Abteilung 'Resilienz und Transformation in Eurasien'

Überblick

Die Abteilung ‚Resilienz und Transformation in Eurasien‘ (1999–2021), unter der Leitung von Chris Hann, vereinte diverse Forschungsprojekte, größtenteils und im weiteren Sinn mit dem Schwerpunkt auf Wirtschaftsethnologie. Ein Kernthema war die kritische Auseinandersetzung mit postsozialistischen Transformationen in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre; andere Projekte nahmen „reformierte“ Varianten des Sozialismus‘ in China und Vietnam in Hinblick auf soziale Unterstützung und heimische Wirtschaft in den Fokus. Religion und Ritual, ihre Veränderungen und langfristigen Kontinuitäten, hatten ebenfalls einen zentralen Platz.

„Eurasien“ als geographischer Rahmen der Forschung ist nicht als regionalwissenschaftlicher Ansatz zu verstehen, vielmehr ging es um eine langfristige Perspektive auf die menschliche Geschichte. Ziel war es, die Übergewichtung der ethnographischen Gegenwart und des Globalen Südens in der Ethnologie entgegenzuwirken, um die Entwicklung des Fachs zu einer genuin globalen und historischen Wissenschaft voranzutreiben. Das Projekt „REALEURASIA“ – ermöglicht durch einen an Chris Hann vergebenen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats – verkörperte diese Ziele.

Weitere Schwerpunkte setzten die regionalen Cluster, die abwechselnd für einen gewissen Zeitraum die Forschungsrichtungen der Abteilung prägten: Sibirien (Basis eines späteren Sibirienzentrums, 2002–2012); der Kaukasus (vergleichende Studien über Staatsbürgerschaft und Identität unter der Leitung der Minerva-Professorin Lale Yalçın-Heckmann, 2003–2008); sowie Vietnam (Forschung über Kleinhändler unter der Leitung der Minerva-Professorin Kirsten W. Endres, 2011–2016). Weitere Forschungsgruppen untersuchten kulturelles Erbe (unter der Leitung von Christoph Brumann) und historische Ethnologie (unter der Leitung von Dittmar Schorkowitz). Postdoc-Gruppen zum Thema Wirtschaftsethnologie wurden gemeinsam von Catherine Alexander, Stephen Gudeman, Don Kalb und Jonathan Parry geleitet. Neben REALEURASIA wurden weitere Drittmittelprojekte von Deema Kaneff, Frances Pine, Kinga Sekerdej und Ingo W. Schroeder verwirklicht.

Die Abteilung pflegte Kooperationen mit Kolleg:innen auf lokaler Ebene (in Mitteldeutschland), in weiteren Region Osteuropas (vor allem im Rahmen des Visegrád Anthropologists’ Network) sowie in vielen anderen Teilen Eurasiens, von Peking bis Budapest. Zusammen mit Partnerinstituten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gründete die Abteilung die Graduiertenschule IMPRS ANARCHIE (International Max Planck Research School for the Anthropology, Archaeology and History of Eurasia, 2012–2021). Bis Anfang 2023 wurden 30 Doktorand:innen im Rahmen des Programms promoviert.

Eine weitere wichtige Kooperation war MAX-CAM (Max Planck–Cambridge Centre for the Study of Ethics, Economy and Social Change, 2017–2022), ein gemeinsames Projekt mit der Universität Cambridge und der Abteilung für religiöse Vielfalt des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften (Göttingen).

Ab 2011 fanden die jährlichen Goody Lectures unter der Schirmherrschaft der Abteilung statt.

Zwischen 2003 und 2023 erschienen 50 Bände in der von der Abteilung herausgegebenen Buchreihe „Halle Studies in the Anthropology of Eurasia“ (LIT Verlag).

Literatur:

SUMMARY: Twenty Years of Eurasia (extract from Advisory Board report, 2017-19)
Jennifer Cash (ed): Resilience and Transformation in Eurasia, 1999-2014
Report on Activities, 2014-2016
Report on Activities, 2017-2019
Report on Activities, 2020-2022

Wirtschaftsethnologie

Das in der Abteilung verwendete Konzept der Ökonomie basierte auf der substantivistischen Tradition Karl Polanyis (einen ähnlichen Ansatz findet man am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, wo Soziolog:innen dieses Konzept anwenden, um die soziale Einbettung der Wirtschaft in ausgewählten kapitalistischen Gesellschaften zu erforschen). Eine erste, breit angelegte, vergleichende Initiative beschäftigte sich mit der Dekollektivierung der Landwirtschaft in der ehemaligen Sowjetsphäre. Als theoretischer Rahmen diente dabei das Thema Eigentumsverhältnisse. Weitere Arbeiten nahmen beispielsweise die Relevanz von Polanyi in Zeiten des außer Kontrolle geratenen Neoliberalismus‘ und der populistischen Politik in den Blick. Eine Reihe von Postdoc-Projekten wurden in Sammelbänden der Berghahn-Reihe „Max Planck Studies in Anthropology and Economy“ publiziert. Projekte in Südostasien unter der Leitung von Kirsten W. Endres beschäftigten sich mit Händler, Markt und dem Staat in Vietnam (2011–2016) und anschließend mit elektrischer Staatenbildung in der Anrainerregion des Mekong-Flusses (2017–2023). Nicht zuletzt war Wirtschaft auch ein zentrales Thema im ERC-geförderten Projekt „REALEURASIA“ (2014–2020), das die Ökonomie (politisch sowie moralisch) von Familienbetrieben in mittelgroßen Städten empirisch untersuchte, sowie im Kooperationsprojekt MAX-CAM, in dem es um die Verflechtungen von Ethik, Ökonomie und sozialen Veränderungen ging.

Literatur:

Chris Hann and the Property Relations Group: The Postsocialist Agrarian Question. Property Relations and the Rural Condition. Münster: LIT Verlag (2003).
Chris Hann and Keith Hart (eds): Market and Society: The Great Transformation Today. Cambridge: Cambridge University Press (2009).
Stephen Gudeman and Chris Hann (eds): Economy and Ritual: Studies of Postsocialist Transformations. New York: Berghahn Books (2015).
Chris Hann and Jonathan Parry (eds): Industrial Labor on the Margins of Capitalism: Precarity, Class, and the Neoliberal Subject. New York: Berghahn Books (2018).
Kirsten W. Endres: Market Frictions: Trade and Urbanization at the Vietnam-China Border. New York: Berghahn Books (2019).
Chris Hann: Repatriating Polanyi. Market Society in the Visegrád States. Budapest: Central European University Press (2019).
Chris Hann and Don Kalb (eds): Financialization. Relational Approaches. New York: Berghahn Books (2020).
Chris Hann (ed): Work, Society and the Ethical Self: Chimeras of Freedom in the Neoliberal Era. New York: Berghahn Books (2021).
Lale Yalçın-Heckmann (ed): Moral Economy at Work: Ethnographic Investigations in Eurasia. New York: Berghahn Books (2022).

Religion, Zivilgesellschaft und Moralvorstellungen

Zwischen 2003 und 2010 wurde eine Reihe von Projekten über die Wiederbelebung religiöser Praktiken und des Glaubens in der ehemaligen sozialistischen Welt ins Leben gerufen; die Foki lagen auf dem östlichen Christentum und dem islamischen Zentralasien. Zentrale Themen waren die Verflechtungen von Religion mit angeblich säkularen (insbesondere nationalen) Identitäten, Toleranz in postsozialistischen Gesellschaften, die Kommodifizierung von Ritualen und die Verrechtlichung des „religiösen Marktplatzes“. Nachfolgende Forschung, unter der Leitung von Christoph Brumann, war dem Thema Tempelökonomien im urbanen Asien gewidmet.

Literatur:

Chris Hann (ed): Religion, Identities, Postsocialism. The Halle Focus Group, 2003-2010:
https://www.eth.mpg.de/cms/en/publications/institute-reports/institute_report_2003-2010-dep-hann
Chris Hann and the Civil Religion Group: The Postsocialist Religious Question. Faith and Power in Central Asia and East-Central Europe. Münster: LIT Verlag (2006).
Stéphanie Mahieu and Vlad Naumescu (eds): Churches In-between. Greek Catholic Churches in Postsocialist Europe. Münster: LIT Verlag (2008).
Chris Hann and Hermann Goltz (eds): Eastern Christians in Anthropological Perspective. Berkeley: University of California Press (2010).
Julie McBrien: From Belonging to Belief: Modern Secularisms and the Construction of Religion in Kyrgyzstan. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press (2017).
Edyta Roszko: Fishers, Monks and Cadres: Navigating State, Religion and the South China Sea in Central Vietnam. Copenhagen: NIAS Press (2020).
Christoph Brumann, Saskia Abrahms-Kavunenko and Beata Świtek (eds): Monks, Money, and Morality: The Balancing Act of Contemporary Buddhism. London: Bloomsbury (2021).

Soziale Unterstützung und Verwandtschaft in China und Vietnam

Aufbauend auf einem erfolgreichen abteilungsübergreifenden Projekt über Verwandtschaft und soziale Sicherheit in Europa, unter der Führung von Patrick Heady (vormals als Postdoc in der Abteilung tätig), gingen zwischen 2006 und 2016 verschiedene Forschungsgruppen einer Reihe von Themen in den zwei größten Staaten des „Reformsozialismus‘“ in Ostasien nach.

Literatur:

Kirsten W. Endres and Chris Hann (eds): Socialism with Neoliberal Characteristics:
https://www.eth.mpg.de/cms/en/publications/institute-reports/institute_report_2017-dep-hann
Helena Obendiek: ‘Changing Fate’: Education, Poverty and Family Support in Contemporary Chinese Society. Berlin: LIT Verlag (2016).
Stevan Harrell and Gonçalo Santos (eds): Transforming Patriarchy: Chinese Families in the Twenty-first Century. Seattle: University of Washington Press (2017).
Minh T.N. Nguyen: Waste and Wealth: An Ethnography of Labor, Value, and Morality in a Vietnamese Recycling Economy. Oxford: Oxford University Press (2018).
Friedrike Fleischer: Soup, Love, and a Helping Hand: Social Relations and Support in Guangzhou, China. New York: Berghahn Books (2018).
Ildikó Bellér-Hann and Chris Hann: The Great Dispossession. Uyghurs between Civilizations. Berlin: LIT Verlag (2020).

Historische Ethnologie

Die historische Perspektive, sowohl im Hinblick auf den Forschungsort als auch auf die Methodologien, war wesentliches Element aller Projekte der Abteilung (darunter auch das ERC-geförderte Projekt „REALEURASIA“ unter der Leitung von Chris Hann). Eine Weiterentwicklung von Jack Goodys Konzept der Einheit Eurasiens wurde von Chris Hann unternommen. In Zusammenarbeit mit Johann Arnason entstand der Sammelband „Anthropology and Civilizational Analysis“, in dem die Relevanz der Zivilisationsanalyse für die historische Ethnologie deutlich gemacht wurde. In den empirischen Studien des Projekts „Ethnische Minderheiten und der Staat in Eurasien“, unter der Leitung von Dittmar Schorkowitz, wurden die Binnenkolonismen Russlands und Chinas der letzten Jahrhunderte sowie Techniken der Governance von Minderheiten in China beleuchtet. Im Bereich der historischen Demographie führte Mikołaj Szołtysek ein Projekt über „Patriarchie in Zeit und Raum“ durch.

Literatur:

Bruce Grant and Lale Yalçın-Heckmann (eds): Caucasus Paradigms: Anthropologies, Histories and the Making of a World Area. Berlin: LIT Verlag (2007).
Mikołaj Szołtysek: Rethinking East-Central Europe: Family Systems and Co-residence in the Polish-Lithuanian Commonwealth. Bern et al: Peter Lang (2015).
Chris Hann: ‘A concept of Eurasia.’ Current Anthropology 57 (1): 1-27 (2016).
Dittmar Schorkowitz and Chia Ning (eds): Managing Frontiers in Qing China: the Lifanyuan and Libu Revisited. Leiden: Brill (2017).
Johann P. Arnason and Chris Hann (eds): Anthropology and Civilizational Analysis: Eurasian Explorations. Albany: SUNY Press (2018).

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