener Interessen konstruiert. Daher ist hier das kulturelle Differential, aus dem eine gegebene Ethnizität besteht, variabel und in seiner extremsten Formulierung (Inventionismus) arbiträr. Der Primordialismus ist Teil des größeren Gebietes der Identitätsstudien und er befasst sich mit dem Inhalt, während sich der Konstruktivismus auf Grenzziehungsprozesse in der ethnischen Identitätsbildung konzentriert. Die Art wie die Begriffe der Debatte formuliert sind, hat jedoch einen dichotomisierenden akademischen Diskurs hervorgebracht, der die empirische Beschäftigung mit den ethnischen Phänomenen untergräbt, die letztendlich die relative Bedeutung von Inhalt und Grenze in jeder Fallstudie festlegen sollten.
 
Als empirische Studie geht die vorliegende Dissertation über die Hürden der Definition hinaus. Sie stützt sich auf das Konzept der Familienähnlichkeit und argumentiert zugunsten einer formellen und flexiblen Definition einer ethnischen Gruppe. Diese Definition lässt die Möglichkeit zu, verschiedene Arten ethnischer Gruppen zu entdecken, ohne deren strukturelle Vergleichbarkeit zu zerstören und sie vermeidet die ungerechtfertigte Wahl zwischen Bedeutung und Interesse. Auf dieser begrifflichen Basis und gegenüber den eigenen Vorstellungen der Menschen von Verwandtschaft, davon wie sie sich ihr „relevantes Anderes“ vorstellen und den Mustern symbolischer Ausrichtungen sowie des Wesens ihrer Grenzen bin ich der Meinung, dass die Anywaa und die Nuer zwei Arten von Ethnizitäten darstellen und damit einen primordialistischen bzw. einen konstruktivistischen Ansatz wiedergeben. Mit einer stärkeren Vorstellung vom Ursprung (einem Urahn), von einer Ideologie der ethnischen Endogamie und von internen Vorstellungsmodi vom relevanten Anderen (dem symbolischen Kontrast zwischen Gott und Menschheit) stehen die Anywaa für ein emisches primordiales Konzept für eine ethnische Gruppe, wohingegen die Nuer mit einer schwächeren Abstammungsideologie, offenen Mitgliedschaftskriterien und einer assimilationistischen Ideologie für ein emisches konstruktivistisches Konzept für eine ethnische Gruppe stehen. So betont der Inhalt der ethnischen Identität der Anywaa vorwiegend die Bedeutungsdimension einer ethnischen Identität (mit stärkerer Betonung auf der Gesellschaftsordnung), während sich der Inhalt der ethnischen Identität der Nuer stärker auf die Interessedimension konzentriert (mit stärkerer Betonung des Pragmatismus). Ob man nun primordiale oder konstruierte Betrachtungsweise annimmt, Anywaa oder Nuer zu sein ist eine wichtige Klassifizierung für diejenigen, die sich mit ihnen identifizieren, denn sie suggerieren die Bevorzugung bestimmter Haltungen im Lebensstil und lassen auf verschiedene Arten der Persönlichkeit schließen, die auf bestimmten Vorstellungen von der Welt beruhen.

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia

Von einer diachronischen Perspektive aus betrachtet hat sich jedoch der Identitätsdiskurs der Anywaa von einem assimilationistischen zu einem primordialistischen Modus der ethnischen Rekrutierung bewegt, während die Nuer den gegensätzlichen Transformationsprozess durchlaufen haben, und zwar von einer ursprünglichen Ideologie der ethnischen Reinheit hin zu einem komplexen Assimilationismus. Die Bedingungen unter denen der Wandel der Identitätsdiskurse stattfindet werden hinsichtlich der unterschiedlichen Interaktionsrahmen spezifiziert. Die Ethnogenese der Anywaa hat sich wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer relativen Isolation und/oder schwächeren Nachbarn vollzogen, bei den Nuer geschah dies bei einer hohen Dichte sozialer Interaktion des Konkurrenztypus mit ihren Nachbarn. Dazu gehörten auch bestimmte Faktoren. Veränderungen in ihrer materiellen Existenz (von einer pastoralen zu einer agrarischen Lebenswelt), ein Glaubenssystem, das Territorialität erzeugt (ein strafender Gott gegenüber der Mutter Erde), ein Reproduktionsregime, das auf der Mangelwirtschaft basiert (ein Brautpreissystem auf Grundlage seltener Perlen) und ein Herrschaftsmodus, der die Menschen an bestimmte Territorien bindet, haben einen partikularistischen Identitätsdiskurs hervorgebracht, eine interne Dynamik, die durch die Beschaffenheit des Interaktionsrahmens verstärkt wurde (territoriale und kulturelle Übergriffe durch die Nuer). Die Herausbildung einer ethnischen Identität bei den Nuer ist durch einen interethnischen Interaktionsrahmen, der durch Wettbewerb gekennzeichnet ist, beeinflusst worden, größtenteils im Zusammenhang mit gegenseitigen Überfällen zwischen ihnen und ihren Nachbarn, den Dinka, im Südsudan. Dies hat wahrscheinlich ein gewisses demographisches Vorurteil bei der Gruppenbildung hervorgebracht (Politik der Anzahl), daher kommt es zu einer Flexibilität bei der ethnischen Rekrutierung (kulturelle Definition der Mitgliedschaft), die auf Mobilität basiert und weniger auf einem historischen Gefühl der Verwurzelung an einem Ort. Als Nachbarn seit Mitte des 19.Jhd. steht die Interaktion zwischen den Anywaa und den Nuer teilweise für eine Kollidierung von partikularistischen und universalistischen Identitätsdiskursen. Diese Spannungen werden teils durch asymmetrische lokale Machtverhältnisse hervorgebracht und teils durch Konflikte gelöst. Die innere Funktionsweise der Kulturform der Nuer zielt auf die Auflösung anderer ethnischer Grenzen ab und das Ergebnis ist ihre territoriale und demographische Ausdehnung, was dem Primordialismus der Anywaa die Eigenschaft einer reaktiven Ethnizität hinzufügt. Außerdem wird dieses Niveau der kulturellen Opposition durch Gegenströmungen in Wirtschaft und Politik verstärkt. Das Zusammenspiel dieser Gegenströmungen hat den heutigen Konflikt und die Eskalation der Gewalt zwischen Anywaa und Nuer ausgelöst. Im folgenden werde ich diese Gegenströmungen, ihr Zusammenspiel und die Interessen, die sie im sozialen Kampf hervorgebracht haben, kurz zusammenfassen.

Die kulturellen Faktoren hängen mit dem Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Identitätsdiskursen und den damit verbundenen Praktiken zusammen, die von der oben beschriebenen gegensätzlichen Konzeptualisierung ethnischer Identität ausgehen. Für die Anywaa ist Identität sowohl hinsichtlich Ethnizität als auch Lokalität territorialisiert und dies ist die Grundlage für den Austausch zwischen den Gruppen. Die Lebenswelt der Nuer (pastoral) und der darin eingebettete Identitätsdiskurs ist mobil. Im Gegensatz zu den Dörfern der Anywaa könnten die lokalen Gemeinschaften der Nuer in ein neues Territorium mit neuen Mitgliedern verpflanzt werden, die vollen Anspruch auf Mitgliedschaft erheben könnten. Bis zu einem gewissen Ausmaß spielen daher die Anywaa und die Nuer ein unterschiedliches „Sprachenspiel“ bei ihrer Konzeptualisierung einer ethnischen Gruppe, um Wittgensteins Begriff zu verwenden. Der Unterschied hängt teilweise mit den Bedingungen ihrer materiellen Existenz zusammen und der Lebenswelt, die jede hervorbringt. Die soziale und territoriale Mobilität der Nuer wird teilweise von der wirtschaftlichen Notwendigkeit, von einer ungleichen Verteilung natürlicher Ressourcen (besonders Trockenzeitweiden) diktiert, die die pastorale Wirtschaft unterstützen. Die meisten dieser wichtigen natürlichen Ressourcen finden sich in den von den Anywaa bewohnten Gebieten. Die erste Begegnung zwischen den Nuer und den Anywaa führte zu einer Eroberung eines großen Teils der Anywaa-Territorien durch die Nuer. Die Anywaa haben versucht, die verlorenen Territorien wiederzuerlangen. Zwar waren sie mit ihrem „irredentistischen“ Plänen nicht erfolgreich, doch ihr Widerstand bewirkte eine Neuorientierung der Nuer-Strategien beim Zugriff auf Ressourcen von gewalttätigen zu friedlichen Mitteln, was dem symbiotischen Austausch zwischen Hirten und Bauern anderswo in der Welt sehr ähnlich war. Dieser Austausch enthielt jedoch eine gewisse Asymmetrie, welche die Nuer bevorzugt. Flexibilität bei der ethnischen Rekrutierung, wirtschaftliche Schlagkraft (Viehreichtum) und zahlenmäßige Überlegenheit zusammengenommen, haben die Nuer in die Lage versetzt, sich kontinuierlich auf Kosten der Anywaa auszudehnen. Diese Ausdehnung erfolgte größtenteils durch Mikroprozesse, d.h. die Instrumentalisierung interethnischer Ehen und Freundschaftsnetzwerke. Normalerweise heiratet ein Nuermann eine Anywaafrau. Dies ist anfangs von Vorteil für beide Partner. Für die Nuer ist es „billiger“ eine Anywaa zu heiraten, deren Brautpreis niedriger ist. Für die agrarischen Anywaa sichert die Ehe einen ununterbrochenen Viehreichtum. Die Nuer erwarten zusätzliche Gewinne von einem solchen Austausch. Verbindungen durch die Heirat werden als legitimierender Diskurs zur Errichtung von Siedlungen auf Anywaa-Territorium benutzt. Diese Siedlungen dienen nach und nach als Nukleus für mehr Einwanderer und bald sind diese den Anywaa zahlenmäßig überlegen. Letztere können daraufhin entweder Teil der Verwandtschaftsstrukturen und Politik der Nuer werden oder das Dorf verlassen, um ihre Lebensweise aufrecht zu erhalten.

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia


Hier finden wir die Anwendung gegensätzlicher Definitionen von dem was es heißt, ein Gastgeber oder ein Gast zu sein, welche auf unterschiedlichen Vorstellungen von Verwandtschaft beruhen. Für die Anywaa ist, ein Gast (welo) zu sein ein ständiger Zustand, ein Begriff, der auch in Beziehungen zwischen Gruppen und Dörfern in der Anywaa-Gesellschaft verwendet wird. Er steht dem Begriff jobur (d.h. Erstsiedler in einem Dorf) gegenüber. Für die Nuer ist ein Gast zu sein ein zeitweiliger Zustand, eine Phase in einem Lokalisierungsprozess, ein Konzept, das auch intraethnisch angewendet wird. Die Vorstellung von einem Erstankömmling bei den Nuer (diel) ist ein Bezugsrahmen für Neuankömmlinge (andere Nuer und Nicht-Nuer gleichermaßen), in dem eine Lokalisierung durch die Annahme des Abstammungsnamen des diel erfolgt. Die Anywaa definieren die Nuereinwanderer in ihre Dörfer, die jetzt mit ihnen verwandt sind als welo, egal wie lange sie bleiben. Auf lange Sicht haben es die Nuer aber geschafft, eine Kombination von wirtschaftlichen Anreizen, demographische Macht und die Manipulation von Verwandtschaftsbeziehungen in ihre Definition von einem Gastgeber/Gast mit einzubringen. Diese Instrumentalisierung des interethnischen Austausches hat zusammen mit einer flexiblen ethnischen Rekrutierung und einer komplexen Assimilationsideologie zu einem einseitigen Prozess der ethnischen Konversion und der Ausdehnung des kulturellen Raumes der Nuer geführt. Dieser Prozess hat unterschiedliche Kategorien von Anywaa mit verschiedenen Belangen geschaffen. Für manche ist ethnische Konversion (die auch Änderungen in der Lebenshaltungsstrategie bedeutet) eine neue Chance, die die Diversifikation der Lebenshaltung verspricht. Das wird durch den Erfolg des Integrationssystems der Nuer gefördert, welches aktiv den Prozess der „Nuerwerdung“ unterstützt (was letztendlich nur kulturelle Kompetenz verlangt). Durch die Erinnerung an frühere Verluste und die Bedeutung von Land im Identitätsdiskurs der Anywaa, erleben diejenigen Anywaa, die sich noch außerhalb des kulturellen Orbits der Nuer befinden die Aufzwingung der Lebensweise der Nuer als „symbolische Verletzung“ ihrer Ansicht von den Dingen (eine andere Vorstellung vom Ethnischen), als kulturelle Hegemonie, die Ängste ausgelöst und den Diskurs über die „Angst vor Ausrottung“ hervorgebracht hat. Pragmatischen Zwängen erlegen führen diejenigen Anywaa, die trotzdem einen Austausch mit den Nuer pflegen, um gleichzeitig ihre Identität zu bewahren, eine subtile Form von Widerstand durch. Die meisten interethnischen Ehen werden von wirtschaftlicher Notwendigkeit bestimmt, die die Ideologie der ethnischen Endogamie aufbricht. Dies führt zu einem Dilemma, das sich darin widerspiegelt, wie die Anywaa der Ausdehnung der Nuer auf lokaler Ebene Widerstand leisten.

Das strategische Dilemma und das Wesen des Kampfes um kulturelle Identität zeigen sich am deutlichsten in einer lokalen politischen Praxis mit der Bezeichnung chirawia. Wörtlich bedeutet das „die Hände heben“ und es ist ein Kodewort für ihren Versuch, die Nuer-Ressourcen (Vieh) anzuzapfen und gleichzeitig das Wachstum der Nuer-Siedlungen und die Übernahme ihrer Ländereien durch „unsichtbare“ Gewalt zu behindern. Dementsprechend nimmt ein Anywaa mit Verwandtschaftsbeziehungen zu einem Nuer seine Schutzpflicht (als Gastgeber) zurück und gestattet anderen nicht-verwandten (anonymen) Anywaa seinen „Nuergast“ zu töten. Über einen Zeitraum hinweg haben solche Praktiken zu einer zunehmenden Verärgerung auf Seiten der Nuer geführt. Die Nuer interpretieren chirawia als „kaltblütiges, willkürliches“ Töten durch die Anywaa und als Beweis für ihren moralisch „korrupten“ Charakter. Deshalb nennen sie sie ‚luuch naath’, Mördervolk. Chirawia wird verglichen mit der „Minderheitenpolitik“ der Nuer und ihrer „humaneren“ Auffassung von einem Gast, oder neekä (meine Leute). Bei den Nuer zählt ein Gast zu einer Minderheitengruppe und der Gastgeber hat die strenge moralische Pflicht seinen neekä , d.h. auch einschließlich Leute aus anderen ethnischen Gruppen, zu beschützen. Die beiderseitige Wut hat zu einem moralischen Wettstreit geführt, bzw. zur Bewertung der Persönlichkeit, je nachdem ob jemand Nuer oder Anywaa ist. Dies hat die Wirkung eines neuen „primordialen“ Spiels in den interethnischen Beziehungen, denn indem die Nuer dem Wesen der Anywaa eine „bestimmte Eigenschaft“ zuschreiben, nehmen sie das Konzept der Anywaa von einer ethnischen Gruppe an und müssen bei ihrer eigenen Assimilationsideologie, die auf der Annahme einer gewissen Gleichheit beruht, Kompromisse machen.

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia


Zu dem Kampf auf kultureller Ebene kommen noch neue Ziele auf wirtschaftlichem Gebiet hinzu. Der gleichzeitig stattfindende wirtschaftliche Prozess, der den Konflikt zwischen Nuer und Anywaa geschürt hat, ist ein Wandel in der pastoralen Wirtschaft (bzw. eine Verschiebung in Richtung Agropastoralismus). Dies ist wiederum verbunden mit geringerer pastoraler Mobilität aufgrund von Unsicherheit und Viehdiebstahl durch bewaffnete politische Gruppen an der äthiopisch-sudanesischen Grenze, was eine Auswirkung des Bürgerkriegs im südlichen Sudan ist. Ein Ergebnis davon waren spontane und organisierte Nuer-Wanderbewegungen aus dem südlichen Sudan in die relativ friedliche Gambelaregion. Dadurch sind neue lokale Gruppenakteure in der Identitätspolitik aufgetaucht, was die Angst der Anywaa weiter vergrößert hat. Mit wenig Produktionstechnologie (Gambela ist eine der wenigen Regionen in Äthiopien, wo der Ackerbau mit dem Pflug nicht praktiziert wird) werden nur 2,4% des bebaubaren Landes kultiviert. Außerdem ist der Landtyp, für den es die meiste Konkurrenz gibt, fruchtbares reiches Schwemmland, das für die Feuchtkultivierung während der Trockenzeit geeignet ist. Diese Bodenform bedeckt nur 0,5% des gesamten Landgebiets der Region und das meiste davon gehört zum Territorium der Anywaa. In der neuen Mangelwirtschaft ist die Kultivierung von Flussland zu einem zusätzlichen Streitpunkt und von echter materieller Bedeutung für diejenigen geworden, die am ethnischen Konflikt beteiligt sind. Der wirtschaftliche Prozess allein ist jedoch kein ausreichender Faktor zur Auslösung eines Konfliktes, wie er heute von den Anywaa und den Nuer erlebt wird. Der Wettbewerb um natürliche Ressourcen ist die am häufigsten genannte Ursache für intra-ethnische Konflikte und Interclankämpfe bei den Nuer und er hat subethnische Interessengruppen hervorgebracht, von denen einige strategisch so positioniert sind, dass sie von einem inter-ethnischen Frieden einen Nutzen ziehen.

Es sind die größeren politischen Prozesse, die auf eine ethnische Logik hingearbeitet haben, die dazu geführt hat, dass sich wirtschaftliches Interesse mit ethnischem Register verbunden hat und dass der Kampf um kulturelle Identität schlimmer geworden ist. Dieser politische Prozess drückt sich in Form von unterschiedlichen Integrationsmustern der Anywaa und Nuer in das Staatssystem (in Äthiopien und im Sudan) aus, was zu schwankenden lokalen Machtverhältnissen geführt hat. Dies ist ein politischer Raum mit vielen Konkurrenzkämpfen und neuen Zielen im sozialen Kampf, besonders in der politischen Ordnung nach 1991 in Äthiopien, wo Ethnizität in Form von ethnischem Föderalismus institutionalisiert wird. Mit der Errichtung des Regionalstaates Gambela als ein Bestandteil der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien 1991 ist ein neuer politischer Raum geschaffen worden, in dem Anywaa- und Nuer-Eliten durch die Mobilisation ihrer jeweiligen ethnischen Identitäten um die Macht kämpfen und ihre gesellschaftlichen Bedürfnisse artikulieren. Die Anywaa haben den neuen Regionalstaat Gambela durch die Ideologie des Rechts der „Zuerstgekommenen“ dominiert, d.h. durch einen Anspruch auf 70% der Landfläche der Region Gambela. Die Anywaa wurden anfangs durch die neue Regierungspartei auf der Basis ihres „Beitrages“ zum Regimewechsel unterstützt, während die Nuer mit dem abgesetzten Regime in Verbindung gebracht wurden. Jenes politische Ereignis hat neue Formen administrativer Macht hervorgebracht, die die Anywaa dazu benutzen wollten, die assymetrischen lokalen Machtverhältnisse zu ändern. Mit einer Schilderung des Verlustes („narrative of loss“) haben die Anywaa versucht, den Regionalstaat für sich „einzunehmen“, und im ethnischen Föderalismus sahen sie eine neue politische Möglichkeit für ihr Projekt, die Nuer „unter Kontrolle“ zu halten. Dazu gehörten auch politische Exklusionspraktiken, bei denen im Prinzip der „Personalausweis“ bei der Verteilung neuer Belohnungen (Verwaltungsposten, moderne Waren und Dienstleistungen) benutzt wurde. Trotz der Unterschiede in der Siedlungsgeschichte (manche Nuergruppen kamen schon um die Wende des 19.Jahrhunderts in die Region Gambela) haben die Anywaa die Nuer als sudanesische Ausländer bezeichnet und damit ein neues homogenisierendes Element bei der Konsolidierung der Nuerethnizität geschaffen. Die Anywaa haben einen „Beweis“ für ihre Definition weniger aus Geschichtsbüchern als aus der Nuerpraxis der alternativen Staatsbürgerschaft (einem Wechsel zwischen der äthiopischen und der sudanesischen nationalen Identität). Das betraf vor allem die 1980er Jahre, als es im Zusammenhang mit dem Hilfsregime lohnender war, ein Flüchtling zu sein und weniger ein Staatsbürger. Das Hilfsregime nahm sich der Bedürfnisse der südsudanesischen Flüchtlinge in der Region Gambela an (durch Hilfeleistungen, Sicherheitsmaßnahmen und Zugang zu sozialen Dienstleistungen). Dadurch konnten die äthiopischen Nuer als Südsudanesen viel eher durchgehen als die äthiopischen Anywaa, denn es leben mehr Nuer im Südsudan als Anywaa. Aufgrund dessen erkannten die Hilfsagenturen die äthiopischen Nuer allem Anschein nach (prima facie) als Flüchtlinge an, während sich die Anywaa strengen Überprüfungen unterwerfen mussten. Fast alle heutigen Nuer-Beamte und -Politiker in der Gambelaregion erhielten ihre Ausbildung in den Flüchtlingslagern unter der Schirmherrschaft der UNHCR. Das hat zu einem gewissen Neid auf Seiten der Anywaa geführt, während es die Nuer der Exklusionspolitik in Gambela nach 1991 ausgeliefert hat.

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia


Die 1990er Jahre haben neue Belohnungsstrukturen in die Gambelaregion gebracht. Das Hilfsregime ist schwächer geworden und die Errichtung des Regionalstaates Gambela hat denjenigen mit einer äthiopischen Staatsbürgerschaft neue Wege der sozialen Mobilität und der individuellen Förderung versprochen. Durch die Anywaa bei der Verteilung dieser neuen Belohnungen marginalisiert, haben die Nuer mit einer Inklusionspolitik auf der Grundlage „relativer Deprivation“ reagiert. Dies hat sich noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Bezugsgruppe (die Anywaa) ehemals politisch zweitrangig in den traditionellen Spielregeln war, bei denen lokale Formen der Macht (z.B. Größe, Kriegerschaft, wirtschaftliche Schlagkraft, ein inklusiver Identitätsdiskurs) die Bedingungen für einen Austausch in den interethnischen Beziehungen bestimmen. Auf dem neuen politischen Spielfeld, wo Verwaltungsmacht am meisten zählt, ist eine reaktive Nuerethnizität entstanden, die die politische Vorherrschaft der Anywaa durch Gegenansprüche und kreative Strategien der Inanspruchnahme herausfordert, besonders durch die Übernahme des staatlichen Diskurses wie z.B. die Manipulation der Ergebnisse der Volkszählung. Beispiele: 1) die Volkszählung von 1994 hat neue politische Tatsachen geschaffen, indem die Nuer über Nacht aus „Ausländern“ zu einer „ethnischen Mehrheit“ im Regionalstaat Gambela gemacht wurden; 2) die heroische Teilnahme der Nuer am Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea 1998-2000; 3) die symbolische Erteilung einer Vollmacht über natürliche Ressourcen durch den Staat, wobei der Anspruch des Staates bestätigt und existierende lokale Vereinbarungen über den vereinbarten Zugang zu den Ressourcen unterwandert wurden. Das Ergebnis dieses dyadischen Kampfes wird daher nicht länger auf lokaler Ebene zwischen den Anywaa und den Nuer entschieden, sondern auch durch das veränderte Bündnis zwischen ihnen und dem äthiopischen Staat, welcher seine eigenen Pläne von Überwachung verfolgt und verschiedene Kriterien der Bewertung einer Gruppe anwendet, sowie auch durch den relativen Erfolg jeder einzelnen Gruppe beim Anzapfen transnationaler politischer Netzwerke, besonders in Verbindung mit neuen politischen Akteuren, die im Zusammenhang mit der Befreiungspolitik im Südsudan hervorgetreten sind. Dadurch benutzten Nuer und Anywaa plötzlich nationale und globale Legitimierungsdiskurse und -strategien, um ihre Lebensweise für gültig zu erklären und um Ansprüche auf Ressourcen in einem lokalen Kampf zu erheben.

Die Dissertation besteht aus vier Teilen und sieben Kapiteln. Teil eins enthält ein Einführungskapitel, in dem die theoretische Richtung vorgegeben, die wichtigsten Argumente zusammengefasst sind und das studierte Gebiet vorgestellt wird. Es enthält außerdem Informationen über Geographie, über den sozialen Rahmen, den historischen Hintergrund und den politischen Kontext, sowie eine Beschreibung der Forschungsmethoden und Erfahrungen im Feld. Teil zwei besteht aus zwei Kapiteln und enthält eine Beschreibung der Identitätsregister im studierten Gebiet. Kapitel zwei diskutiert ausführlich ethnische Identität und ihre Bedeutung in sozialen Beziehungen und als Teil der politischen Aktion. Es baut auf einem Hauptthema der Dissertation auf (die unterschiedlichen Formen der ethnischen Identitätsbildung) und entwickelt dieses weiter. Das geschieht durch eine gesonderte Besprechung der Anywaa und der Nuer als zwei Arten ethnischer Gruppen, was in der Konfliktanalyse in Teil vier noch einmal angesprochen wird. Die in diesem Kapitel besprochenen Themen unter den Überschriften Ethnogenese, ethnische Symbole und Grenzen und das Fortdauern ethnischer Identität im Kontext des sozialen Wandels werden jeweils für die Anywaa und die Nuer diskutiert. Kapitel drei besteht aus drei Teilen. Teil eins problematisiert die ethnische Gruppe durch eine Besprechung intra-ethnischer Variationen und Interessengruppen, sowie interner Spaltungen, die die Qualität inter-ethnischer Beziehungen stark beeinflussen. Der zweite Teil führt eine nicht-ethnische, pseudo-rassische Einheit der Identifizierung ein, in der die Anywaa und die Nuer zusammen in derselben Kategorie aufgeführt werden, wobei die ethnische Grenze aufgelöst wird. In diesem Teil wird auch eine Kategorie/Gruppe von Menschen eingeführt, die „Hochländer“, die als „signifikante Andere“ in den Anywaa-Nuer-Beziehungen als Vertreter und aufgrund ihrer Identifizierung mit dem äthiopischen Staat auftreten. Der letzte Teil in Kapitel drei führt noch einmal das ethnische Register ein und diskutiert das nationale Identitätsregister mit Hilfe der Debatte um die Staatsbürgerschaft, in die nationale Identitäten von den Anywaa und den Nuer als Rahmen eingebracht werden, in dem Ethnopolitik euphemistisch praktiziert wird.

Teil drei beschreibt im Einzelnen den Konflikt zwischen den Anywaa und den Nuer. Er enthält einen historischen Überblick und zwei ausführliche Fallstudien aus heutigen Konflikten. Die Bedeutung früherer Konflikte wird in der Konfliktanalyse unter der Überschrift „Soziales Gedächtnis“ gezeigt, welches über die Verlustgeschichte (narrative of loss) der Anywaa informiert. Die zwei Fallstudien wurden ausgewählt, weil sie die zugrunde liegenden Prozesse, die den Konflikt erzeugt haben, aufzeigen. Außerdem stehen sie für unterschiedliche Interaktionsrahmen: einen aus dem ländlichen Umfeld (Itang Distrikt), wo es um einen Wettstreit um natürliche Ressourcen geht, und ein anderer aus einem städtischen Umfeld (Gambela Stadt), wo es um Verwaltungsposten und neue Mittel des sozialen Aufstiegs geht (Bildung). Diese ausführlichen Fallbeispiele dienen als Grundlage für die Konfliktanalyse in Teil vier, wo die oben beschriebenen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Variablen des Anywaa-Nuer-Konfliktes in den Kapiteln fünf, sechs und sieben beschrieben werden.

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