Transhumant pastoralists, translocal migrants : space, place and identity in a group of Fulbe Wodaabe in Niger

Florian Köhler
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
17.10.2016

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Nikolaus Schareika

German Summary | Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation basiert auf einer fünfzehnmonatigen ethnologischen Feldforschung, die zwischen November 2010 und Januar 2012 überwiegend in der Provinz Zinder im östlichen Zentralniger durchgeführt wurde. Am Beispiel einer Gruppe von Fulɓe Woɗaaɓe wurden rezente Transformationen in den Mobilitätsmustern von mobilen Viehhaltern untersucht. Die Arbeit untersucht zum einen, wie sich diese Transformationen auf die Beziehungen der Menschen zu Raum, Ort und Territorium auswirken und zum anderen, welche Veränderungen sie in Bezug auf Gruppenbildungsprozesse und Prozesse kollektiver Identifikation nach sich ziehen.

Die Woɗaaɓe gehören zu der großen Gruppe der Fulɓe, die als Ergebnis komplexer historischer Migrationen heute über weite Teile Westafrikas und in geringerem Maße bis Ostafrika verbreitet sind. In der klassischen Literatur (Dupire 1962) und auch in der Mehrzahl der neueren Publikationen (z.B. Bonfiglioli 1988; Schareika 2003a) sind die Woɗaaɓe in Niger vor allem als hochspezialisierte und äußerst mobile Rinderhalter dargestellt worden. Nach großen Viehverlusten während der Saheldürren der 1970er und 1980er Jahre unterlagen sie jedoch zunehmend dem Zwang zur ökonomischen Diversifizierung, der zu unterschiedlichen Entwicklungen geführt hat: Im ländlichen Raum sind heute Tendenzen zur teilweisen Sedentarisierung und zur Aufnahme von Landwirtschaft zu verzeichnen. Parallel dazu hat sich Arbeitsmigration in regionale urbane Zentren als wichtige Erwerbsquelle etabliert und ist längst nicht mehr, wie in den meisten Quellen beschrieben, ein saisonales Phänomen, sondern hat zur Herausbildung dauerhafter urbaner Migrantengemeinschaften geführt. Obwohl die Transformationen der jüngeren Vergangenheit in der Literatur zu den Woɗaaɓe nicht unberücksichtigt geblieben sind (siehe z.B. Boesen 2007a; Loftsdóttir 2001a), gab es bisher keine ausführlicheren Studien die den (agro-)pastoralen und den urbanen Kontext nicht nur in mehr oder weniger getrennter Betrachtung gegenüberstellend (z.B. Loftsdóttir 2000), sondern gleichberechtigt und im Zusammenhang behandeln. Die vorliegende Arbeit geht von der Grundannahme aus, dass beide Bereiche heute ein untrennbares Ganzes bilden, zu dessen Gesamtverständnis insbesondere eine genaue Analyse der translokalen Beziehungen, die zwischen ihnen entstehen, unerlässlich ist. Das in der jüngeren Literatur ebenso häufig wie heterogen verwendete Konzept der Translokalität (siehe z.B. Ben Arrous 2004; Freitag und von Oppen 2010; Brickell und Datta 2011; Greiner und Sakdapolrak 2013) wird hier deshalb nicht allein als Terminus zur Beschreibung von sozialen Beziehungen und Prozessen verwendet, die eine Gemeinschaft über geografische Räume hinweg konstituieren, sondern, wie von Freitag und von Oppen (2010) vorgeschlagen, auch im Sinne einer Forschungsperspektive, die das Augenmerk der Analyse nicht nur auf unterschiedliche Akteure an unterschiedlichen Orten legt, sondern insbesondere auf die Verbindungen, die zwischen diesen Akteuren über räumliche Distanzen hinweg bestehen. Aufgrund der zentralen Bedeutung solcher translokaler Beziehungsstrukturen innerhalb der Untersuchungsgruppe wurde Forschungsansätzen, welche die Kategorien „Raum“ und „Ort“ als durch soziale Beziehungen konstituiert auffassen, besondere Beachtung geschenkt (Lefebvre 1991 [1974]; de Certeau 1984; Massey 1994; Sheller und Urry 2006; Ingold 2007, 2009; Retaillé 2010, 2013; Retaillé und Walther 2012). Eine solche Auffassung erlaubt es, pastorale ebenso wie moderne Migrationsprozesse als konstitutiv für komplexe soziale Räume, im Sinne translokaler Beziehungsgeflechte, zu verstehen.

Während sich die jüngere Migrationsforschung durchaus auch dafür interessiert hat, wie Konstruktionen von Identität und Differenz in Kontexten weitgehender Deterritorialisierung kultureller Unterschiede heute räumlich neu verortet werden (Gupta und Ferguson 1997b: 3), nehme ich mich dieser Fragen hier mit Bezug auf eine Gruppe mobiler Viehhalter an, für die Deterritorialisierung und translokale Sozialstrukturen keine neuen Phänomene sind, sondern vielmehr eine historische Konstante waren, lange bevor urbane Arbeitsmigration eine relevante Größe wurde. Sie entstanden hier aus den Mobilitätsmustern der Viehhaltung, welche in der ressourcenkargen Umwelt des Sahel, die keine großen Herdenkonzentrationen zulässt, eine weitgehende Zerstreuung in Kleinstgruppen für einen signifikanten Teil des Jahreszyklus notwendig macht. Die Aufrechterhaltung von Gemeinschaften über teilweise erhebliche räumliche Distanzen hinweg ist mithin für die Woɗaaɓe keine neue Herausforderung. Wie meine Forschungsergebnisse zeigen, sind auch die zeitgenössischen Formen von Mobilität Strategien zur Ressourcenerschließung und bauen insofern auf kulturell etablierten Mustern auf, die sich in der Forschungsregion als Anpassung an die unwägbaren ökologischen Risiken von Dürre und einer unberechenbaren räumlichen Verteilung von Weideressourcen herausgebildet haben.

Eine wichtige Grundannahme der vorliegenden Arbeit ist, dass pastorale Mobilität und Migration sowie die damit zusammenhängenden Prozesse des placemaking bei den Woɗaaɓe untrennbar mit Prozessen der Herausformung sozialer Gruppen, und damit letztendlich mit Fragen kollektiver Identifikation verbunden sind. Mit Barth’s (1969) bereits klassischem Konzept der ethnischen Grenzziehung werden Prozesse kollektiver Identifikation bei den Woɗaaɓe hier als Prozesse der Konstruktion sozialer Grenzen, im Sinne von sich dynamisch und situativ wandelnden Schnittstellen mit dem Anderen, aufgefasst. In der Analyse dieser Schnittstellen zwischen Gruppen, die den Rahmen möglicher Identitätskategorien vorgeben, differenziere ich dabei in solche entlang externer Grenzen (d.h. Schnittstellen mit anderen ethnischen Gruppen) und solche entlang interner Grenzen (d.h. Schnittstellen zwischen Gesellschaftssegmenten auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere zwischen Klanen).

Auf der Basis dieser Überlegungen wird die Forschungsfrage entwickelt, welche Rolle Raum und Ort in Prozessen kollektiver Identifikation unter den Bedingungen von Mobilität und Migration zukommen. Unterschiedliche Lokalitäten bringen verschiedene Konstellationen von Schnittstellen zwischen sozialen Gruppen hervor und führen daher potentiell zu unterschiedlichen Identitäten. Dies ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit in zweifacher Hinsicht relevant: Erstens können die Fulɓe als paradigmatischer Fall einer Gruppe gelten, deren Geschichte von konstanter Mobilität und häufigen Migrationen geprägt ist und die aufgrund dessen, wie Schlee (Diallo und Schlee 2000; Schlee 2011) hervorgehoben hat, ihre Identität in immer wieder andern Kontexten und mit wechselnden Nachbarn neu verhandeln mussten. Zweitens ist auch der Migrationskontext im poly-ethnischen urbanen Milieu von besonderem Interesse für die Untersuchung von Prozessen der Identitätskonstruktion, weil das enge Zusammenleben mit ethnisch anderen beständig neue Stellungnahmen bezüglich der Fragen nach Differenz und Identität verlangt (Schlee 2013b).

Soziale Gruppen entstehen bei den Woɗaaɓe in fortwährenden Prozessen der Neustrukturierung, in denen räumliche Bewegungen und translokaler sozialer Austausch zentrale Größen sind. Diese Prozesse sind geprägt einerseits von der inneren Differenzierung und Teilung von Abstammungsgruppen, andererseits von der Verschmelzung und Inkorporierung von lokalen Gruppen auf der Basis von längeren Perioden von Nachbarschaft innerhalb eines geteilten Weideraumes (Dupire 1962; Bonfiglioli 1988). Die parallel ablaufenden Prozesse von Migration und Gruppenteilungen haben zur Folge, dass Abstammungsgruppen vielfach fragmentiert und in räumlicher Verstreuung leben. In dieser Perspektive ist der Prozess des placemaking historisch betrachtet die sukzessive Etablierung in immer wieder neuen Weideregionen. Der Kontakt einer Fraktion, die in eine neue Weideregion gezogen ist, zu der zurückgelassenen Gruppe kann dabei, abhängig von der geografischen Distanz, rege bleiben. Soziale Beziehungen können über weite räumliche Distanzen Bestand haben und werden nicht zuletzt deshalb gepflegt, weil sie ein wichtiges Sicherheitsnetzwerk für den Fall von ökonomischen Verlusten darstellen.

Darüber hinaus spielt im Rahmen des placemaking, das nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis wesentlich eine soziale Komponente im Sinne von Konstruktionen von Identität und Differenz beinhaltet (Gupta und Ferguson 1997b), die Interaktion mit lokal benachbarten Gruppen eine zentrale Rolle. In der Untersuchungsregion sind die Woɗaaɓe Teil eines weiteren Umfelds, das hier als poly-ethnischer ökonomischer, politischer und sozialer Raum verstanden wird, der das Produkt von Interaktionen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen ist. Ich unterziehe diese Interaktionen einer genaueren Betrachtung und zeige anhand von Schlees (2004, 2008; siehe auch Donahoe et al. 2009) taxonomischem Modell, dass die Beziehungsmuster durch ein Kontinuum von einander überlappenden Identitätskategorien von unterschiedlichem Inklusionsgrad strukturiert sind, die situativ variierende Identifikationen entlang verschiedener Dimensionen (z.B. Ethnizität, Lineage- und Klanzugehörigkeit, Religion) zulassen. Der meta-ethnische soziale Raum erlaubt mithin unterschiedliche Interpretationen der gegenseitigen Gruppenbeziehungen und vermag situativ variierenden Wahrnehmungen von Identität und Differenz Ausdruck zu geben. Dies erlaubt wechselnde Interessensbündnisse und, trotz aller behaupteten Differenzen, zweckorientierte Konsolidierung beispielsweise zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Eine integrative Bedeutung kommt hier einer Anzahl lokal verankerter Institutionen zu, welche die Kommunikation zwischen den Gruppen fördern. Hier sind zum einen ökonomische Austauschbeziehungen, Gastgeber-Gast-Beziehungen und interethnische Scherzbeziehungen zu erwähnen, zum anderen aber auch die integrative Wirkung des spezifischen Landnutzungssystems. Dieses war in Niger, wie in vielen anderen Teilen des westafrikanischen Sahel (Gallais 1975; Retaillé und Walther 2011: 87) historisch nicht von exklusiv genutzten Räumen, sondern von saisonal variierender Nutzung durch unterschiedliche Gruppen gekennzeichnet, wie z.B. Dafinger und Pelican (2002) es unter dem Begriff „sharing system of land use“ für das benachbarte Burkina Faso beschrieben und die Bedeutung eines solchen Systems für Austausch und Interaktion zwischen benachbarten Gruppen hervorgehoben haben.

Im Rahmen der heute verstärkt in der Untersuchungsgruppe zu beobachtenden Tendenz zur lokalen Fixierung als Agro-Pastoralisten im engeren Umkreis von individuell erworbenen Pastoralbrunnen unterliegen die Muster des placemaking im ländlichen Bereich weitreichenden Transformationen. War der Prozess in der Vergangenheit in erster Linie ein Ergebnis der pastoralen Mobilität, so ist heute eine verstärkte Tendenz zur territorialen Anbindung und dauerhaften Erschließung des Raumes durch Landwirtschaft und das Entstehen fester Siedlungen zu verzeichnen. Dadurch wächst die Konkurrenz mit bereits länger sesshaften Gruppen, die ähnliche territoriale Strategien verfolgen, und es ergeben sich neue Konfliktpotentiale um die Nutzung der räumlichen Ressourcen. Auch die Prozesse der Herausbildung von Gruppen verändern sich. So entstehen heute einerseits stärker über die lokale Anbindung definierte Gruppen, andererseits wird der Pastoralismus als primäre Wirtschaftsform dabei nicht aufgegeben, nimmt jedoch neue Formen an. So werden zum Beispiel nur Teile der Bevölkerung sesshaft, während andere sich mit den weiterhin sehr mobilen Herden fortbewegen, was eine Teilung sozialer Gruppen mit sich bringt. Währenddessen bleibt zwischen den lokal verankerten Gruppen eine weitgehende Personalfluktuation entsprechend saisonalen Weidebedingungen weit verbreitet. Allgemein kann festgestellt werden, dass die Mobilität nicht einfach abgenommen, sondern vielmehr neue Formen angenommen hat.

Die Untersuchung der sozialen Interaktionsmuster im urbanen Raum zeigt, ähnlich wie dies oben für den ländlichen Bereich dargestellt wurde, multiple Optionen der Identifikation über soziale Kategorien auf unterschiedlichen taxonomischen Ebenen. Dabei können urbane Migrantengemeinschaften von einem höheren oder geringeren Grad von Inklusion gebildet werden. Im Vergleich verschiedener urbaner Kontexte wird erkennbar, dass Verwandtschaft für die Bildung urbaner Gemeinschaften ein prioritäres Kriterium ist. Fehlen hinreichend große Verwandtschaftsgruppen im Migrationskontext, können jedoch auch andere Dimensionen von Identität, insbesondere Ethnizität für die Herausbildung von Gemeinschaften aktiviert werden. Das kann dazu führen, dass Angehörige verschiedener Woɗaaɓe-Klane, deren Interaktion im pastoralen Raum sonst eher von respektvoller Distanz geprägt ist, in der Stadt enge soziale Beziehungen unterhalten. Dies bestätigt die These von Schlee (2013b), dass die Größe von Migrantengruppen ein entscheidender Faktor für die Frage ist, ob hinsichtlich sozialer Orientierung und Gemeinschaftsbildung eher inklusivere oder exklusivere Identifikationsmuster zum Tragen kommen. Die große Bedeutung von Verwandtschaftsnetzwerken beispielsweise für den Zugang zu Arbeitsplätzen in der Stadt, spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass sich in verschiedenen Woɗaaɓe-Klanen Spezialisierungen für bestimmte urbane Tätigkeiten herausgebildet haben (vgl. auch Loftsdóttir 2001d). Angehörige der Untersuchungsgruppe konnten sich dabei insbesondere als Hauswächter für westliche Entwicklungshelfer in der Stadt Zinder etablieren und haben es verstanden, zu diesen Beziehungsnetzwerke aufzubauen, die teilweise von nicht unerheblicher ökonomischer Bedeutung sind und damit ebenso für Fragen des sozialen Wandels und der Integration in staatliche Strukturen relevant sein können.

Der Islamischen Religion, die in der Untersuchungsregion über alle ethnischen Grenzen hinweg einen gemeinsamen Nenner in der Identitätskonstruktion darstellen könnte, kommt im Hinblick auf Fragen der Integration eine eher ambivalente Rolle zu. Obwohl sich die überwiegende Mehrzahl der Woɗaaɓe vorbehaltslos als Muslime bezeichnen würde, wird ihre muslimische Identität von den Angehörigen anderer ethnischer Gruppen aufgrund eines als lax wahrgenommenen Umgangs mit religiösen Praktiken und Vorschriften oft in Frage gestellt. Interessanterweise ist im Hinblick auf die religiöse Praxis im urbanen Raum tatsächlich oft eine mehr oder weniger weitreichende Anpassung an eine rigidere Variante des Islams anzutreffen, wie sie von der Mehrheit der urbanen Bevölkerung vertreten wird. Diese Anpassung hat nicht zuletzt das Ziel, Stigmatisierungen zu vermeiden, was in auffallender Weise Darstellungen widerspricht, in denen die Woɗaaɓe nicht nur als weitgehend indifferent gegenüber der Meinung anderer Gruppen, sondern als geradezu einer Strategie der Selbststigmatisierung und Abgrenzung verhaftet beschrieben werden (Boesen 2010; Schareika 2004). Solche abweichenden Forschungsergebnisse können jedoch mit der in der Untersuchungsgruppe vorherrschenden Langzeitmigration erklärt werden, im Rahmen derer Tendenzen zur Integration in die urbane Gesellschaft gegenüber der Situation saisonaler Migranten oder Pastoralisten im sporadischen Kontakt mit urbanen Bevölkerungsgruppen eine größere Bedeutung annehmen.

Ein wichtiges Augenmerk wurde zudem auf die Beziehungen zwischen urbanen Migranten und ihren jeweiligen pastoralen Ursprungsgruppen gelegt. Hier führte die Analyse zu dem Ergebnis, dass letztere selbst für Langzeitmigranten in der Regel eine zentrale Bezugsgröße für ihre soziale Orientierung bleiben. Die urbane Migration hat der räumlichen Verstreuung sozialer Gruppen eine neue Dimension gegeben, in Reaktion darauf jedoch auch neue Formen translokaler Verbundenheit hervorgebracht. Der urbane und der agro-pastorale Kontext sind in der Alltagsrealität der Woɗaaɓe heute untrennbar miteinander verbunden und können als komplementäre Sphären eines sozio-ökonomischen Raumes gelten, in dem ständiger Austausch zwischen Akteuren in den beiden Sphären und ständige Fluktuation von Akteuren zwischen beiden Sphären zentrale Prinzipien sind, die dem Ziel dienen, die jeweils vielversprechendsten Ressourcen optimal zu erschließen. Entsprechend sind auch die Muster der Identitätskonstruktion urbaner Migranten weniger ortsbezogen, als vielmehr beziehungsbasiert und translokal orientiert. Nicht zuletzt die relativ kurzen Distanzen zwischen den Ursprungsregionen und den Hauptzielorten der Arbeitsmigranten, welche die Aufrechterhaltung enger sozialer Beziehungen dank der Möglichkeit häufiger Besuche erleichtern, tragen dazu bei, dass die Identitätskonstruktion von Migranten eher durch Kontinuität als durch Brüche charakterisiert ist. Entsprechend sind die Entscheidungen für bestimmte Zielorte auch von Argumenten wie relativer Nähe und Erreichbarkeit, d.h. beispielsweise auch dem Vorhandensein von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, bestimmt. Insbesondere die sich in den letzten Jahren auch in entlegenen Gebieten rasant verbreitende Kommunikation mit dem Mobiltelefon ist hier von großer Bedeutung. Insgesamt zeigt sich, dass trotz bedeutender Neuerungen und Umwälzungen in den Bereichen der Ökonomie, Mobilität und Territorialität, Identifikationsmuster von weitgehender Kontinuität geprägt sind, was bestätigt, dass das Konzept des „Fulɓetums“ flexibel und verhandelbar ist.

Ebenso wie sich die ethnischen Gruppen innerhalb des meta-ethnischen sozialen Raums der Untersuchungsregion zwar einerseits durch gegenseitige Abgrenzung definieren, zugleich aber auch ein gemeinsames Ganzes bilden, gilt dies auch innerhalb der Gemeinschaft der Woɗaaɓe für die sie konstituierenden Klane: Auch hier sind Konsolidierung nach innen und konfrontative Abgrenzung nach außen, d.h. gegenüber anderen Klanen, zentrale Prinzipien, die jedoch von einer ausgleichenden Kohäsivkraft im Gleichgewicht gehalten werden, welche für den Zusammenhang der Klane in einem losen Verbund sorgt. Diese sich im Gleichgewicht haltenden Kräfte von Kohäsion und interner Opposition werden in exemplarischer Weise in der Inter-Klanzeremonie ngaanyka begreifbar, deren detaillierte Analyse ich im letzten Teil der Arbeit vornehme. Eine zentrale Bedeutung dieser Zeremonie ist die rituelle Bekräftigung und Legitimierung einer kulturellen Praxis, nämlich einer Klan-exogamen Form der Heirat (te’egal), bei der bereits verheiratete Frauen sich mit ihrem Einverständnis von Männern aus anderen Klanen „rauben“ lassen. Die Teilnahme eines Klans am rituellen Austausch mit anderen im Rahmen von ngaanyka-Beziehungen - und damit das Akzeptieren des Austauschs von Frauen im Rahmen der te’egal Ehe - ist eine Voraussetzung für die Anerkennung seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Woɗaaɓe-Klane. In meiner Interpretation beziehe ich mich dabei zunächst auf Schareika (2007), der gezeigt hat, wie sich bei den Woɗaaɓe soziale Gruppen über Austauschbeziehungen, genauer, über die Zirkulation von Rindern und Frauen im Rahmen der Klan-endogamen Verlobungsehe (kooɓgal) konstituieren. Ich gehe jedoch einen Schritt weiter und zeige durch die Einbeziehung des Komplexes von ngaanyka und te’egal, dass solche Austauschbeziehungen auch zwischen den Klanen eine wichtige Rolle spielen. In den Begriffen von Mauss (1990 [1925], 1947) interpretiere ich die ngaanyka-Zeremonie dabei als totales soziales Phänomen, das von zentraler Bedeutung für den Zusammenhalt und die Reproduktion der ethnischen Gruppe als ganzer ist (siehe auch Godelier 1999): symbolisch, durch die Bekräftigung der politischen und heiratspolitischen Allianzen zwischen den Klanen, und ganz konkret durch die uterinen Bindungen, die als Resultat der Klan-exogamen te’egal-Ehen entstehen. Die ngaanyka-Zeremonie stellt den Rahmen dar, in dem sich die Beziehungen zwischen den in räumlicher Verstreuung lebenden Klanen periodisch an konkreten Orten manifestieren und erneuern. Dies unterstreicht erneut die zentrale Bedeutung translokaler Beziehungsgeflechte in Gruppenbildungsprozessen bei den Woɗaaɓe, die im Übrigen auch vortrefflich von einer emischen Metapher zum Ausdruck gebracht wird, welche die ethnische Gruppe als Netz beschreibt (gassungol Woɗaaɓe).

Nach dieser eher funktionalistischen Analyse wird anschließend der Frage nachgegangen, welche Relevanz der dauerhafte Kontakt mit den Bedingungen von Moderne und Globalisierung im Rahmen der urbanen Migration heute für Fragen der Reproduktion kultureller Differenz hat. Wie ich an einem zeitgenössischen Fallbeispiel zur te’egal Heirat im urbanen Raum und den sich daraus ergebenden Verwicklungen demonstriere, stellt hier vor allem der Einfluss externer Werte- und Rechtssysteme eine besondere Herausforderung dar. Dass die te’egal Ehe trotz der Komplikationen, die sie im modernen urbanen Milieu leicht mit sich bringt, gerade auch hier ein lebendiges Phänomen ist, kann nicht uneingeschränkt als Zeichen kultureller Kontinuität gewertet werden, sondern hängt, wie ich zeige, nicht zuletzt auch damit zusammen, dass sie in Zeiten weitgehender Pauperisierung eine vergleichsweise kostengünstige Alternative zur Klan-endogamen Verlobungsehe darstellt.
Ein wichtiges Forschungsergebnis, zu dem sowohl die historische Analyse als auch die  Untersuchung der jüngeren Tendenzen zur Sedentarisierung kommen, ist, dass die oft im Zusammenhang mit mobilen Viehhaltern behauptete Strategie der Vermeidung des Staates im Fall der Untersuchungsgruppe nicht ohne Vorbehalte bestätigt werden kann. Vielmehr kann hier im Hinblick auf die Interaktion mit dem präkolonialen, kolonialen und postkolonialen Staat von einer Kombination aus Vermeidung und Kooperation bzw. selektiver Integration gesprochen werden, die zum Teil durchaus opportunistische Züge trägt. So dienen die lokale Anbindung und die Herausbildung von Siedlungen oft in erster Linie dem Zweck, an Verteilungsprozessen durch staatliche und nichtstaatliche Entwicklungs- und Hilfsorganisationen teilzuhaben. Die Mehrzahl der Entwicklungsakteure ist einer sedentären Logik verhaftet und macht die dauerhafte Präsenz an einem Ort zur Bedingung für eine Teilhabe an Ihren Projekten und den damit verbundenen Ressourcen. Diese sind andererseits zu attraktiv, um von den Woɗaaɓe heute ignoriert zu werden. Die beobachteten Sedentarisierungsprozesse müssen daher im Gesamtzusammenhang mit Entwicklungen auf der Ebene der Nigrischen Gesellschaft als ganzer verstanden werden, auf die insbesondere die massive Präsenz internationaler Hilfsorganisationen in den letzten Jahrzehnten einen großen Einfluss gehabt hat. Über diese eher ökonomisch strategischen Gesichtspunkte hinaus kann die aktuelle Tendenz zur stärkeren territorialen Anbindung jedoch zugleich auch als Strategie verstanden werden, langfristig Nutzungsrechte für lokale Ressourcen zu sichern: Sie sind im Zusammenhang mit rezenten Landnutzungs- und Pastoralismusgesetzen im Rahmen des politisch-administrativen Dezentralisierungsprozesses in Niger im vergangenen Jahrzehnt zu verstehen, welche für Gruppen mobiler Viehhalter die Möglichkeit der Anerkennung eines gewohnheitsrechtlichen Stammgebietes (terroir d’attache) vorsehen, innerhalb dessen sie als Kollektiv Vorrechte auf die Nutzung der Weide- und Wasserressourcen genießen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Rolle des Staates aus der Perspektive der Woɗaaɓe heute weniger denn je allein auf die des verhassten Steuereintreibers reduzieren, dem man sich am besten durch Mobilität entzieht. Da sich die neu entstehenden Formen von Mobilität dennoch weitgehend außerhalb der Kontrolle durch den Staat abspielen, sollte die Tendenz zur stärkeren Inklusion in staatliche Strukturen nicht einfach als Unterordnung unter die sesshafte Logik der staatlichen Raumordnung interpretiert werden. Trotz der aktuell zu verzeichnenden Tendenz zur zunehmenden Territorialisierung bleiben räumliche Orientierungen weitgehend von den Prinzipien von Relationalität, Mobilität und Translokalität geprägt.

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