Integration through marginality: Local politics and oral tradition in Guinea

Anita Schroven
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
20.01.2011

Supervisors | Gutachter
PD Dr. Jacqueline Knörr
Prof. Dr. Richard Rottenburg

OPAC

German Summary | Deutsche Zusammenfassung

Diese Arbeit geht der Frage nach, wie die lokale Selbstwahrnehmung, marginal zu sein, zur Integration in größere sozio-politische Zusammenhänge führen kann. Sie fokussiert dabei auf lokale Eliten in Guinea, die in ihrer Repräsentation nach Außen die kollektive Marginalität hervorheben, indem sie orale Tradition mit aktuellen Perspektiven auf Staat und Regierung kombinieren. Somit stellt diese Arbeit eine Ethnographie von Staatlichkeit in Afrika dar. Ich untersuche dieses Thema mit dem Fokus auf lokale Staatlichkeit, also mit der Frage, wie Vorstellungen von Staat lokal geschaffen und gestaltet werden – am Beispiel von Forécariah, einer Kleinstadt im westlichen Guinea.
Die Arbeit ist in fünf Kapitel unterteilt. In den theoretischen Rahmen der Einleitung eingebettet, analysieren drei ethnographische Kapitel das Material der zwölfmonatigen Feldforschung, die zwischen April 2006 und August 2007 stattfand. Bevor ich jedoch den empirischen Teil der Arbeit erläutere, werde ich den theoretischen Rahmen vorstellen.

Theorie
In Betrachtung anderer Ethnographien zu Staat und Staatlichkeit in Afrika folge ich Fergusons Argument, dass eine vertikale Betrachtungsweise von Hierarchien staatlicher Institutionen zwischen Hauptstadt und lokalen Akteuren den Wahrnehmungen und den Praktiken nicht gerecht wird, die unter der Zusammenarbeit dieser unterschiedlichen Akteure zur Schaffung von Staat führen. Eine horizontale Konstellation ermöglicht es dagegen, allen Akteuren Zugang zu verschiedenen Ressourcen zu gewähren und in mehreren Arenen gleichzeitig zu agieren, die nicht an geographische Vorstellung von Zentrum und Peripherie gebunden sind und nicht unbedingt nationalstaatlichen Grenzen unterliegen. Hierbei rekurriere ich auf Ideen, die in internationalen Diskursen geschaffen, geformt und transportiert werden, um dann in spezifischer Form, etwa in einem politischen und administrativen Reformprogramm, lokal interpretiert, adaptiert und umgesetzt zu werden. Die zentralen Begriffe der Arbeit sind Geschichte und orale Tradition, die die Machtchancen einzelner Akteure bei den Aushandlungsprozessen von Kontinuität und Wandel der lokalen Arena bestimmen.

Victor Turners Verständnis des Rituals dient hier als konzeptuelle Grundlage. Es betont, dass Rituale neues „kulturelles Material“ produzieren können, wenn ein Bruch der allgemein akzeptierten sozialen Interaktion auftritt. Ich möchte hier eine breitere Auffassung verwenden, die als Auslöser des Rituals an sich keine Krise in den Vordergrund stellt, sondern die Möglichkeit von Veränderungen, die in jeder Performanz des eigentlichen Rituals möglich sind. Unter Umständen werden kaum wahrnehmbare Veränderungen vorgenommen, die vordergründig nicht auffallen müssen. Daher ergibt sich innerhalb der Durchführung des Rituals auch Raum für dessen Veränderung oder eine Möglichkeit, hinter vordergründiger Zustimmung Widerstand ausdrücken zu können.

Somit erweitere ich das Verständnis von Performanz, um Alltagsbegebenheiten genauso untersuchen zu können wie besondere politische Ereignisse, da in ihnen allen Referenzen auf größere Ideen verwendet werden, wie etwa Gemeinschaft, Staat, Tradition oder Geschichte.

Geschichte wird in dieser Arbeit auf unterschiedliche Weise betrachtet. Einerseits konstituiert sie individuelle und kollektive Identitäten, andererseits beeinflusst sie die Wahrnehmung der Umgebung in Form einer sozialen Landschaft. Diese wird durch Erinnerungen gestaltet, die bestimmte Ereignisse mit Personen und Orten verknüpft. Diese Erinnerungen sind vielseitig. Das Konzept der oralen Tradition nach Jan Vansina betont die Historisierung von Vergangenem als individuellen und kollektiven Prozess, in dem es nicht um die korrekte Darstellung der Geschehnisse geht, sondern um eine momentane Bedeutungsfindung und Forderung an die Zukunft. Während sie in ihrer vielfältigen Artikulation kontinuierlich ausgehandelt und dadurch gestaltet wird, dient orale Tradition in diesem Prozess auch als Ressource, als Verhandlungskapital, das den Akteuren und ihren Argumenten eine bestimmte Art von Legitimität verleiht und im Moment ihrer Anerkennung nicht nur bestätigt, sondern auch verstärkt wird.
Neben oraler Tradition sind auch anderen Arten von Geschichte bedeutsam. Persönliche Lebensgeschichten zeigen auf, dass individuelle Biographien mit abstrakten Ideen wie Staat und konkreten Institutionen wie Gemeinderat oder Parteiorganen eng verbunden sind. Diese Verbindung ermöglicht es den Akteuren, diese abstrakten Ideen in der Alltagspraxis umzusetzen.

Wie schon orale Tradition, so stellen auch individuelle Biographien eine Möglichkeit dar, Gegensätze, Veränderungen und sogar gewaltsame Umbrüche in eine longue-durée Darstellung von Geschichte einzubetten und dadurch den Eindruck von Kontinuität zu schaffen.

Um die unterschiedlichen Akteure und Diskurse zu fassen, die hier relevant sind, benutze ich das Konzept der lokalen Arena, das auf Strauss’ Begriff der sozialen Welt aufbaut. Die lokale Arena wird durch eine Gruppe von Menschen konstituiert, die in der Aushandlung gemeinsamer Ziele verschiedenste Ressourcen teilen und dabei ihre Interaktionsformen miteinander abstimmen. Bestimmte, besonders aktive Entrepreneurs formen das Zentrum dieser sozialen Welt und regen andere zum Mitmachen an. Da jedes Individuum gleichzeitig Teil unterschiedlicher sozialer Welten ist, sind diese eng miteinander verbunden. In der Arena treffen die Welten aufeinander; sie werden durch die gemeinsame Auseinandersetzung und Aushandlung von bestimmten Themen zusammengeführt. Durch diese Zusammenführungen können die Grenzen zwischen den Arenen verschwommen scheinen, sie werden jedoch immer wieder neu errichtet, verstärkt und verändert, um die Legitimität der einzelnen Akteure und Arenen zu sichern.

Neue Akteure und Einflüsse wie administrative Reformen oder internationale Diskurse um demokratische Dezentralisierung beeinflussen die Arena. Somit ist sie offen für äußeren Einfluss, Austausch und Veränderung, jedoch immer lokal verbunden.
Diese lokale Verbindung wird dadurch gehalten, dass die unterschiedlichen Akteure durch ihre individuelle, berufliche und kollektive Geschichte in der Arena lokalisiert sind.
Die Aushandlungsprozesse in der lokalen Arena bedingen, dass Macht nur in der Interaktion bestehen und nicht an sich besessen werden kann. So verhandeln Akteure in der lokalen Arena ihre Machtchancen im kollektiven Zusammenspiel. Machtchancen werden nach gewohnheitsmäßigen Verhältnissen oder etablierten Beziehungen verteilt. Diese konzipiert Elias als sogenannte Figurationen. Manche Beziehungen in der lokalen Arena sind zu einem solchen Maß etabliert, dass sie unabhängig vom eigentlichen Akteur bestehen können.
Somit können einzelne Individuen die Figuration verlassen, andere können hinzukommen und neue Impulse geben, ohne dass sie sich grundlegend verändert. Während Figurationen selbst keine Macht innewohnt, bestimmen sie die Machtchancen der Akteure und werden somit ebenfalls zu Ressourcen in kollektiven Aushandlungsprozessen.

Ethnographie
Der Einleitung folgt das erste ethnographische Kapitel „Identifikationen“, welches die erforschte Region in zweierlei Hinsicht vorstellt: Orale Tradition und historische Primär- und Sekundärliteratur stellen die Siedlungsgeschichte beginnend mit dem 18. Jahrhundert vor. Anhand der Familie der historischen Gründungsväter der Stadt Forécariah, die bis heute wichtige Positionen in der Stadt und Region innehält, gebe ich einen Überblick über die lokale und nationale Geschichte von der französischen Kolonialzeit über die sozialistisch inspirierte Unabhängigkeit bis in die weitere politische Entwicklung der 1980er Jahre. Noch heute wird auf den Gründungsmythos der Stadt und des vorkolonialen Fürstentums Moria
referiert, welcher die Grundlage für eine soziale Landschaft bildet und somit der Bevölkerung im Alltag, aber auch in Krisensituationen als politische und identifikatorische Grundlage kollektiver Identität dient.
Die Entwicklung dieser regionalen Identität war dadurch möglich, dass in unterschiedlichen Phasen der Geschichte ein Rückzug bzw. ein Prozess der Selbst-Marginalisierung stattfand, der die Menschen in dieser Region von ihrer weiteren Umgebung trennte: der französischen Kolonie, der unabhängigen Republik Guinea oder auch dem Nachbarland Sierra Leone, dessen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren zur Teil auf Guinea übergriff.

Dieser Schutz vor äußeren Gefahren wird nach Argumentation der Menschen in der Region durch die Bewahrung lokaler Werte gewährleistet, die an die besagte regionale Identität geknüpft sind, welche ethnische und religiöse Charakteristika vereint. Heute Morianais zu sein heißt also, seine Abstammung auf gelehrte Muslime zurückzuführen, Malinke-Mori genannt, die im 18. Jahrhundert die Region eroberten und zum Islam bekehrten. Sie waren vor allem ethnisch Malinke, die in ein von Susu und Mmeni bewohntes Gebiet vordrangen. Während sich heute die Bewohner von Moria als ethnisch Susu bezeichnen, spielt ihre Abstammung von den Malinke-Mori im lokalen Alltag eine wichtige Rolle. Diese Abstammung macht sie den später angesiedelten Bewohnern gegenüber zu Grundherren (und spirituellen Erdherren). Außerdem bestimmt ihr Siedlungsmythos interethnische Beziehungen und hat zur Herausbildung bevorzugter Heiratsallianzen geführt, die durch die Heiratsallianzen der Gründungsväter symbolisiert werden. Gleichzeitig findet Integration auch auf andere Weise statt. So wird sanakouyage, eine Mande-basierte Scherzbeziehung, die Klassen- und Besitzreferenzen enthält, als Vermittlungsmoment bei Spannungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer Gruppen verwandt. Sparzirkel von Frauen eines Stadtviertels bekannt, werden zu Vereinen für die Entwicklung von Heimatorten erweitert, aus denen die Frauen stammen - oder zu stammen behaupten. So finden sich häufig Gruppen von Freundinnen als Mitglieder zusammen, die ursprünglich nichts mit der zu fördernden Region in Norden oder Osten Guineas zu tun haben.

Religion wird besonders bedeutend, wenn eine Abgrenzung zwischen den Susu/Morianais und der autochthonen Bevölkerungsgruppe der Mmeni notwendig wird. Ursprünglich waren die Mmeni die Erdherren, hatten also exklusiven Zugang zu den Erdgeistern. Sie wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts als Nicht-Muslime in die unmittelbare Küstenregion verdrängt, gelten heute jedoch offiziell als Susu und als Muslime. Zurzeit findet eine Neuaushandlung des Erdherren-Status statt. Erdgeister werden nun von den frommen Morianais als „ältere Geister“ betrachtet, die durchaus auch von ihnen beeinflusst werden können.
Religion war und ist in dieser Region auch deshalb entscheidend für die Verfestigung der Vorherrschaft der Morianais Grundherren, da die Kolonialverwaltung und die guineische Regierung nach der Unabhängigkeit den Islam als ideologisch wünschenswert und ökonomisch vorteilhaft förderten und somit indirekt den Herrschaftsanspruch der Morianais bestätigten.
In diesen unterschiedlichen Facetten zeigt sich, dass die regionale Identität der Morianais ein kontinuierlicher Rekurs auf einen Gründungsmythos ist, aber genauso ein aktueller Aushandlungsprozess von ethnischen und religiösen Identitäten. Beides kann nur stattfinden, indem die Region als marginal charakterisiert wird und somit andere Einflüsse mutmaßlich reduziert werden. So kann die hohe Relevanz der oralen Tradition für den Alltag aufrechterhalten und gleichzeitig durch ihre wiederholte Verwendung weiter verstärkt werden.

Um die Relevanz der Selbst-Marginalisierung näher zu untersuchen, beschreibe ich im nachfolgenden Kapitel „Institutioneller Wandel und Kontinuität“ die Auswirkungen einer guineischen Verwaltungsreform auf die lokale Arena von Forécariah. Hierbei steht im Vordergrund, wie orale Tradition und die historisch konstituierte soziale Landschaft in den Debatten unterschiedlicher Akteure sowohl instrumentalisiert als auch verändert werden. Dezentralisierung begann in den 1990er Jahren im Zuge weitreichender politischer und ökonomischer Reformprozesse, nachdem die so genannte Ersten Republik das Land 24 Jahre lang politisch isoliert hatte. Die internationale Debatte um Dezentralisierung unter den Leitmotiven populärer Partizipation und repräsentativer Demokratie führt in ihrer guineischen Umsetzung zur Auffassung, dass Demokratie als Nebenprodukt der direkten Wahl von Gemeinderäten entstehen solle. Diese Leitgedanken prägen auch die Debatte guineischer Nichtregierungsorganisationen (NROs), die eine wichtige Rolle als Übermittler dieser neuen Ideologie und der damit verknüpften politischen Legitimation spielen. Die neu geschaffenen Gemeinderäte und die NRO-Vertreter, aber auch Ideen politischer Repräsentation, sind neue Akteure in der lokalen Arena. Bereits etablierte Akteure, die ältere Institutionen repräsentieren, nehmen diese Impulse auf und interpretieren sie nach eigenem Verständnis und in eigenem Interesse, wobei sie kreativ internationalen Diskurs und lokale Gegebenheiten verbinden. So entstand in Forécariah das Projekt der „Entwicklungspole“, welches das Entwicklungspotential ländlicher Gemeinden auf Grundlage historisch gewachsener Solidarität freisetzen soll. In diesem Fall wird Geschichte in anderer, aber nicht weniger idealisierter Form von Regierungsvertretern instrumentalisiert.
NRO- und lokale Regierungsvertreter wie der Präfekt arbeiten eng zusammen, um Projekte im Rahmen von Dezentralisierung und demokratischen Wahlen anzustoßen, und nutzen die im Zuge von internationalen Kampagnen fließenden Ressourcen für ihre eigenen Interessen, sei es um sich alternative Karrieremöglichkeiten zu sichern oder um ökonomischen Gewinn zu erzielen. Dadurch ergibt sich eine Konsolidierung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und vor allem der NROs, die im afrikanischen Vergleich sehr jung sind. Gemeinderäte und ihre Tutoren, spezialisierte Beamte, die die Umsetzung der Dezentralisierung und ihrer Vorschriften im ländlichen Raum begleiten sollen, werden häufig zu Weiterbildungsseminaren eingeladen, die allen Beteiligten unterschiedliche Vorteile verheißen. Teilnehmer erhalten Tagegelder und Zertifikate, die für sie zum Teil wichtiger sind als die eigentlichen Seminarinformationen, da sie zum Verhandeln von anderen, nicht direkt mit dem Seminar verbundenen Ressourcen dienen. Die Organisatoren und die Teilnehmer dieser Seminare werden mit der Zeit immer professioneller und beherrschen die gefragte Terminologie.

In dieser Terminologie geht es vor allem um legitime Entscheidungsprozesse bzw. Autorität und daher wird sie schnell in die Verhandlungen der lokalen Arena eingebracht. Hier stellt sich die Frage nach Kontinuität und Wandel von Legitimation und Autorität, mit anderen Worten: wie sich die Performanz von Figurationen mit der Zeit verändert. Um diese Kontroversen zu beleuchten, verfolge ich eine Debatte um Landbesitz, die unterschiedliche Akteure wie Dorfälteste, Grundherren, neue Gemeinderäte und Regierungsvertreter zusammenbringt. Die meisten Gemeinderäte sind Dorfälteste, denn sie führen ihre individuelle Abstammung auf Gründungsvätern zurück und benutzen dies als Legitimation ihrer Position im Gemeinderat. All diese Akteure debattieren unter Verwendung unterschiedlicher Referenzsysteme, die parallel nebeneinander existieren, über die richtige, d.h. die legitime (und moderne) Art der Entscheidungsfindung. Dabei zeichnet sich ab, dass die Gemeinderäte durch die Dezentralisierung als eine neue Gruppe in den schon herrschenden institutionellen Pluralismus eingebracht wurden. Im speziellen Konfliktfall wird dieser Pluralismus auch in der Person individueller Ratsmitglieder wieder vereinigt. Anders gesprochen nutzen etablierte Eliten den politischen Reformprozess, um ihre Vorherrschaft neu zu formalisieren, nachdem sie als Nachfahren kolonialer Häuptlinge nach der Unabhängigkeit 1958 diffamiert worden waren. Gleichzeitig bringt der Dezentralisierungsprozess auch neue Akteure in die lokale Arena ein. Einzelne gewählten Gemeinderäten, die nicht zu den Grundherren gehören, sowie Beamten, die durch ihre Arbeit mit den Gemeinderäten dem ländlichen Milieu viel enger verbunden sind als zuvor, zeigen, dass personengebundene Veränderungen stattfinden. Die Arena bleibt dennoch lokal und historisch eingebettet, da die entscheidende Referenz immer noch die soziale Landschaft von Moria ist. Mit anderen Worten wurde die Figuration um einige Akteure erweitert, jedoch nicht grundsätzlich geändert. Die etablierten Akteure haben die neuen Impulse kreativ in die bestehende Figuration integrieren, während sie nach Außen die vorgeschlagenen formalen Veränderungen mittragen.

Das letzte ethnographische Kapitel „Integration und Staat“ fokussiert auf politische Performanz unterschiedlicher Akteure in der lokalen Arena. Ausgehend von der Idee, dass Personen durch ihre (beruflichen) Erfahrungen die Biographie des Staates teilen können, stelle ich die Lebensgeschichte eines Informanten in den Vordergrund. Er war in den unterschiedlichen Regierungsformen als französischer Soldat, Grundherr, Politiker, Beamter und Parteiführer Teil des Regierungs- und Staatsapparats. An seinem Beispiel lässt sich gut ablesen, wie interdependent persönliche Biographien und die eher abstrakte Biographie eines Staates sind. Ich untersuche hier besonders die historische Rolle von Beamten im Staatsaufbau von Guinea. Nach der Unabhängigkeit waren es Parteikader, die neu entstehende politische Positionen übernahmen. Im schnell etablierten Einparteiensystem bekamen diese Beamten die Aufgabe, nicht nur den Verwaltungsapparat nach dem hinterlassenen französischen Model auszufüllen, sondern auch die Bevölkerung zum guineischen Volk zu erziehen.

Dieses professionelle Erbe wird besonders relevant in der nachfolgenden Diskussion der Generalstreiks von 2006 und 2007. Ich verfolge die Debatten niederer Beamter während der unterschiedlichen Phasen der beiden Streiks. Im Februar 2007 kommt es zur rhetorischen Gegenüberstellung von Nation und Regierung. Während die Beamten sich zu diesem Zeitpunkt mit der guineischen Nation, dem peuple guinéen assoziieren, wechseln sie nach dem Streik schnell die Fronten und betonen aufgrund ihres Arbeitsverhältnisses als Beamte ihre besondere Verantwortung für die Entwicklung des Nationalstaates. Diese begründet sich darin, dass der guineische Staat und seine Beamten als Werkzeug zur Schaffung der Nation gestaltet und verwendet wurden. Staat und Nation sind daher ideologisch eng verbunden. Das Selbstverständnis der Beamten geht auf diese Gründungszeit zurück und verleitet sie dazu, einen Staat einzufordern, der sich gegen die derzeitige Regierung Guineas richtet. Somit findet hier eine a-synchrone Performanz statt, in der Vergangenes in die Gegenwart geholt wird.

Ähnliches fand später erneut statt. Nach dem Streikhöhepunkt im Februar 2007 und den Zugeständnissen der Regierung wurden Reformprozesse angekündigt, die eine Atmosphäre von Hoffnung schafften. In Debatten auf dem Markt oder im Teehaus wird die Verantwortung, Steuern zu zahlen, damit verbunden, ein guter Staatsbürger zu sein und zur Entwicklung des Landes beizutragen. Treffen zur politischen Mobilisierung der Jugend zeigen, wie bei diesen Versammlungen Orte und Vokabeln aus früheren politischen Epochen verwendet werden. Um in Zukunft Veränderung zu erreichen, wird auf vergangene - vermeintliche - Erfolge rekurriert. Der sozialistische Staat nach der Unabhängigkeit wird als moralischer Standard für Staat und Regierung in der Gegenwart idealisiert. Gleichzeitig bilden andere Elementen der sozialen Landschaft, die in ihrer oralen Tradition verankert sind, Orientierungsrahmen für angestrebte Veränderungen.

Zusammenfassend stelle ich angesichts der regionalen Selbstmarginalisierung der Bewohner von Forécariah sowie ihrer Identifikation als Morianais eine immer weiter reichende Integration in den guineischen Staat fest. Diese Integration beruht nicht darauf, dass Regierungsvertreter oder dezentralisierte Institutionen im ländlichen Raum präsenter werden. Vielmehr besteht sie darin, dass Akteure in ihren vielfältigen Bezügen Staatlichkeit lokal schaffen, indem sie sowohl auf Geschichte rekurrieren als auch eine spezielle Vision der Vergangenheit mit gegenwärtigen Herausforderungen an die lokale Arena verbinden, um Veränderungen für die Zukunft einzufordern.

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