Gemeinsame Sorgen

Zutiefst unsichere Zukunftsaussichten, Wettbewerbsmühlen, das Gefühl der Machtlosigkeit trotz materiellen Wohlstands sowie zunehmender Druck bei der Bildung, am Arbeitsplatz und bei der Familiengründung – das sind einige der Sorgen, die die Menschen auf der ganzen Welt im 21. Jahrhundert vereint. Als akut erlebte soziale Probleme können anhand dieser gemeinsamen Sorgen die Widersprüche erkannt werden, die unsere Gesellschaft definieren. Als unmittelbar erlebte, aber nicht explizit formulierte Wahrnehmungen stellen sie eine analytische Herausforderung dar, die eine neue Sprache und neue Methoden erfordern.

Projekte

Das „Schweben“ theoretisieren

„Schweben“ (in den englischsprachigen Diskussionen: suspension) ist eine Übersetzung des chinesischen xuanfu, was wörtlich „in der Luft hängen/schweben“ bedeutet. Es ist ein in China weit verbreitetes Gefühl: Trotz der Expansion des Marktes sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten prekär, und das Geldverdienen beansprucht die Menschen so sehr, dass sie anderen Lebensaufgaben nicht nachgehen können. Sie sind ständig auf der Suche nach besseren Möglichkeiten, und die Probleme im Hier und Jetzt bleiben außen vor. Diese Menschen fühlen sich „in der Schwebe“. Während sie mit viel Energie wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen, sind sie sozial und politisch passiv. Sie hoffen auf die Zukunft, fürchten sie aber zugleich.
Ursprünglich wurde xuanfu in den 1990er Jahren von Wissenschaftler:innen als etischer Begriff verwendet, um die strukturellen Bedingungen zu beschreiben, mit denen sich Land-Stadt-Migrant:innen konfrontiert sahen. Über die sozialen Medien wurde xuanfu in den 2010er Jahren jedoch von der breiteren chinesischen Öffentlichkeit als ein emischer Begriff aufgenommen. Aufbauend auf früheren Forschungen zu diesem Thema gehen wir in diesem Projekt aktuell den folgenden Fragen nach:
(1)    Wie hat sich dieses Phänomen entwickelt? Lässt das Phänomen des Schwebens, des Gefühls in der Luft zu hängen in China mittlerweile nach – und wenn ja, was wird an seine Stelle treten: Revolte, Resignation oder etwas anderes?
(2)    Wie sieht es außerhalb von China aus? Gibt es in anderen Ländern ähnliche Empfindungen, wenngleich möglicherweise mit anderen Ausdrucksformen?
(3)    Wie wandelte sich xuanfu von einem etischen Begriff (also einem von Wissenschaftler:innen entwickelten Konzept) zu einer emischen Bezeichnung, mit der die Menschen ihre eigenen Empfindungen beschreiben? Wie vollzog sich dieser Sprung von der Wissenschaft in die Gesellschaft, und welche Erkenntnisse können wir daraus gewinnen, um unseren Ansatz der „gemeinsamen Sorgen“ zu verfeinern?

Unter Druck

Angesichts ungebremster Inflation, stagnierender Löhne, zerbrochener Erwartungen der Mittelschicht sowie des Unvermögens neoliberaler Staaten, wirksam einzugreifen, manifestiert sich die Erfahrung des wirtschaftlichen Drucks in vielfältigen Symptomen, wie körperlichen und psychischen Beschwerden, geschlechtsbezogener Gewalt und sozialem Misstrauen. Druck ist zum sprachlichen Ausdruck für soziopolitische Konstellationen des Bedrücktseins, der Unterdrückung und des Niederdrückens geworden.
Als affektiver Zustand, der aus einem empfundenen Missverhältnis zwischen wirtschaftlichen Anforderungen und der eigenen Wirkmächtigkeit entsteht, wird Druck als Schwebezustand zwischen Passivität und Ausbruch erlebt. Im Unterschied zum „Steckenbleiben“ bedeutet „Druck“ zugleich gespeicherte und aufgestaute Energie, die explosiv freigesetzt werden könnte, sowie die Bewegungsunfähigkeit aufgrund des schweren Gewichts, das auf einem lastet. Im Gegensatz zur Armut betrifft Druck jene Menschen, die vermeintlich viel Kontrolle über ihr Leben haben. Wie „Schweben“ ist Druck sowohl ein emisches Konzept, das die subjektive Erfahrung der Menschen in ihren eigenen Begriffen ausdrückt, als auch ein etischer – analytischer Bergriff, der die dahinterliegenden objektiven Bedingungen beleuchten kann.
Wenngleich „Druck“ als relevante Kategorie für wirtschaftliche Akteur:innen in unterschiedlichen Teilen der Welt erscheint, liegt der Fokus dieses Projekts zunächst auf dem afrikanischen Kontinent und baut auf die bisherige Arbeit der Mitglieder einer interdisziplinären Forschungsgruppe auf (Mario Schmidt, Prince Guma, Wangui Kimari, Jörg Wiegratz, Catherine Dolan).

Outputs

Special Issue of Pacific Affairs, “Suspension: Complexed Developments and Hypermobility in and from China.” 2021, 94 (2), ed. Biao Xiang. The special issue includes:
•    Xiang, Biao. “Suspension: Seeking Agency for Change in the Hypermobile World.” >
•    Willy Sier. Keep on moving: Rural university graduates as sales workers in south and central China.
•    Tzu-Chi Ou. Spaces of Suspension: Construction, Demolition, and Extension in a Migrant Neighborhood in Beijing (shortlisted for the 20th William L. Holland Prize) >
•    Wei Yang. ‘Temporary Couples’ among Chinese Migrant Workers in Singapore.
•    Jiazhi Fengjiang. “To be a little more realistic”: Ethical labour of suspension among nightclub hostesses in southeast China (winner of the 20th William L. Holland Prize for the best article) >
•    Yang Zhan. Suspension 2.0: Segregated Development, Financial Speculation, and the Modality of Waiting among Resettled Peasants in Urban China (shortlisted for the 20th William L. Holland Prize) >
•    Sjoukje van der Meulen. Documenting China’s Garment Industry: Wang Bing’s Portrayal of Migrant Workers’ Suspended Lives inside the Contract Labor System.

Events

Roundtable

‘Communicative Knowledge and Mobilisational Concepts: Taking “Suspension” as an Example’

Co-organised with China and Global Development Network, Department of Applied Social Sciences, The Hong Kong Polytechnic University

14-15 February 2022

The aim of this roundtable was to evoke a new theoretical, epistemological, and methodological stance in knowledge production through the case of “suspension”. Speakers not only discussed the empirical contours of “suspension” and how it sheds light on deep contradictions in present-day China, but also how it can transcend the Chinese context to acquire theoretical potential.

The roundtable encompassed four sessions:

•    “Suspension” and Agency: Reconceptualising Ambivalent Experiences in and beyond China
•    “Suspension,” Structural Stagnation and the Paradoxes of Mobility
•    The Conceptual Map of “Suspension”: Theories, Boundaries, and Themes within Academia
•    Public Engagements: “Suspension” as Communicative Knowledge

More than 120 participants attended the roundtable. The discussion centred on two main questions: 1) how to develop a new ecology of knowledge production and dissemination as an alternative to the hegemonic order in which common-sense knowledge from the Global South is arbitrarily interpreted by theoretical frameworks from the Global North; and 2) how scholars could turn to the general public as their source of inspiration and primary audience instead of remaining within the ivory tower. (Summary by Zhan Yang; Hong Kong Polytechnic University)

 

Roundtable

The Dawn of Everything (2021) and David Graeber’s Anthropology

27 January 2022

Main Seminar Room, Max Planck Institute for Social Anthropology, Halle, Germany

Chair: Thomas Widlok (University of Cologne)
Presenters: Don Kalb (University of Bergen) Samuel Williams (Max Planck Institute for Social Anthropology)    

Over recent decades, few anthropologists have so conscientiously sought to articulate a voice as a public intellectual with global reach as David Graeber. Responding ––most proximately–– to the publication of Graeber’s final book (co-written with the archaeologist, David Wengrow), this roundtable explores the significance of Graeber’s last collaborative, interdisciplinary project in terms of his wider intellectual engagements over the last twenty-odd years. For any anthropology that seeks to begin from common concerns that ethnographic researchers encounter among those they work with “in the field”, what lessons are to be learnt from Graeber’s own inventions and experiments – positive, negative, or otherwise?  

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