Brainscapes

Eine Untersuchung zum Einfluss von Geländeunterschieden auf die neuronale Topographie der räumlichen Orientierung des Menschen
(Pilotstudie 2011-2012)


Mit Unterstützung durch das MaxNet Cognition

Beteiligte Personen

Prof. Günther Schlee (Projektleitung)
Prof. Robert Turner (Head of the project)
Kirill Istomin (Projektdurchführung)
Juan F. Domínguez (Principal Investigator)
Gary F. Egan (Principal Investigator)
Joachim Otto Habeck (Forschungsassistenz)
Jaroslava Panáková (Forschungsassistenz)
Denis Kostylev (Programmierer)

Theoretischer Hintergrund

Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Einsatzes von zwei grundlegenden Orientierungsstrategien. Die erste Strategie bedient sich eines umfassenden Gedächtnisses zu räumlichen Beziehungen zwischen bekannten Geländemerkmalen – dies ist die sogenannte kognitive oder mentale Karte. Die zweite Strategie beinhaltet Verhaltensreaktionen (z. B. Richtungwechsel oder eine kontinuierliche Bewegung geradeaus) auf eine Reihe von Reizen, die sich entlang einer bestimmten Route ergeben – dies ist das sogenannte Routenwissen. Individuen unterscheiden sich maßgeblich in ihrer jeweiligen Beherrschung der einen oder anderen Strategie und ziehen, wie frühere Studien gezeigt haben, systematisch eine Strategie der anderen vor. Ferner ist belegt worden, dass der langfristige Gebrauch einer bestimmten Strategie zu strukturellen Veränderungen im Gehirn führt.

Bisher wissen wir nur wenig über die Faktoren, die bei der Ausprägung individueller Präferenzen für Orientierungsstrategien eine Rolle spielen. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass zumindest einige dieser Faktoren gruppenspezifisch sind (d.h. sie betreffen eher ganze Gruppen als Individuen), und dass sie deswegen zu gruppenspezifischen Unterschieden hinsichtlich der Orientierungsfähigkeit und des räumlichen Lernvermögen führen. Daher ist überzeugend argumentiert worden, dass die Effizienz und die unmittelbare Anwendung der beiden Orientierungs- und Lernstrategien im Wesentlichen von der Art der Umgebung abhängt. Die mentale Geländekartierung ist in Landschaften mit offenem Gelände und einer begrenzten Anzahl von Landmarken (wie in einer Steppe oder Wüste) effektiver, während das Verfolgen einer Route in Umgebungen mit eingeschränkter Sicht und einer erheblichen Anzahl von Landmarken im Nahbereich (wie in einem dichten Wald) effektiver ist. Weitere Faktoren dürften die vorhandene Orientierungserfahrung, die Besonderheiten der jeweiligen Orientierungsaufgabe sowie das benutzte Verkehrsmittel sein. All diese Faktoren stehen im Zusammenhang mit Beruf, sozialem Status und Lebensweise und sind somit ebenfalls gruppenspezifisch. Schließlich dürfte auch ein breites Spektrum an denkbaren sozialen und kulturellen Faktoren vorhanden sein, welche besonders schwierig in herkömmlichen Laborverfahren zu untersuchen sind, jedoch gruppenspezifische Unterschiede in der Orientierungsfähigkeit und im räumlichen Lernvermögen mitbestimmen.

Die Tendenz, räumliche Informationen gemäß einer der beiden Orientierungsstrategien zum Preis der jeweils anderen zu erlernen und die Neigung, eine Strategie häufiger anzuwenden als die andere, hat wahrscheinlich aus zwei Gründen Auswirkungen auf das Verhalten und das Denken. Erstens unterstützen und begrenzen die beiden Strategien die Orientierung auf verschiedene Weise: die Strategie des Routenwissens scheint einfacher zu sein und zu weniger Orientierungsfehlern zu führen; die mentale Kartierungsstrategie, obwohl fehleranfälliger, erlaubt es hingegen, neue (und damit potentiell effizientere) Wege zum Ziel zu ermitteln. Zweitens können die Veränderungen in den Gehirnstrukturen, die mit einem bestimmten Orientierungs- und Lernvermögen assoziiert werden, Auswirkungen auf andere kognitive Fähigkeiten und dadurch auf andere Regionen des Gehirns haben. Wenn diese Effekte in Gruppen vorhanden sind, so ist es wahrscheinlich, dass sie soziale und kulturelle Folgeerscheinungen nach sich ziehen. Aus diesem Grund könnte die eingehende Betrachtung der Verteilung der Navigationsstile und der entsprechenden Lernstile zwischen verschiedenen Gruppen als auch den Faktoren, welche an ihrer Ausprägung beteiligt sind, einen wichtigen Beitrag sowohl zu den Neurowissenschaften als auch einer Reihe von Sozialwissenschaften leisten. Da solch eine Betrachtung außerhalb des Hauptaugenmerks all dieser Disziplinen liegt, ist sie eine geeignete Aufgabe für die Neuroanthropologie als einer neuen Forschungsrichtung, welche Theorien und Methoden aus der Anthropologie und den Neurowissenschaften integriert, um die Wege zu untersuchen, in denen Kultur und Gehirn interagieren.

Ziele des Projekts

Brainscapes ist ein neuroanthropologisches Projekt, welches darauf abzielt zu untersuchen, ob tatsächlich gruppenspezifische Unterschiede in der Orientierungs­fähigkeit und im räumlichen Lernvermögen mit nachweisbaren strukturellen und funktionalen Gehirnmerkmalen existieren und, falls dies so ist, welche Auswirkungen sie auf die Verhaltensmuster der Gruppenmitglieder haben. Die Pilotstudie dieses Projekts konzentriert sich auf einen bestimmten Faktor, der im vorangegangenen Abschnitt näher beschrieben worden ist – die Art des Geländes, an das die Raumorientierung gewöhnt ist – und auf den Versuch zu überprüfen, ob dieser Faktor ein bestimmtes Orientierungs- und Lernvermögen mit nachweisbaren Veränderungen im Gehirn bei einer Person mit beträchtlicher Navigationserfahrung verursacht. Mit anderen Worten, unsere Pilotstudie will auf die folgenden zwei Forschungsfragen eine Antwort geben:

1) Schafft die langfristige Erfahrung der Orientierung in einer bestimmten Umgebungsart (welche von der Landschaftsgröße und der Anzahl von Landmarken im Nah- und Fernbereich charakterisiert ist) nachweisbar eine Bevorzugung für die Strategie der mentalen Kartierung oder des Routenwissens hinsichtlich der Orientierungsfähigkeit und des räumlichen Lernens in einem Individuum?

2) Verursacht die Bevorzugung einer im Navigieren erfahrenen Person für eine bestimmte Strategie der Orientierung (mittels Magnetresonanztomographie, MRT) nachweisbare funktionale und strukturelle Veränderungen in einer oder mehreren Regionen des Gehirns?

Die positive Beantwortung dieser Forschungsfragen würde bedeuten, dass gruppenspezifische Unterschiede in den Navigationsstilen und die entsprechenden Unterschiede in Gehirnstruktur und -funktion tatsächlich existieren müssten. Diese Unterschiede und ihre sozial bedeutsamen Auswirkungen auf das Verhalten und Denken können dann im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts untersucht werden.


Herangehensweise und Durchführung

Das Brainscapes-Projekt beabsichtigt, ethnographische Feldforschungsmethoden mit Verhaltensexperimenten sowie mit bildgebenden Verfahren in den Neurowissenschaften zu verbinden. Dies beinhaltet die Einbeziehung von ethnographischem Material in Bezug auf Orientierungsstrategien von verschiedenen kulturellen Gruppen, die eine spezifische Landschaft bewohnen; ethnographische Datenerhebung; Verhaltenstests im Gelände; sowie Techniken der Datenerhebung und -auswertung aus dem Feld der Kognitions- und Verhaltenswissenschaften. Die hier beschriebene Pilotstudie gliedert sich in drei Phasen:

1. Phase – Screening-Verfahren. Die Screening-Phase beinhaltet ein ethnographisches Interview zu den Einzelheiten des Umgebungstyps, in dem potentielle Teilnehmer/innen der weiteren Studie aufgewachsen sind, ihre Vertrautheit mit dieser Umgebung und ihre Erfahrung, sich darin zurechtzufinden.

2. Phase – Verhaltensuntersuchung. In dieser Phase absolviert ein Teil der Befragten aus der Screening-Phase eine Reihe von Orientierungsaufgaben. Sowohl quantitative als auch qualitative Daten während der Ausführung dieser Aufgaben werden gesammelt mit dem Ziel, die Beherrschung der beiden Orientierungsstrategien und die Präferenz für eine der beiden Strategien festzustellen.

3. Phase – Bildgebendes Verfahren. In der dritten Phase werden fünf Personen mit einer Kartierungspräferenz und fünf Personen mit einer Routenpräferenz aus der vorangegangenen Phase eingeladen, an einem bildgebenden Verfahrensexperiment teilzunehmen, bei dem funktionale und strukturelle Bilder ihrer Gehirnaktivität gemacht werden. Die Teilnehmenden sollen zunächst zwei neue virtuelle Umgebungen kennenlernen und erkunden: ein offenes und ein bewaldetes Gelände. Sie erhalten dann mehrere Lokalisierungsaufgaben in diesen Umgebungen, die sie während des MRT-Scans durchführen.

Erwartete Ergebnisse

Das Brainscapes-Projekt ist in Zusammenarbeit des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung (in Halle) mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (in Leipzig) und dem Monash Biomedical Imaging Laboratory (Monash University, Melbourne, Australien) entwickelt worden; es wird von Forschern an diesen drei Instituten gemeinsam durchgeführt.

Dieses Projekt leistet einen bedeutsamen Beitrag zu den Forschungsprogrammen der drei Institute und eröffnet neue Wege in der Forschung, vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Gehirnfunktion und kulturell geprägten Erfahrungen. Dies ist eine wichtige Stufe in der Erforschung der Bedingungen des menschlichen Lebens: zu verstehen, auf welche Weise Kultur und Gesellschaft das menschliche Gehirn prägen, welche Auswirkungen sich daraus für die Funktionsweise des menschlichen Verstandes ergeben, und wie der Verstand, welcher das Produkt dieser Prozesse ist, wiederum Kultur und Gesellschaft prägt und verändert. Obwohl diese Forschungsrichtung noch in den Kinderschuhen steckt, liegen bereits schlüssige Beweise vor, dass Kultur eine entscheidenden Einfluss auf die Funktion und Struktur des Gehirns hat. Das hier dargestellte Projekt ist der erste Versuch eines Teams von Ethnologen, Kognitions- und Neurowissenschaftlern, sich eingehender mit dieser Thematik zu beschäftigen.

Weiterhin kann das Brainscapes-Projekt wichtige Impulse für die weitere Entwicklung klinischer Interventionen geben, die darauf abzielen, Störungen in der Orientierungsfähigkeit zu behandeln, welche in Folge der Schädigung des Hippocampus oder des Nucleus caudatus auftreten. So wurde beispielsweise die Vermutung geäußert, dass Patienten, deren bevorzugte Navigationsstrategie (auf Grund einer Verletzung der entsprechenden Hirnstruktur) geschädigt ist, von einer Intervention, die den Einsatz der intakten Navigationsstrategie anregt, profitieren können. Desweiteren darf vermutet werden, dass das Trainieren und der Einsatz von Orientierungsstrategien helfen kann, der Degeneration des Hippocampus vorzubeugen. (Die Degeneration des Hippocampus kann sich entweder durch gewöhnliche Alterungsprozesse oder in pathologischer Form, durch die Alzheimer-Krankheit oder Chorea Huntigton, vollziehen). Wenn die Bevorzugung eines Orientierungsstils – wie wir annehmen – durch die Beschaffenheit der Umwelt beeinflusst wird, könnten klinische Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen zu Orientierungsstörungen dahingehend verbessert werden, dass Patienten mit (realen oder virtuellen) Landschaften konfrontiert werden, welche speziell die Merkmale aufweisen, die am geeignetsten sind, um die erwünschte Strategie auszulösen. Ferner könnten diese Erkenntnisse auch im weiteren Sinne für professionelle Trainings in den Berufsbereichen angewendet werden, die mit Orientierungsaufgaben in verschiedenen Umgebungen umzugehen haben.

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