Identification, Discrimination and Communication: Khorezmian Migrants in Tashkent

Rano Turaeva-Hoehne
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
22.06.2010

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Wolfgang Klein (Max Planck Institute for Psycholinguistics, Nijmegen, The Netherlands)

German summary | Deutsche Zusammenfassung

Nach dem Zerfall der Sowjetunion öffnete sich der Eisernen Vorhang. Damit wurden die nun unabhängigen Staaten Zentralasiens zugänglich für ethnographische Forschung, welche zuvor, in den 70 Jahren der Sowjetherrschaft, fast unmöglich gewesen war. Infolge sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen kam es zu einem starken Anstieg von Mobilität in vielen post-sozialistischen Ländern. Dies schuf den Hintergrund für andere Modi sozialer Organisation und die Schaffung neuer sozialer Beziehungen. In meiner Arbeit untersuche ich die Dynamiken interethnischer Beziehungen zwischen Choresmiern und anderen usbekischen Gruppen in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans. Der Fokus meiner Arbeit liegt auf Aspekten der Repräsentation und Kommunikation von kollektiven Identifikationen unter diesen Gruppen. Dabei argumentiere ich, dass kollektive Identifikation weder ein einseitiger Prozess von Gruppenformung noch allein eine Reaktion auf den „relevanten Anderen“ ist. Kommunikation und Pflege von kollektiver Identität gestalten sich als dialektischer Prozess, gekennzeichnet einerseits durch die eigenen internen Regeln und Organisationsprinzipien innerhalb von Gruppen und andererseits durch die Repräsentation der kollektiven Identität in ihrer Relation zu Außenstehenden (Barth 1969, 1994; Schlee 1998, 2002, 2008a).

Das Datenmaterial für die Dissertation sammelte ich während meiner 13-monatigen Feldforschung in Usbekistan in den Jahren 2005-2006. Ich führte dabei keine klassische Ethnographie in einem kleinen Dorf durch, sondern forschte im urbanen Raum. Hier waren spezielle Forschungsformen nötig, um die „Grenzen“ meiner Forschung zu identifizieren und abzustecken. Ich habe sehr von der Arbeit der so genannten Manchester Schule profitiert, die mir hilfreiche Ideen für meine Forschung im urbanen Raum lieferte (Mitchell 1969). Meine Feldforschung war multi-lokal, der Fokus lag auf Taschkent, ich reiste aber auch gelegentlich mit Informanten in deren Heimatorte. Dabei waren die Reisen an sich ein wesentlicher Bestandteil der Forschung, da sie mir ermöglichten, wichtige Aspekte von Mobilität zu beobachten und mit anderen Reisenden zu sprechen. Ich wandte verschiedene Forschungsmethoden aus unterschiedlichen Disziplinen an. Neben den klassischen ethnologischen Methoden wie teilnehmender Beobachtung, Interviews und dem Sammeln autobiographischer Daten nutzte ich Methoden wie Gruppendiskussionen, Reiseethnographie und Kommunikationsethnographie.

Bei der Untersuchung von Beziehungen zwischen den verschiedenen usbekischen Gruppen in Taschkent legte ich meinen Fokus auf die Zuwanderer aus der Region Choresm. Daneben untersuchte ich die „alteingesessenen“ Bewohner von Taschkent, sowie Menschen, die aus dem Ferghanatal, aus Buchara, aus Samarkand, und aus den Regionen Surxondaryo und Qashqadaryo in die Hauptstadt migriert waren. Es lassen sich viele verschiedene Wege finden, Menschen einer Gruppe zuzuordnen. Mir kam es in meiner Forschung darauf an, die Perspektive der untersuchten Menschen selbst zu verstehen. Ich ging also von der Selbstzuschreibung von Identitäten aus, und davon, wie Akteure Gruppenzugehörigkeiten (eigene und fremde) unterscheiden. Zudem konzentrierte ich mich darauf, wie die Gruppen ihrem „Wir-Sein“ Sinn geben, und wie sie die Anderen definieren. Für meine Forschung und Analyse greife ich auf eine große Auswahl von Arbeiten aus den Bereichen Ethnologie, Geschichte, Wirtschaft und Soziolinguistik zurück. Meine Hauptbezugspunkte waren klassische Ethnizitästheorien, die Autochtonie-Debatte in Teilen Afrikas, die Analyse von Kommunikationssituationen und Untersuchungen individueller Handelungsstrategien in Kontexten persönlicher Abhängigkeiten.

Ein wichtiges Ergebnis meiner Arbeit ist, dass die Unterscheidung des „Wir“ von dem „Anderen“ nicht einfach nur das Resultat des Kontaktes mit dem relevanten Anderen ist. Vielmehr wird diese Unterscheidung auch von externen Strukturen und Prozessen wie etwa staatlicher Politik und der allgemeinen wirtschaftlichen Situation beeinflusst. Zudem ist all dies vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der Region (Zentral Asien; Usbekistan) zu sehen. Eine der herausragenden Folgen des wirtschaftlichen Scheiterns der unabhängigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion war die zunehmende Mobilität und Migration. Seit Mitte der 1990er stieg die inländische Migration stetig an, insbesondere in der Region Choresm, wo die Bewässerungsprojekte aus sowjetstaatlicher Zeit zur Desertifikation geführt haben.

Die staatlichen Behörden reagieren auf die gesteigerte Mobilität mit inoffiziellen, einschränkenden Maßnahmen, die zum Teil den in der Verfassung garantierten Rechten der Bürger entgegenstehen. Faktisch operieren die Behörden Usbekistans auf zwei Ebenen: einer „offiziellen“ (zakonniy) und einer „inoffiziellen“ (vnutrenniy) Ebene. Offizielle Erlasse und Gesetze sind öffentlich einsehbar. Inoffizielle Maßnahmen werden nur zu internen Zwecken des Ministeriums für Inneres und der usbekischen Sicherheitsdienste ergriffen. Eine dieser Regelungen, die gleichzeitig offizielle und inoffizielle Aspekte beinhaltet, heißt propiska. Die auf Russisch so bezeichnete Regelung stammt ursprünglich aus der Sowjetzeit und sollte damals die kontrollierte „Durchmischung“ der Bevölkerungen der Sowjetrepubliken befördern. Ziel war die Produktion einer einheitlichen sowjetischen Nationalität. Die Regelung, die vor allem Ortswechsel und Aufenthalt an Orten betrifft, wurde von der post-sozialistischen Regierung Usbekistans beibehalten. Allerdings dient sie nun vor allem der Einschränkung der Mobilität von usbekischen Staatsbürgern im eigenen Land. Wenn ein usbekischer Staatsbürger umziehen will, dann muss er oder sie an seinem neuen Wohnort die Bestätigung der propiska erhalten, sonst wird er/sie automatisch als illegal im eigenen Land eingestuft. Propiska und andere zum Teil inoffizielle Regierungsdirektiven und Praktiken staatlicher Beamter schaffen das politische Umfeld, in dem die meist als illegal eingestuften Migranten aus den Regionen in die Hauptstadt reisen und sich niederlassen müssen. Dieses Umfeld wirkt sich auf individuelle Alltagspraktiken und „Überlebens-Strategien“ von Akteuren aus. Zudem führt es zu der Bildung translokaler Netzwerke zwischen den Regionen und der Hauptstadt und Formen sozialer Organisation von Migranten in Taschkent, die sich auf Basis von ethnischer Zugehörigkeit und gegenseitigem Vertrauen herausbilden. Die propiska Regelung macht die Land-Stadt-Migration in Usbekistan genauso kompliziert wie internationale Migration in anderen Kontexten, da die meisten inländischen Migranten zumindest temporär „illegal“ im eigenen Land werden. Auch die staatlichen Kontrollmechanismen sind ähnlich streng wie an internationalen Grenzen und in Bezug auf internationale Migranten. Polizisten in Taschkent greifen „verdächtige Migranten“ gezielt auf. Wer sich ohne propiska-Bestätigung länger als drei Tage an einem Ort aufhält, muss mindestens mit einer Geldstrafe rechnen. Arbeiter versuchen durch das Zahlen von Bestechungsgeldern weitere Probleme hinsichtlich ihrer Arbeit an einem Ort zu vermeiden, an dem sie sich offiziell nicht aufhalten dürfen.

Die Bevölkerung selbst reagiert auf die beschriebene propiska Regelung mit Anpassungen und Bewältigungsstrategien, indem einzelne Gruppen neue soziale Institutionen schaffen, die eine Reihe von Diensten für Mitglieder einer bestimmten Gruppe, zum Beispiel von Choresmiern, in Taschkent anbieten. Netzwerke von Familien, Verwandten und Freunden arbeiten zusammen, unterstützen einander, organisieren den Alltag und füllen Teile der Regionalkultur in Taschkent wieder mit Leben. Auf gewisse Art besteht hier ein „post-sowjetisches propiska Paradox“, da diese Regelung der Sowjetregierung, die ursprünglich zur Schaffung einer einheitlichen Sowjetnation dienen sollte, im postsowjetischen usbekischen Staat zu internen Spaltungen entlang ethnischer und sub-ethnischer Zugehörigkeiten führt.

Somit bilden staatliche Maßnahmen zur Einschränkung der Mobilität in Kombination mit dem Wegfall eines effektiven Sozialsystems den Hintergrund für Entwicklungen, die sonst nur in der Forschung zu internationaler Migration beobachtet werden. Dazu gehören die Bildung von ethnischen Netzwerken und Mechanismen wie Nachfolgemigration und die Existenz von Schattenwirtschaften. Vor diesem Hintergrund bekommt die Analyse der interethnischen Beziehungen einen gemischten Charakter. Zum einen beinhaltet sie Elemente klassischer interethnischer Forschung wie z.B. in Mitchells (1969) Untersuchung urbaner Ethnizität; zum anderen spielen auch Muster ländlich-urbaner Differenzierung eine Rolle (Yessenova 2005).

Der theoretische Rahmen meiner Dissertation hat drei Bestandteile. Erstens untersuche ich die linguistischen Aspekte interethnischer Beziehungen auf der Stufe der Interaktionen von Choresmiern mit Mitgliedern anderer ethnischer Untergruppen in Taschkent. Bekanntermaßen ist Ethnizität eine Art kollektiver Identität, die sich dadurch auszeichnet, dass sich Mitglieder von ethnischen Gruppen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich von Sprache, Religion, äußeren Merkmalen, und/oder Abstammung berufen. Diese Berufungen und Eigen- sowie Fremdzuschreibungen sind allerdings flexibel und werden von den betroffenen Akteuren dem jeweiligen Kontext angepasst (Schlee 2002, 2008a). In meiner Dissertation interessiert mich besonders, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede von und zwischen den Mitgliedern verschiedener Gruppen kommuniziert werden. Die Sprache der Identifikation muss mit bestimmten Werkzeugen untersucht werden, um die Art der Kommunikation, die Qualität des Kontaktes und die angewandten Übermittlungsstrategien zu verstehen. Es ist auch entscheidend, ob und wie der jeweils Andere die Kommunikation verstanden hat. Ich beziehe mich hierbei stark auf Arbeiten von Gumperz, der interethnische Beziehungen in urbanen Räumen mit linguistischen Mitteln und im Hinblick auf rhetorische Strategien untersucht hat (Gumperz 1997). Er betonte, dass Akteure bei der Kommunikation von ethnischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden „Wir-Codes“ und „Sie-Codes“ einsetzen. Diese werde ich in Bezug auf mein Untersuchungsfeld im linguistischen Teil meiner Arbeit im Detail behandeln. Kommunikation impliziert den Austausch von Informationen, die abhängig vom Kontext und vom Hintergrund der Gesprächspartner unterschiedlich interpretiert werden. Ich folge dem interpretativen soziolinguistischen Ansatz von Gumperz, um die Bedeutungen von kommunizierten Identitäten und Unterschieden zu beleuchten. Die soziolinguistische Analyse des Kontaktes zwischen den usbekischen Gruppen zeigt die Bezugspunkte für die Sprachauswahl und die Zugehörigkeitspräferenzen der Akteure in Relation zu dem relevanten Anderen auf. Dieser erste Teil meines theoretischen Rahmens schafft die Basis für die weiteren Untersuchungen anderer Variablen, die in Identifikationsprozessen eine Rolle spielen.

Der zweite Teil meines Theoriegerüstes konzentriert sich auf die Diskurse und Praktiken im Rahmen von Identitätspolitiken zwischen Gruppen. Hier spielen gut wahrnehmbare Identitätsmerkmale und deren Herausstellung und Repräsentation eine zentrale Rolle. Zu diesen Markern gehören bewusste Zugehörigkeit und Identifikation mit einer Gruppe, die Schaffung und/oder Konstruktion eines Zuhauses, äußerliche („physische“) Merkmale, Kleidung, Speisen, Heiratsstrategien und die Zurschaustellung der eigenen Kultur in der öffentlichen Sphäre von Identitätspolitik, zum Beispiel im Rahmen von Kulturfestivals.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die Kommunikation und Repräsentation von kollektiven Identitäten in Usbekistan seit 1991 im Kontext von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Wandlungsprozessen und gesteigerter Mobilität stattfinden. Menschen sind also zur Anpassung an neue Kontexte und Umfelder gezwungen. Dies hat Auswirkungen auf Identifikationsprozesse (Schlee 1989, 2008a).

Der dritte Bestandteil meines theoretischen Rahmens ergänzt das bisher Ausgeführte um die Untersuchung der Dynamiken innerhalb von Gruppen. In meinem Fall untersuche ich, wie innerhalb der choresmischen Gemeinde in Taschkent und zwischen der Hauptstadt und der Region Choresm eine „Wir-Domäne“ geschaffen wird. Bestehende Arbeiten zu interethnischen Beziehungen betrachten das „Wir“ oft als selbstverständlich und gegeben und konzentrieren sich hauptsächlich auf den sozialen Raum zwischen Gruppen, der von den Unterscheidungen zwischen ihnen ausgemacht wird. Es geht diesen Ansätzen also vor allem darum, wie das „Sie“ definiert wird. In meiner Arbeit gehe ich jedoch auf die sozialen Beziehungen innerhalb der „Wir-Domäne“ ein und argumentiere, dass das „Wir“ nicht nur ein Behältnis für Elemente der Kultur ist, die nach außen repräsentiert werden, sondern sich aus einer Reihe von Beziehungen zusammensetzt, die sich, von äußeren Faktoren beeinflusst, im Inneren einer Gruppe herausbilden. Zu diesen äußeren Faktoren gehören im Fall der Choresmier deren Beziehungen zu anderen Gruppen in Taschkent, aber auch die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Usbekistan.

Dieser Prozess der internen Gruppenbildung ist dynamisch und die Beziehungen in der „Wir-Domäne“ müssen ständig neu verhandelt werden. Diese Beziehungen sind selbst voll von Widersprüchen und führen auch zu sozialer Schichtung innerhalb der jeweiligen Gruppe. Im Fall der von mir untersuchten Choresmier lassen sich innerhalb der gruppenspezifischen Netzwerke Unterschiede entlang von Einkommen, Ressourcen-Zugang, und Abhängigkeiten in Form von Patron-Klient Beziehungen erkennen. Diese überschneiden sich zum Teil mit Verwandtschaftsbeziehungen. Um den Komplex aus Netzwerken von Beziehungen mit overlapping und cross-cutting ties zu durchschauen, konzentriere ich mich auf einen auf Heiratsbeziehungen. Zum anderen untersuche ich Patron-Klient Beziehungen, die oft zwischen Verwandten innerhalb der weiteren choresmischen Gemeinschaft bestehen. Letztere hängen sehr eng mit alters- und geschlechtsabhängigen Pflichten und Verantwortlichkeiten zusammen. Ich unterscheide hier zwischen Bindung (bonding) und Identifikation (identification). Schlee (2008a) spricht von Bindung vor allem in Bezug auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Bourdieu (1977: 196) spricht von Bindungen auch zwischen Gläubiger und Schuldner sowie Herren und „khammes” (Pächterbauern). Ich integriere beide Aspekte in Bezug auf meine Analyse des inneren Zusammenhangs der chroresmischen Gemeinschaft in Taschkent. Bindungen und Abhängigkeiten werden von ethnischen Führungspersonen immer wieder strategisch reproduziert und bilden damit eine wesentliche Grundlage für Gruppenzugehörigkeit und Identifikation.

In theoretischer Hinsicht trägt meine Dissertation insgesamt zum Verständnis von kollektiver Identität und Kommunikation bei. Kollektive Identitäten bestehen aus unendlich vielen Einzelbeziehungen, die meist auf Macht und Abhängigkeit basieren. Es existieren interne Unterteilungen und Hierarchien, die für das, was das „Wir“ zum „Wir“ macht, sehr relevant sind. Das „Wir“ ist keine homogene Einheit, die sich selbst gegenüber dem Anderen präsentiert. Kollektive Identitäten werden durch den Prozess der kollektiven Identifikation geprägt und verändert.

Mein theoretischer Rahmen legt nahe, dass bei der Vereinfachung von sozialen Beziehungen zum Zwecke der analytischen Untersuchung zwei unterschiedliche Bereiche von Beziehungen sichtbar werden, die im Identifikationsprozess eine Rolle spielen: einerseits die „Ich und Wir“ Beziehungen, und andererseits jene von „Wir und Sie“. Die Beziehungen des Bereiches „Ich und Wir“ stehen in dialektischer Verbindung zu denen des Bereiches „Wir und Sie“. Es findet jedoch keine Assimilation beider Seiten statt. Im Gegenteil werden die Unterschiede multipliziert und beide Seiten definieren ihr „Wir-Sein“ gegenüber dem Anderen. Widersprüche werden nicht gelöst, sondern nehmen eher einen noch komplexeren Charakter im fortwährenden Prozess der Identifikation an. Ich behandele die einzelnen Aspekte der verschiedenen Beziehungsbereiche im Detail in den Kapiteln IV bis VIII.

Neben theoretischen und methodischen Beiträgen zur ethnologischen Forschung erweitert meine Arbeit vor allem die Forschung zur Region Choresm und zu Usbekistan, die in der Ethnologie bisher kaum eine Rolle spielen. Laut Kuhenast (2000:103,104) war es nur einer geringen Zahl von Ausländern gestattet, die Region Choresm in Sowjetzeiten zu bereisen. Zu diesen Wenigen gehörten Hughes, Maillart und Bacon die sich dort in den 1930er- und 1960er-Jahren aufgehalten haben. Zusammen mit jüngerer Literatur von Finke (2006), Reeves (2007) und anderen trägt mein ethnographisches Material zu den Regionalwissenschaften bei. Mein Fokus auf Reise-Erfahrungen von internen Migranten und Aspekte ihres täglichen Lebens in Taschkent, sowie das von mir analysierte Material zur Sprache und die Beschreibungen, wie interethnische Beziehungen im urbanen Kontext geschaffen und gepflegt werden, sind in diesem Zusammenhang als besondere, eigenständige Beiträge zur Usbekistanforschung zu werten. Zudem macht meine Arbeit die Region nicht nur einem wissenschaftlichen Publikum zugänglich, sondern auch Laien, die sich für diesen Teil der Welt interessieren.

Meine Dissertation gliedert sich in fünf themenorientierte Teile, die meist mit einer eigenen thematischen Einführung beginnen. Teil I liefert den einführenden Hintergrund und präsentiert in zwei Kapiteln (Kapitel I und II) die theoretischen und empirischen Grundlagen zur Arbeit sowie einen Überblick über die früheren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Zentralasien. Der Fokus liegt hierbei auf konkreten Problemen in bestimmten Zeitperioden. Bestandteil dieses Überblicks sind sowohl frühere und gegenwärtige Migrationsprozesse als auch die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Region mit deren historischen Implikationen für die Bildung der Gesellschaft und sozialer Gefüge, Normen und Werte einschließlich familiärer und verwandtschaftlicher Bindungen sowie Geschlechterrollen und -beziehungen. Die historische Betrachtung dieser Problemfelder macht es möglich, Veränderungen und Entwicklungen zu verfolgen, welche die Inhalte und Dynamiken von interethnischen Beziehungen beleuchten können, die ich in meiner Arbeit analysiere.

Teil II umfasst Kapitel III und stellt die Land-Stadt-Migration in Usbekistan anhand von Erfahrungen von Migranten vor. Diese inländische Migration ähnelt dem Muster von internationaler Migration. Zunächst beschreibe ich Geschichten von inländischen Migranten, die nach Taschkent kommen. Typische Geschichten zur Reise, Ankunft und Ansiedlung in Taschkent bilden das Herzstück des Kapitels III. Ein ethnographischer Abschnitt beschäftigt sich zudem mit dem propiska Büro, seinen Kunden, und den in diesem Büro stattfindenden oft illegalen Aktivitäten. Die detaillierten Beschreibungen des Legal-Seins und Illegal-Werdens im eigenen Land bieten Einblicke in die Machtverhältnisse, die ich in Kapitel VIII im Zusammenhang mit Bindung und Identifikation weiter beschreibe.

Teil III behandelt die linguistischen Aspekte des Identifikationsprozesses. Er besteht aus zwei Kapiteln. Kapitel IV gibt einen detaillierten Überblick der linguistischen Unterschiede der usbekischen Dialekte gegenüber der usbekischen Schriftsprache. Kapitel V stellt diverse rhetorische Strategien und linguistische Mittel vor, die während des Identifikationsprozesses angewandt werden. Die Ethnographie der Kommunikation von Choresmiern und anderen usbekischen Gruppen in Taschkent ist geprägt von „Wir-Codes“ und „Sie-Codes“, sowie von Absichten und „wahrgenommenen Absichten“, welche den Mittelpunkt der theoretischen Diskussion in diesem Teil bilden. Damit trägt Teil III wesentlich zur Hauptargumentationslinie meiner Arbeit bei bezüglich der Art und Weise, wie Identitäten gegenüber dem jeweils Anderen kommuniziert werden. Dieser Teil schlägt den Bogen zurück zum ersten Teil meines theoretischen Rahmens, der die Identitätspolitik zwischen verschiedenen Gruppen in Taschkent behandelt.

Teil IV beinhaltet Kapitel VI und knüpft an die Analysen des vorangegangenen Teils III an und baut auf den dort vorgestellten Ergebnissen zu Kommunikation und Identifikation auf. Kapitel VI analysiert die augenscheinlichen Dynamiken und Spannungen des kollektiven Identifikationsprozesses usbekischer ethnischer Untergruppen in Taschkent. Das Kapitel stellt die Perspektiven verschiedener Akteure dar und betrachtet die Elemente der Identitätspolitik von Choresmiern, Taschkentern und anderen usbekischen Gruppen. Das Kapitel vervollständigt damit den linguistischen Teil der Hauptargumentation der Arbeit durch die Untersuchung der Interaktion und Beziehungen zwischen dem Schaffen des „Wir“ und des „Sie“. Teil III und IV bilden zusammen das Herzstück der Dissertation mit den Ausführungen zur Kommunikation und Repräsentation von kollektiven Identitäten zwischen Choresmiern und anderen Gruppen in Taschkent.

Teil V beschreibt in den Kapiteln VII und VIII die internen Dynamiken der Choresmier-Gemeinde, in denen ich die Widersprüche der Identitätsbildung innerhalb der Gruppe aufzeige. Ich weise in meiner Arbeit die Sichtweise zurück, welche zwar die Beziehungen zwischen dem „Wir“ und dem „Sie“ betrachtet, aber das Innenleben des „Wir“ ignoriert. Kapitel VII stellt verschiedene Formen und Strategien von gemeinschaftsbildenden Projekten und sozialer Organisation der Choresmier vor. Der Schwerpunkt liegt auf Vernetzungsstrategien, die vor allem Möglichkeiten für die Ansiedlung von Neuankömmlingen in Taschkent schaffen sollen. Diese Strategien werden besonders von Führungspersonen und Akteuren erfolgreich angewandt, die im Prozess der Gemeinschaftsbildung eine Rolle spielen. Das Kapitel stellt zudem Strategien vor, mit denen die Choresmier spätere Heiratspläne innerhalb ihrer eigenen Netzwerke und Gruppen absichern. Dies wird exemplarisch anhand der Autobiographie einer Führungsperson (Sayora) in der Choresmier-Gemeinde nachgezeichnet, die in mehrere Netzwerke, Partnervermittlungsdienste und eine Brautschule in Taschkent involviert ist. Kapitel VIII untersucht die Bindungen und Abhängigkeiten unter den Choresmiern in Taschkent und zeigt die internen Widersprüche der Gemeinde auf. Macht, Abhängigkeit und Autonomie werden hier als Variablen betrachtet, um die Entstehung von ungleichen Beziehungen zu beleuchten. Ich erforsche die Dynamiken von Beziehungen zwischen Abhängigkeit und Macht; zudem unterscheide ich zwischen Bindung und Identifikation.

Teil VI bildet den Abschluss der Arbeit. Das hier enthaltene Kapitel IX präsentiert die Ergebnisse meiner Forschung und zeigt die Verbindungen auf, die sich aus den Resultaten ergeben. Diese Verbindungen bestehen z.B. zwischen den beschriebenen Identifikationsprozessen einerseits und der sich wandelnden Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft andererseits. Hier hat sich seit dem Ende der sowjetischen Wirtschafts- und Sozialordnung viel verändert. Verwandtschaftsnetzwerke und „traditionelle“ Arrangements in Bezug auf Heirat und andere life-cycle Ereignisse haben stark an Bedeutung gewonnen. Eine weitere Verbindung sehe ich zwischen Kommunikation und Identifikation, wobei ich in meiner Schlussbetrachtung besonders auf die Bedeutung von fehlgeleiteter Kommunikation (miscommunication) eingehe. Ich hebe zudem die Unterscheidung zwischen den zwei verschiedenen Auffassungen von Bindung und Identifikation bei der theoretischen Betrachtung von Identitäten und Identifikation hervor.

Am Ende des Kapitels stelle ich noch einige Thesen zu kollektiven Identitäten ethnischer Untergruppen in Taschkent auf. Erstens, Sprachvarianten und rhetorische Strategien sind bedeutend für kollektive Identifikationen, besonders in solchen Regionen, die unterschiedliche Sprachgruppen umfassen. In diesem Zusammenhang sind diverse Kategorien von Gruppenzugehörigkeit und kollektiver Identifikation oft widersprüchlich und variabel. Zweitens, Prozesse kollektiver Identifikation beruhen im Kern auf Beziehungen, die der sozialen und wirtschaftlichen Absicherung dienen und die oft auf Verwandtschaft beruhen. Drittens, kollektive Identitäten werden durch ethnische und Verwandtschaftsnetzwerke sowie durch „Routinepraktiken“ institutionalisiert (Jenkins 1997: 26), was Transaktionen und die Ordnung innerhalb und zwischen Gruppen aufrechterhält. Diese Ordnung hat auch Bestand aufgrund der gruppeninternen Mac- und Abhängigkeitsbeziehungen. Letztere machen wesentliche Bindungen innerhalb von Gruppen aus. Viertens, die Staatsgewalt bildet nicht die institutionelle Grundlage von kollektiven Identitäten, sie existieren eher in relativ unabhängiger Form mit ihren eigenen Hierarchien und Grundsätzen. Die Staatsgewalt beeinflusst die Ordnung und Grundsätze durch formelle und informelle Gesetzgebungen und Kontrollpraktiken.

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