Dynamic Synergy of Descent, History and Tradition in the Process of Sidama Ethnic Identification in Southern Ethiopia
Ogato Anata Ambaye
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Date of Defense | Tag der Verteidigung
17.07.2012
Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Burkhard Schnepel
Prof. Dr. Günther Schlee
German Summary | Deutsche Zusammenfassung
Meine Dissertation untersucht die Prozesse ethnischer Identifikation unter den Sidama, die ihr Sidama-Sein auf verschiedene Arten ausdrücken. Die Sidama nutzten dafür unterschiedliche Logiken der ‚Kategorisierung’ und ‚Dimensionen von Identifikation’ (Schlee 2008; Schlee 2010), um ihr Sidama-Sein zu begründen.
Die Sidama leben heute in verschiedenen Regionen Äthiopiens. Dazu zählen der Nordosten der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SNNPR) und der Norden, Osten und Südosten von Oromia. Die südliche Grenze des Sidama-Gebietes ist die Gedeo Zone, im Westen sind es die Zonen Nord-Omo und Süd-Omo.
Das Sidama-Gebiet war in den 1890er Jahren als Awrajja Verwaltungseinheit der Sidamo
Provinz in den äthiopischen Staat aufgenommen worden. Nach dem Regierungswechsel
1991 wurde das Gebiet zu einer Verwaltungszone der SNNPR gemacht. Gemäß der heutigen Verwaltungsstruktur ist die Sidama Zone in 21 Distrikte (Woreda) und zwei freie Städte unterteilt. Im Statistischen Jahrbuch 2009 wird der Anteil der Sidama an der Bevölkerung mit 3.154.659 Menschen angegeben, die Sidama sind damit die fünftgrößte ethnische Gruppe in Äthiopien (Statistisches Jahrbuch, Februar 2010).
Einige der Narrative, welche die Sidama zur Identifikation verwenden, sind die gemeinsame Abstammung; das Luwa Generationenset und weitere damit verbundene Institutionen, die eine Rolle bei der ethnischen Abgrenzung spielen; die Einbindung der Sidama in das ‚moderne äthiopische Reich’ und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen von Sidama Traditionen; die Wiederbelebung und Durchführung von Traditionen und letztlich auch der Prozess der Gruppenbildung in der aktuell ethnisierten politischen Landschaft Äthiopiens.
Die folgenden Fragen geben die Struktur des Forschungsprojektes vor:
- Wie identifizieren die Sidama sich selbst?
- Was sind die verschiedenen Dimensionen der ethnischen Identifikation der Sidama?
- Inwieweit spielt die gemeinsame Abstammung eine Rolle für den Prozess der ethnischen Identifikation der Sidama?
- Welchen Einfluss haben Geschichte und Tradition auf den Identifikationsprozess?
- Wie nutzen die Sidama ihre Traditionen zur ethnischen Abgrenzung?
- Welche Rolle spielt das Luwa System für den ethnischen Identifikationsprozess?
- Wie haben äußere Veränderungen den Identifikationsprozess der Sidama beeinflusst?
- Wie lief die Wiederbelebung von Traditionen ab?
- Wie trägt die Wiederbelebung von Traditionen zur Gruppenbildung der Sidama in der politischen Landschaft nach 1991 bei?
Die Dissertation gliedert sich in sieben Kapitel. Die Einleitung beschreibt kurz die geographische Lage des Sidama-Gebietes und die Lebensweise dieser ethnischen Gruppe. Teil Zwei der Einleitung geht auf den theoretischen Rahmen der Dissertation ein. Ich nutze verschiedene theoretische Ansätze, doch das Fundament bilden die konstruktivistischen Betrachtungsweisen von Frederick Barth (1969, 1998), Günther Schlee (2002, 2004, 2008 and 2010) und Clifford Geertz (1963, 1973). Der dritte Teil der Einleitung geht näher auf die Methoden zur Sammlung und Analyse der Feldforschungsdaten ein. Die ethnographische Feldforschung erstreckte sich von Dezember 2008 bis Dezember 2009 und von August bis September 2010 und wurde in verschiedenen Orten durchgeführt. Meine Daten stützen sich vor allem auf Interviews und Gespräche, im Fall eines Ortes führte ich auch einen Mikrozensus durch. Eine Anzahl von Orten wurde aufgrund spezifischer Besonderheiten ausgewählt, das meiste ethnographische Material wie z.B. zum Luwa System stammt jedoch aus dem Hawella Klangebiet.
Kapitel Zwei untersucht die Prozesse ethnischer Identifikation der Sidama in Verbindung mit gemeinsamer Abstammung. Es werden verschiedene Narrative beleuchtet, welche die Sidama verwenden, um ihr Sidama-Sein zu begründen. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Narrativ der gemeinsamen Abstammung, das die Grundlage für die ethnische Identifikation der Sidama bildet. Teil dieses Narrativs sind Bushe und Maldea als Stammeseltern der Sidama. Es wird weiterhin untersucht, wie Personen sich mit ihrem Klan identifizieren, d.h. Identifikation ist kein ‚monolithisches Dach’, welches die gesamte Bevölkerung abdeckt. Es konnten verschiedene Klan-Varianten beobachtet werden, die je nach Kontext und Situation auch veränderbar sind. Bei der Identifikation aufgrund gemeinsamer Abstammung spielen auch bestimmte geographische Gebiete eine Rolle, diese werden in dem Kapitel ebenfalls betrachtet. Unabhängig von den verschiedenen Versionen der gemeinsamen Abstammung, die von den Stammesältesten erzählt werden, wird die gemeinsame Abstammung immer wieder verwendet, um ethnische Identität zu schaffen, zu bewahren und manchmal auch aufzulösen.
Kapitel Drei geht auf verschiedene Sidama Traditionen ein, die für den Prozess der ethnischen Identifikation relevant sind. Während der Feldforschung kehrte ein Begriff in vielen Gesprächen zu verschiedensten Themen immer wieder: Bude. Dies bezeichnet gemeinsame Werte, Überzeugungen und Normen sowie angemessene und unangemessene Handlungsweisen. Bude wird auch als ein Wissensschatz verstanden, den die Sidama zur Problemlösung nutzen, der für kalendarische Berechnungen herangezogen, und festlegt, wie die Ältesten in das Luwa Generationenset aufgenommen und darin befördert werden. Bude beinhaltet also viele Abgrenzungen, die in die Definition des Sidama-Seins einfließen. In allen Gesprächen war Bude auch immer verbunden mit der Konzeptualisierung von Sidama Handlungsweisen, die gemeinhin als kulturelle Formen bezeichnet wurden, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Vereinfacht könnte der Begriff Bude mit ‚Tradition’ übersetzt werden. Ich verstehe Tradition hier als dynamisch und lehne den Ansatz ab, wonach Tradition als statisch und archaisch verstanden wird. Mein Verständnis von Tradition ist angelehnt an Erlmanns (1991) Darstellung, dass Tradition nicht die Fortdauer von alten Formen bedeutet, sondern eher beschreibt, wie diese Formen mit Werten verbunden werden.
Um die Sidama Traditionen noch detaillierter zu beschreiben, bietet sich das Luwa System an, welches viele Elemente von Sidama Traditionen in sich vereint. Ich benutze das Luwa Generationenset als Einstieg in verschiedene Aspekte des Sidama-Seins. In diesem Zusammenhang werden der Sidama Ältestenrat (Songo), die Fiche Neujahrsfestlichkeiten und das Yakka Bestrafungssystem vorgestellt, welches die Sidama-Frauen gegen Männer anwenden. Mit diesen traditionellen Institutionen sind verschiedene Fragen verbunden; einer Auswahl davon widmet sich die vorliegende Arbeit: Wie wird Luwa durchgeführt? Wie werden dadurch die Sidama organisiert und integriert? In welcher Verbindung steht Luwa mit anderen Traditionen der Sidama? Wie beeinflusst die Durchführung von Ritualen die Konstruktion des ‚Wir’ gegenüber jener der ‚Anderen’? Die Untersuchung verschiedener Rituale zeigt, wie Luwa unterschiedliche Lebensereignisse legitimiert, und wie es Handlungen zu Lebensereignissen strukturiert. Die geführten Gespräche legen nahe, dass frühere Erfahrungen mit dem Luwa System nicht auf seine heutige Anwendung schließen lassen können. Die Dynamik und Abweichungen im System sprechen dagegen, es als Set unberührter, statischer und monolithischer Praktiken anzusehen. Luwa wird von den Sidama als Symbol zur Abgrenzung verwendet, und es ist ein Herzstück vieler traditioneller Institutionen. Ein Beispiel ist die legitimierende Funktion von Luwa für eingeweihte Älteste (Cimeeyye), welche im Ältestenrat die zentrale Rolle spielen. Ein anderes Beispiel sind die Foko Fulla Raubzüge. Luwa Eingeweihte müssen ‚Feindesgrenzen’ überschreiten und Raubzüge durchführen, um die Sidama von ‚Anderen’ abzugrenzen.
Kapitel Vier gibt einen Abriss der Geschichte der Sidama. Es wird kurz auf Veränderungen bzw. die Fortdauer von verschiedenen Institutionen eingegangen, insbesondere darauf wie Veränderungen die Identifikationsprozesse beeinflusst haben. Die Sidama selbst führen Veränderungen in ihren Traditionen und traditionellen Institutionen vor allem auf die Eingliederung in das ‚moderne äthiopische Reich’, die Einführung des Christentums und moderne Bildung zurück.
Durch die Eingliederung empfanden die Sidama den Raum für ihre traditionellen Institutionen als eingeschränkt oder sogar verloren. Die Einschränkung ihrer Traditionen und die Übergriffe Anderer auf ihr Gebiet sind daher wichtige Quellen für den Identifikationsprozess der Sidama. Die soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung zur Zeit der Eingliederung lieferte ebenfalls Mittel zur Identifikation und befeuerte den Diskurs zur Konstruktion der ethnischen Identität der Sidama. In Anlehnung an Schlee (2008) bezeichne ich den angesprochenen Zeitraum als eine Periode des ‚Unheils’ für die Sidama Traditionen einschließlich Luwa, Songo und Fiche, und doch lieferte die Geschichte der Einschränkung der Sidama Traditionen einen wichtigen Baustein für den Identifikationsprozess. Der Baukasten der Identifikation wird also nie geschlossen, im Verlauf der Geschichte kommen immer wieder neue Bausteine zum Repertoire der Identifikation der Sidama hinzu.
In diesem Kapitel werden auch seit dem späten 19. Jh. veränderte und beständige Anteile des Luwa Systems und verwandter Institutionen betrachtet. Diese Veränderungen und die Eingliederung der Sidama in den Staat Äthiopien führten zu einer Neuorientierung von Werten im Sidama Luwa Generationenset und zu einer geänderten Zusammensetzung des Ältestenrates zur Konfliktresolution. Nach der Eingliederung wurde der Ältestenrat zunehmend von Personen dominiert und geleitet, die nicht oft in das Luwa System aufgenommen werden, aber enge Verbindungen zur Regierung, Kirchen oder der modernen Bildung haben.
Kapitel Fünf beschreibt die Wiederbelebung von verschiedenen Sidama Traditionen, die nach 1991 mit dem Regierungswechsel und der neuen Politik des ethnischen Föderalismus aufkam. Die vielen Veränderungen und neuen Lebensweisen führten dazu, dass praktizierte Traditionen und die sie begleitende Rhetorik an Bedeutung gewannen. So werden in der Atmosphäre der ethnischen Politik viele traditionelle Institutionen ins Scheinwerferlicht gerückt und zur Abgrenzung genutzt. Diese Politisierung von wiederbelebten Traditionen mündete bei den Sidama in der Kanonisierung von einzelnen Traditionen, um ihre Einigkeit zu stärken und ihre ethnischen Grenzen im SNNPR mit seinen 56 ethnischen Gruppen zu betonen.
Kapitel Sechs beleuchtet den Widerstand der Sidama gegen ihre Kategorisierung als nur eine von vielen Gruppen in der SNNPR. Ich untersuche die Konzeptualisierung von Gruppenbildung und stütze mich dabei auf Schlees theoretischen Ansatz. Es werden die Debatten, Auseinandersetzungen und Konflikte zu dem regionalen Status der Sidama vorgestellt und der Versuch unternommen, das Streben der Sidama nach einer eigenen Verwaltungseinheit und die ablehnende Haltung der Zentralregierung im Rahmen der Theorie zur Gruppenbildung von Schlee (2008) zu analysieren. Es wird gezeigt, dass Gruppengröße, Kosten-Nutzen-Abwägungen und Plausibilität den Kern der Identifikation der Sidama ausmachen. Sie verfügen über ein eigenes, ursprüngliches Konzept von Sidama-Sein, welches der breiten Kategorie der SNNPR gegenübersteht, die von der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front nach ihrer Machtübernahme geschaffen wurde.
In Kapitel Sieben, der Schlussbetrachtung, gehe ich zusammenfassend auf die vielfachen und sich überschneidenden Ebenen von Identifikation ein. Einzelne Elemente oder Dimensionen von Identifikation schließen andere nicht aus, sondern verschiedene Anteile werden je nach Situation manipuliert oder ergänzen sich sogar. Der Prozess ethnischer Identifikation ist vielschichtig und dynamisch. Zum Zwecke der Gruppenbildung verwenden Menschen ein ganzes Portfolio von Kategorisierungen und Logiken, die jeweils auf existierende Traditionen einer Gruppe zurückgehen.
Am Beispiel der kollektiven Identität der Sidama wird deutlich, wie Identität zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlichen Mitteln und Strategien geschaffen, übertragen, fortgeführt und ausgelebt wird. Aus den Darstellungen der einzelnen Kapitel ergibt sich das wiederkehrende Thema, dass Identifikation ein Prozess ist, der unterschiedliche Mittel strategisch einsetzt. Dieser strategische Einsatz abhängig von der jeweiligen Situation entspricht der Auswahl aus begrenzten Möglichkeiten. Der Identifikationsprozess ist also eingebettet in das Treffen von kalkulierten Entscheidungen.