Contested Spaces in Post-War Society: the ‘devil business’ in Freetown, Sierra Leone

Nathaniel King
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of defense | Tag der Verteidigung
30.01.2012

Supervisors | Gutachter
PD Dr. Jacqueline Knörr
Prof. Dr. Burkhard Schnepel

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

Forschungsthema

Das Thema der vorliegenden Arbeit sind sogenannte ‚secret societies’/ ‚Geheimgesellschaften’ in Sierra Leones Hauptstadt Freetown. Diese können in zwei Gruppen unterteilt werden, die alteingesessenen „traditionellen“ und die neueren, ‚modernen’ Gesellschaften. Zwei der wichtigsten alteingesessenen Geheimgesellschaften in Freetown sind Agugu und Hunting, die beide ihre Wurzeln in Yorubaland (Nigeria) haben. Diese alteingesessenen Geheimgesellschaften haben bestimmte Standards was die sozio-ökonomische Situation und die familiären Verbindungen ihrer Mitglieder betrifft und schließen so weite Bevölkerungskreise von vornherein von einer Mitgliedschaft aus. Die neueren Geheimgesellschaften entstanden als Reaktion auf diese Exklusion und legen entsprechend keinen Wert auf den sozialen Rang oder familiären Hintergrund ihrer Mitglieder. Die wichtigsten dieser neueren Gesellschaften sind aus der Verbindung der Geheimgesellschaften Agugu und Hunting entstanden und werden als Odelays bezeichnet. Meine Forschung untersucht vorrangig eine dieser Odelays, die Firestone- Geheimgesellschaft.

Ebenso wie Mitglieder von Agugu oder Hunting berufen sich Odelay-Mitglieder darauf, Heil- und übernatürliche Kräfte zu besitzen. ‚Heilkräfte’ bezeichnen ein System von esoterischen Fähigkeiten, auf deren Besitz sich alle Geheimgesellschaften in Sierra Leone berufen. Diese beiden Dimensionen vereinend bezeichne ich diese Kräfte als esoterisch- heilerisch. Jede Odelay-Gesellschaft verfügt zudem über eine spezifische Maskerade, die den Geist der Geheimgesellschaft symbolisiert und in Form einer maskierten Figur alle öffentlichen Auftritte der Gesellschaft anführt. Diese Figur wird üblicherweise ‚Teufel’ (devil) genannt.

Die Verwendung der Bezeichnung ‚Teufel’ ist ein koloniales und missionarisches Konstrukt und bildete die Antithese zum christlichen Gott. Der Begriff wurde beibehalten und die Geheimgesellschaften machten sich einige der Konnotationen, die mit dem ‚Teufel’ in Verbindung stehen auch zueigen, um Ehrfurcht gegenüber ihrer Sodalität und ihren Auftritten zu erzeugen.

Jeder kann Mitglied in einer Odelay werden. Allerdings werden Odelay-Mitglieder von den Einwohnern von Freetown im Allgemeinen als von der Gesellschaft ausgeschlossene Personenkreise betrachtet. Da viele Mitglieder zudem am geopolitischen und sozio- ökonomischen Rand der Gesellschaft Freetowns leben, bezeichne ich sie und ihre Geheimgesellschaften als marginal. Ich zeige dabei jedoch auf, dass diese Ränder beweglich und keinesfalls ohne Macht und Einfluss sind. Mittels ihrer Integration in Odelays interagieren deren am Rand der Gesellschaft lebende Mitglieder zum einen untereinander, zum anderen mit den Zentren der Macht.

Die Odelay-Gesellschaft namens Firestone bildet den Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit. Firestone operiert sowohl als Geheimgesellschaft als auch als nicht- geheime Organisation zur Bereitstellung sozialer Dienste. Firestone spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Beendigung des sierraleonischen Bürgerkrieges (1991 bis 2000). Seit dem Ende des Bürgerkrieges ist Firestone in verschiedenen Bereichen aktiv. Ausgehend von den durchschnittlichen Teilnehmerzahlen bei öffentlichen Auftritten (masquerades) kann die Zahl der Firestone-Mitglieder und Anhänger auf etwa zwanzigtausend geschätzt werden.

Sierra Leones sozio-ökonomische und politische Elite, darunter auch Angehörige des Staatsapparates, streben zunehmend Statusveränderungen an, um Mitglieder von Odelays zu werden, da deren Netzwerke bedingt durch die hohe Anzahl von Mitgliedern und Anhängern über erheblichen Einfluss verfügen. Inzwischen sind Geheimgesellschaften auch Vehikel für die urbane und nationale Integration und spielen eine wichtige Rolle mit Blick auf die Erzeugung und Verteilung von Macht. Sie fungieren als soziale Dienstleister in jenen urbanen Räumen, die staatlicherseits keine Beachtung finden. Sie sind so auch Schöpfer einer neuen Form von nationaler Identität und können durch ihren Einfluss die Regierung Sierra Leones stützen oder auch stürzen.

Die vorliegende Arbeit untersucht jene neueren Geheimgesellschaften in Freetown, die als Odelays bezeichnet werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer dieser Gesellschaften, Firestone, und bezieht dabei auch verwandte Geheimgesellschaften in die Untersuchung mit ein, die an den sozialen, ökonomischen und geographischen Rändern Freetowns agieren (und mit Firestone interagieren). Es wird untersucht, wie diese Organisationen als Orientierungsrahmen von Handlungen und Sinnstiftung gegenüber dem weiteren Freetown und dem Nachkriegs-Sierra Leone fungieren. Ferner widme ich mich der Frage, wie sozial benachteiligte Männer, Frauen und Kinder diese Sodalitäten zur Integration in die Stadt und den nationalen Kontext nutzen. Ohne andere Möglichkeiten, im urbanen oder nationalen Rahmen Bedeutung zu erlangen, setzen diese Menschen diese Geheimgesellschaften ein, um soziale, ökonomische oder auch politische Macht zu erlangen. Sie verbessern dadurch auch ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Staat und anderen Akteuren, deren Machtposition nicht auf Geheimgesellschaften gestützt ist. Kurz: die Arbeit untersucht, wie Akteure an den sozialen Rändern Freetowns über geheimgesellschaftliche Organisation in Odelays ihre Nachteile in Vorteile umwandeln und Macht aus Machtlosigkeit erzeugen.

Samples und Methoden

Zum Zeitpunkt der Feldforschung existierten in Freetown 160 Odelays. Schon allein diese Zahl lässt erahnen, wie wichtig diese Organisationen sind. Die Auswahl der Odelays basierte auf folgenden Kriterien: die Länge ihres Bestehens, die Mitglieder- und Anhängerzahl und die Kategorisierung der Odelays durch Freetowns Bewohner als ‚groß’ oder ‚klein’. Aufgrund dieser Parameter wurde Firestone als das zentrale Untersuchungsobjekt ausgewählt sowie drei weitere Odelays zu Vergleichs- und Kontrastzwecken mit einbezogen. Im Gegensatz zu anderen Odelays ist Firestone eine in der Gesellschaft tief verwurzelte Organisation. Sie betreibt u.a. eine Schule, eine Wasserversorgungsstelle, allgemeine Aufbaumaßnahmen, zwei Kirchen und ein Wohnungsprojekt, und bietet ihre Dienste sowohl ihren Mitgliedern als auch Nichtmitgliedern in der Gemeinde an.

Daten wurden durch Interviews und teilnehmende Beobachtung erhoben. Die meisten Interviewpartner fanden sich häufig an den Treffpunkten der Geheimgesellschaft ein und gezielt angesprochene Interviewpartner eröffneten meist auch Zugang zu weiteren. Die Personen wurden nach Möglichkeit einzeln befragt, um den Einfluss Anderer auf ihre Äußerungen zu verhindern. Bisweilen entschieden sich die Interviewpartner jedoch dafür, Fragen im Beisein anderer Mitglieder zu beantworten. Weibliche Odelay-Mitglieder wurden nur befragt, wenn keine Männer anwesend waren. Im Falle von Firestone ist festzustellen, dass Frauen zwar gut in die Organisation integriert sind, aber nicht als geeignet angesehen werden, mit Autorität für Firestone zu sprechen. Aussagen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Firestone sind Männern vorbehalten.

Ich wurde während meiner Feldforschung nicht Mitglied in einer der Geheimgesellschaften. Eine derartige Mitgliedschaft kann zwar Vorteile haben, wie ein Forscherkollege bezeugt, der Geheimgesellschaften in Liberia untersucht. Ich denke jedoch, dass die Einschränkungen, denen ich als (forschendes) Mitglied einer solchen Gesellschaft unterlegen hätte, erheblich gewesen wären. Entwickelt man eine emotionale Bindung an eine Gesellschaft, die sich im Wesentlichen als geheim darstellt, wird die eigene Fähigkeit zur Analyse mit großer Wahrscheinlichkeit behindert. Wenngleich ich also keine echte Firestone-Mitgliedschaft einging, wurde mir jedoch eine Art „Ehrenmitgliedschaft“ verliehen, aufgrund derer mir nur sehr selten der Zugang verwehrt wurde. Diese Ehrenmitgliedschaft war ein Resultat der Zeit und anderer Ressourcen, die ich in „Firestone“ investiert habe. (Für Firestone gilt auch in Mitglieder oder Veranstaltungen investierte Zeit als Interesse am Wohlergehen der Organisation und ermöglicht die Aufnahme von Personen als Ehrenmitglieder)

Allen Informanten wurde Anonymität zugesichert, unabhängig davon, ob Anonymität als Bedingung für eine Zusammenarbeit genannt wurde oder nicht. Die Namen der Akteure sind daher fiktiv, mit Ausnahme jener Fälle, in denen Informanten auf Nennung ihrer Namen bestanden. Teils werden beschreibende Bezeichnungen verwendet, die mit halben Anführungszeichen gekennzeichnet sind. In Kapitel Vier, in dem einige besonders heikle Begebenheiten erörtert werden, werden sowohl die Namen der beteiligten Geheimgesellschaften als auch die Nennung von Daten und Orten vermieden. Gemäß den Wünschen der untersuchten Geheimgesellschaften werden keine Bilder oder Illustrationen der Maskenfiguren oder von Standorten gezeigt.

Inhaltliche Struktur der Arbeit

Die Dissertation gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste Kapitel ist einleitender Natur. Kapitel Zwei bis Fünf sind der Präsentation und Analyse ethnographischer Daten gewidmet, die während der Feldforschung von April 2008 bis April 2009 in Freetown, Sierra Leone, erhoben wurden. Kapitel Sechs legt die Schlussfolgerungen dar.

Kapitel Zwei beschreibt den Rahmen der sozialen, ökonomischen, geographischen und politischen Realitäten, in dem die Odelays entstanden sind und heutzutage existieren. Im Anschluss wird die Entstehungsgeschichte von Firestone geschildert, deren Hintergrund beispielhaft für die Exklusion sozial benachteiligter Menschen und von Migranten aus dem Landesinneren in Freetown ist. Es wird untersucht, in welcher Weise Odelays ein Vehikel zur sozialen Integration dieser Bevölkerungsgruppen in Freetown sind.

Simmels (1906) Erläuterungen zu Geheimnissen, Geheimhaltung und geheimen Gesellschaften stützen mein Verständnis der inhärenten Werte von Geheimnissen, Geheimhaltung und deren Verbindungen zu Konstruktionen von Gruppeninklusion und Gruppenexklusion. Damit kann auch die Schaffung von Grenzen, Abgrenzungen und Pufferzonen durch Firestone erklärt werden, ebenso wie die Praxis der Geheimgesellschaft, die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion abhängig von Umständen und Absichten neu zu ziehen. Im Gegensatz zu Simmels Erkenntnissen zeigt die aktuelle Forschung, dass Geheimgesellschaften ihre Geheimhaltung nicht aufgeben, sobald sie sich zu relativ gesicherten und relativ offenen Entitäten entwickelt haben und auch zunehmend altruistische Ziele verfolgen. Die Feldforschungsergebnisse zeigen, dass die untersuchten Geheimgesellschaften trotz ihrer relativ gesicherten Stellung ihren esoterisch-heilerischen Kern betonen, selbst dann wenn sie, wie Firestone, altruistische Projekte betreiben, z.B. Wohnungsbauprojekte, Schulbau und -unterhaltung, Kirchen, Brunnenbetrieb und andere soziale Dienstleistungen. Die Erzeugung auf Geheimnissen basierender Ehrfurcht geht mit der Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen Hand in Hand.

In diesem Kapitel wird auch auf Firestones Nutzung von Ambiguität als Ressource eingegangen, was sich auf die Anerkennung wie die Nutzung des Jugend-Komplexes in Sierra Leone bezieht. Bei dem in der Arbeit verwandten Begriff ‚Jugend’ handelt es sich um ein nicht altersgebundenes Ausmaß sozio-ökonomischen Unvermögens. ‚Jugend’ bezeichnet daher das Unvermögen, aber auch das Bestreben, der sozial-ökonomischen Benachteiligung zu entkommen.

Kapitel Drei untersucht, wie Firestone durch seine nicht-geheimen Aktivitäten seine Existenz kommuniziert, seine Bedeutung für die sozial benachteiligte urbane Bevölkerung im Alltag unterstreicht und gleichzeitig die Vorrangstellung seines geheimgesellschaftlichen Kerns betont. Die Organisation übernimmt Verantwortung, indem sie an den Rändern der Gesellschaft Staatsaufgaben erfüllt, nämlich soziale Dienstleistungen erbringt, die ansonsten fehlen. Im Zuge der Erfüllung dieser sozialen Aufgaben wird deutlich, dass die soziale Kategorie ‚Jugend’ als verbindendes Glied zwischen religiösen und ethnischen Identitäten sowie zwischen geheimen und nicht- geheimen Dimensionen geheimgesellschaftlicher Organisation fungiert.

Das Kapitel zeigt auf, wie Mitglieder und Nichtmitglieder von Geheimgesellschaften den urbanen Raum als Bühne (performative stage) nutzen. Für die Analyse, wie soziale Akteure auf ihren verschiedenen Bühnen und deren Schnittpunkten agieren und wie sie selbige sowie deren Grenzen und Grenzziehungen konzeptualisieren, wird Goffman (1959) herangezogen. Meine Forschungsergebnisse erweitern Goffmans Konzept von einer ‚back stage’ und einer ‚front stage’. Aus den Interaktionsebenen von Firestone und verwandten Organisationen wird deutlich, dass mehrere solcher ‚front’ und ‚back stages’ mit verschiedenen Stufen des Zugangs, des Nichtzugangs oder des bedingten Zugangs existieren.

Selbst innerhalb einer bestimmten ‚front stage’ existieren verschiedene Bühnen. Der Grad des Zugangs bzw. der Einschränkung des Zugangs wird durch die Art der Mitgliedschaft des betreffenden Firestone-Mitgliedes oder des sozialen Akteurs bestimmt. Abhängig vom Zeitpunkt und von der Situation kann eine ‚front stage’ auch eine ‚back stage’ werden und umgekehrt. Es wird zudem darauf eingegangen, wie die Ränder selbst stratifiziert sind. So befinden sich Frauen an deren äußersten Rändern, die sie jedoch nutzen, um Kapital aus ihrer einzigen gemeinsamen Ressource – einem Brunnen – zu ziehen. Eine Kernaussage des Kapitels ist, dass die gemeinsame Erfahrung von Marginalität soziales Kapital konstituiert.

Kapitel Vier untersucht die Machtausübung der Geheimgesellschaften auf verschiedenen Interaktionsebenen und im Bereich der breiteren Gesellschaft. Die Interaktionen zwischen dem Staat, den Rändern und den urbanen Geheimgesellschaften wie Firestone bedürfen eines neuen Konzeptes von Macht als einem vielschichtigen Phänomen. Die Forschungsergebnisse belegen einen Diskurs von Mächten bzw. Machtidiomen, die der Sichtweise auf Macht als etwas rein Politischem entgegenstehen. Diese Pluralisierung von Macht hat Folgen für den Staat, die sozialen Ränder, deren gegenseitige Durchdringung, die Schaffung von Grenzen sowie die situationsbedingte Kollaboration zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Außerdem funktioniert das geographische Gebiet unter Firestones Kontrolle wie eine Art Kleinstaat – die dort ständig gehisste esoterische Flagge verdeutlicht, dass sich dieses Gebiet praktisch außerhalb der staatlichen Kontrolle befindet.

Untersucht werden weiterhin die Grenzen staatlicher Macht, und wie marginale Geheimgesellschaften den Staat einerseits stützen und andererseits auch seine Machtlosigkeit offensichtlich machen. Ein Beispiel hierfür ist die Art und Weise, in der eine Truppe der Para-Polizei, bestehend aus Mitgliedern verschiedener marginaler Geheimgesellschaften von Freetown, selbständig Kriminelle aufspürte, die die Polizei nicht fassen konnte. In einem anderen Fall war es der Polizei unmöglich, das gestohlene Mobiltelefon eines Politikers wiederzufinden, während ein Netzwerk von Mitgliedern marginaler Geheimgesellschaften hierbei erfolgreich war. Aufgrund dieser Unterstützung der staatlichen Sicherheitsbehörden können Mitglieder von Geheimgesellschaften eine Sonderbehandlung einfordern, dies auch, wenn sie selbst mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Machtlosigkeit des Staates in der Sphäre der Geheimgesellschaften wird auch deutlich, wenn sich bei öffentlichen Umzügen der Geheimgesellschaften auch Minister, andere Regierungsangehörige und selbst bewaffnete Polizisten auf den Boden legen, um keinen Schaden durch esoterisch-heilerische Kräfte zu erleiden.

Kapitel Fünf beschäftigt sich mit der Frage, ob die tägliche Interaktion von Geheimgesellschaftsmitgliedern sowie zwischen Geheimgesellschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern ein Feld gemeinsamer Erfahrungen schafft, welches in Folge den Akteuren näher steht als die Nation. Anhand von Beispielen wird gezeigt, dass es verschiedene Versionen der Nation gibt: die offizielle Nation und die gelebte, von den Geheimgesellschaften geprägte Nation, die von den Mitgliedern als die authentische Nation begriffen wird.

Schlussfolgerungen

Meine Ethnographie und Analyse liefern die folgenden Forschungsergebnisse für die Ethnologie und Sozialwissenschaften allgemein:

1. Freetowns marginale Geheimgesellschaften sind ein Mittel zur Integration in eine offene Gesellschaft; sie sind Plattformen, die das Erheben von sozialen Forderungen ermöglichen. Für Mitglieder und assoziierte Personen eröffnen sie Wege, um ihre persönliche und gemeinschaftliche Stellung in Sierra Leones urbanen, semi-urbanen, ländlichen und nationalen Räumen auszuhandeln. Während verschiedene Personenkreise andere Werkzeuge als Geheimgesellschaften zur Verfügung haben und nutzen, um ihre Ziele in der Stadt oder landesweit zu erreichen, so ist die Mitgliedschaft in einer Geheimgesellschaft für viele benachteiligte Menschen in Freetown das wirksamste Mittel – auf Grundlage der produzierten Furcht und Ehrfurcht und der geschaffenen Möglichkeiten – Bedeutung für sich als Person oder für die Gruppe zu erlangen.

2. ‚Jugend’ ist ein sozial-ökonomisches Cluster an den sozialen Rändern Freetowns und innerhalb marginaler Geheimgesellschaften, das alle sozio-ökonomisch benachteiligten und nicht abgesicherten Menschen umfasst. Im Kern bedeutet er Unfähigkeit und Unsicherheit, und umfasst daher Männer, Frauen, Kinder und Ältere von bis zu 70 Jahren. ‚Jugend’ in diesem Sinne schließt auch Ansprüche ein. Die Attraktivität der Begriffsbezeichnung ‚Jugend’ geht allerdings nicht nur auf die damit verbundenen Ansprüche zurück, vielmehr ergeben sich für Menschen durch diese Selbstbezeichnung Chancen. ‚Jugend’ ist eine Überlebensstrategie und Taktik.

Als performatives Cluster bildet die den Umständen geschuldete ‚Jugend’ (circumstantial youth) eine Brücke zwischen Macht und Machtlosigkeit und produziert auf diese Weise Formen von Macht. Diese Eigenschaften, zusammen mit dem Ausmaß und dem Potential von Marginalität, führen dazu, dass Personen mit sozialer, ökonomischer und politischer Macht Statusmigrationen hinunter zu den marginalen Geheimgesellschaften anstreben, um vom Status der Jugend oder von Marginalität zu profitierten bzw. diese zu erreichen. Diesen Prozess nenne ich die Kommodifikation von Marginalität. In Gesellschaften mit einer Vielzahl sozial benachteiligter Menschen strebt das Individuum gewöhnlich an, Freunde in hohen Positionen zu gewinnen. Dies trifft auch auf Freetowns umkämpfte Räume (contested spaces) zu, aber auch die Umkehrung ist zutreffend: Hochgestellte streben nach vertikal-abwärtsgerichteter Integration und setzen auf Freunde in niedrigen Positionen, um ihre eigene Stellung auf der erreichten Ebene zu festigen oder sogar weiter aufzusteigen.

3. Die Forschungsergebnisse zeigen den Unterschied auf zwischen dem, was der Staat sein sollte und dem, was er wirklich ist. Der Staat sollte ein Apparat sein, ein Gesamtgebilde mit gerichtlicher Macht über sein definiertes Territorium und einer Reihe von Institutionen und Praktiken. Zudem sollte er in diesem Territorium sichtbar, greifbar und fühlbar sein, nicht allein aufgrund bestimmter Praktiken sondern vor allem durch soziale Dienstleistungen wie Schulen, Gesundheitseinrichtungen, sicheres Trinkwasser, Sicherheit, etc. Die Untersuchung zeigt jedoch, dass der Staat nur ein Begriff, eine geopolitischer Ausdruck ist, der kaum Verwaltungsaufgaben erfüllt, welche die Bezeichnung ‚Staat’ rechtfertigen würden. Der Staat ist daher eine Abstraktion. Praktisch ist der Staat insbesondere an den sozialen Rändern der Gesellschaft nur minimal erkennbar bzw. vorhanden, er kann dort auch keine Sicherheit gewährleisten und entsprechend kein Gewaltmonopol beanspruchen. Diese Gegebenheiten führen dazu, dass weite Gebiete innerhalb des Nationalstaates zu de facto Kleinstaaten werden und die Pflichten des Staates selbst übernehmen. So verbessert sich die Verhandlungsposition der sozialen Ränder gegenüber dem juristischen Staat, mit dem sie in Folge zu ihren eigenen Bedingungen zu interagieren vermögen. Solche Machtbeziehungen entstehen auch in Freetown, wo Firestone und verbündete urbane Geheimgesellschaften ihre Macht aus dem esoterischen Wissen und der bloßen Anzahl der marginalisierten Menschen ziehen.

Ich gehe auf die Stärken und Schwächen verschiedener Ansätze ein, den Staat zu definieren oder zu diskutieren: Staat als Gesamtgebilde mit gerichtlicher Macht über sein definiertes Territorium und mit einer dazugehörigen Reihe von Institutionen und Praktiken. Ich füge hinzu, dass der Staat tatsächlich das Resultat des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins jenes Gesamtgebildes, jener juristischen Macht, jener Institutionen und Praktiken in diesem definierten Territorium und im Leben der Menschen dort ist. In weiten Teilen des definierten Territoriums ist der Staat vor allem als Diskurs vorhanden – der gekennzeichnet ist durch besagtes Vorhandensein oder Nichtvorhandensein, durch die Erfahrungen, Erinnerungen und Interaktionen der Menschen an und mit dem Staat und seinen Manifestationen.

4. Der Alltag und damit verbundene Praktiken von Mitgliedern urbaner marginaler Geheimgesellschaften und assoziierter Personen bilden die Grundlage für einen deutlich stärkeren Zusammenhalt als die offizielle Nation. Orte ihrer täglichen Interaktion werden zu Räumen, in denen ähnliche Umstände produziert, praktiziert und geschaffen werden, so dass sie die Eigenschaften mikronationaler Orte annehmen. Diese Räume bilden die gelebte Nation und stehen im Gegensatz zur offiziellen Nation. Letztere ist keineswegs irrelevant, sie ist die Nation als Idee. Die alltäglichen Erfahrungen, das gemeinsame Erleben von Verlust, Entbehrungen und Streben nach Erfolg allen Widerständen zum Trotz werden allmählich zu einer anderen und neuen Form nationaler Identität – das die marginalisierte Bevölkerung, welche die Mehrzahl der Mitglieder von Odelays und verbündeten Geheimgesellschaften stellt, als die authentische, gelebte Nation ansehen – die Nation von unten.

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