"The Native Son and Blood Ties": kinship and poetics of patronage in rural Kyrgyzstan

Aksana Ismailbekova
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

OPAC

Date of Defense | Tag der Verteidigung
08.02.2012

Supervisors |  Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Peter Finke

German summary - Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation untersucht Patron-Klient-Beziehungen im ländlichen Kirgisistan vor dem Hintergrund von weitreichendem sozialpolitischem Wandel. Sie basiert auf einer Feldforschung, die ich in zwei Dörfern (Bulak und Orlovka) im Norden Kirgisistans (Chui Provinz) von März 2007 bis April 2008 durchfühlte. Die im Verlauf dieser Feldforschung erhobenen Daten lassen sich in zwei Kategorien einteilen: primäre Daten, die durch ausführliche Interviews und teilnehmende Beobachtung gewonnen wurden, und sekundäre Daten, die etwa aus Zeitungsartikeln und Archivdokumenten stammen.

Patron-Klient-Beziehungen stellen eine Form interpersönlicher Beziehungen dar, die entgegen der Prognosen von Sozialwissenschaftlern, die sich bereits in den 1960er und 1970er Jahren dafür interessierten (Foster 1963, Schmidt et al. 1977, Wolf 1977), mit zunehmender Modernisierung nicht obsolet geworden ist. Mittlerweile wird Patronage gerne als omnipräsent und als sehr anpassungsfähig beschrieben (Roninger und Gunes-Ayata 1994). Diese Beschreibung trifft auch auf Zentralasien und im Besonderen auf Kirgisistan zu, wo Patronage seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung zur liberalen Marktwirtschaft neue Formen  angenommen hat. Welche neuen Fom1en von Patronage seit 1991 dort entstanden sind, zeige ich in der vorliegenden Arbeit, die Patronage in Relation zu Verwandtschaft untersucht, und eine Analyse der im Kontext von  Patron-Klient-Beziehungen angewandten Symbole und Rituale liefert.

Theoretischer Rahmen

In der vorliegenden Arbeit setze ich mich mit Studien zu Patronage aus der Politikwissenschaft, Soziologie und Ethnologie auseinander. In vielen dieser Studien werden Patronage und Verwandtschaft strikt als sich gegenseitig ausschließende Beziehungssysteme aufgefasst (Blok 1974, Gellner und Waterbury 1977, Silverman 1977). Damit wird auf eine Variante von Patron-Klient-Beziehungen fokussiert, die im heutigen ländlichen Kirgisistan zwar existiert, aber nicht dominant zu sein scheint. Dort lässt sich in der Praxis eine starke Tendenz der Überlappung von Patronage und Verwandtschaft feststellen. Diese Tendenz zeugt u.a. davon, dass die kirgisische Gesellschaft weiterhin stark verwandtschaftsbasiert ist.

Kirgisen verfügen über ein weitentwickeltes segmentäres Lineage-System, auf das sie strategisch Bezug nehmen, um Patron-Klient-Beziehungen zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Schlees theoretisches Modell zu Prozessen der Identifikation (2007, 2008) bietet eine angemessene Perspektive für die Analyse der Art und Weise, wie Zugehörigkeit zu Abstammungsgruppen unterschiedlicher Größenordnung benutzt wird, um Patronageansprüche zu legitimieren. Darüber hinaus stütze ich mich auf Baileys Konzepte normativer und pragmatischer Regeln ( 1969, 2001), Cohens Symbolismus ( 1974) und Herzfelds Ansatz zu , Social Poetics' (1998, 2005). Nur durch die Synthese der unterschiedlichen -jedoch zugleich in Beziehung zueinander stehenden - Ansätze der oben genannten Autoren ist es möglich, ein klares Bild der Funktionsweisen von Patronage in der kirgisischen Gesellschaft zu erlangen. Durch diese Ansätze lassen sich die Strategien der kreativen Manipulation von Genealogien, sozialen Nonnen und von mit Verwandtschaft zusammenhängenden Symbolen, die von als Patron und Klient handelnden Akteuren verfolgt werden, gut erfassen. Diese theoretischen Modelle ermöglichen es zudem, die Legitimierung von bestimmten Verhaltensweisen in Zeiten sozialen Wandels zu verstehen.

Patronage in Kirgisistan: Persistenz und Wandel

Nach der Unabhängigkeit 1991 und unter der Führung von Präsident Akajew nahm der kirgisische Staat schnell starke neopatrimoniale Züge an. In den drei Amtsperioden des Präsidenten (1991-2005) wurden hohe Posten im Staatsapparat noch vorwiegend mit Vertretern des ,Ancien Regimes' besetzt. Diese hochrangigen Beamten nutzten ihre Positionen, um selbst an Investitionskrediten zur Gründung privater Unternehmen zu kommen und um ihren Verwandten und Klienten aus der Sowjetzeit den Zugang zu derartigen Krediten zu erleichtern. Mit ihrer Unterstützung entstand eine neue Generation von Patrons, die aus gut ausgebildeten Fachkräften besteht, die erst nach dem wirtschaftlichen und politischen Systemwechsel im Staatsdienst integriert wurden.

Seit Beginn des Systemswechsels stammen alle Patrons aus den Reihen von Staatsangestellten, die sich zugleich als private Unternehmer betätigen. Für alle gilt zudem, dass sie zunehmend an Abstammungs- und Verwandtschaftsideologien appellieren, um ihre Gefolgschaft zu erweitern und ihre Aufstiegschancen zu erhöhen. Besonders stark auf diese Ideologien rekurrieren zum einen Patrons der jüngeren Generation und zum anderen Patrons, die sich auf den unteren Ebenen der Patronenhierarchie befinden. Letztere Tendenz hängt z.T. damit zusammen, dass Patrons auf unteren Ebenen sich in einer prekäreren Situation als Unternehmer
befinden als Patrons der höheren Hierarchieebenen. Kennzeichnend für Patrons der unteren Ebenen ist auch, dass sie eine höhere Anstellung im Staatsdienst anvisieren, um sich ihren Erfolg als Geschäftsmänner zu sichern.

Zur neuen Popularität der Rückbesinnung auf Abstammungs- und Verwandtschaftsideologien trägt sicherlich die schlechte wirtschaftliche Lage Kirgisistans bei. Diese Rückbesinnung wird nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass Verwandtschaftsstrukturen aus der Zeit sowjetischer Herrschaft nicht so geschwächt hervorgegangen sind, wie sowjetische Wissenschaftler es oft behaupten. In der Sowjetzeit bauten dennoch Patronagenetzwerke tatsächlich weniger auf Verwandtschaft auf als dies gegenwärtig der Fall ist. Zudem wurden Patronageangebote weniger offen ausgenutzt als heute.

Menschen nehmen häufig Patronageangebote in Anspruch, weil sie dadurch das erhalten können, was sie zur Deckung ihrer materiellen und physischen Grundbedürfnisse benötigen (Einkommen, Zugang zur medizinischen Versorgung usw.). Auf lange Sicht haben Patron-Klient-Beziel1tmgen allerdings keinen berechenbaren Ablauf. Dies liegt daran, dass sie prinzipiell auf Freiwilligkeit beruhen und jederzeit abgebrochen werden können, sobald die Akteure sich nicht mehr einigen können. In der heutigen Zeit, in der ein großer Teil der kirgisischen Bevölkerung unter Arbeitslosigkeit und Verarmung leidet, konkurrieren zum einen immer mehr Menschen untereinander um eine Klientelbeziehung zu einem Patron. Zum anderen steht außer Frage, dass die Gewinner in diesem Konkurrenzkampf jene Kirgisen sind, die eine genealogische Verbindung zu einem Patron konstruieren können. Diese
Kirgisen haben neuerdings nicht nur bessere Chancen, sich als Klienten in Patronagenetzwerke einzubringen, sie werden auch besser vergütet als andere Kirgisen, wenn sie in den privaten Unternehmen ihrer Patrons arbeiten. Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht verwunderlich, dass auf lokaler Ebene Patronage unterschiedlich bewertet wird. Klienten, die der Gruppe der ,Besserverdiener' angehören, dicken Patronage eher in ein positives Licht. Die Klienten, die für die gleichen Arbeitsleistungen weniger bekommen, zeichnen sich durch eine kritischere Haltung aus und tendieren stärker dazu, Patronage mit Korruption zu assoziieren.

Charakteristisch für Patrons der postsowjetischen Ära ist ferner, dass sie zu Zeiten politischer Wahlen Feste in ihren jeweiligen Herkunftsdörfern organisieren, im Rahmen derer sie sich als großzügige ,Native Sons' inszenieren und ethnische Darbietungen von Kirgisentum angeboten werden. Neu ist zudem, dass Patrons einen Teil ihrer Profite aus ihren privaten Unternehmen dazu benutzen, um einige der kollektiven Bedürfnisse ihrer Herkunftsgemeinschaft zu befriedigen. Allen gemein ist, dass  sie sich als Entwicklungsagenten betätigen und keinen Hehl daraus machen, dass sie Geschäft und Politik als zwei Seiten derselben Medaille ansehen. Im
Untersuchungsgebiet ließ sich aber kein Patron identifizieren, der auf die Bekleidung eines höheren politischen Amtes als das eines Parlamentariers abzielte. Die Erlangung eines Sitzes als Abgeordneter wurde hier bereits mit einem Aufstieg in die höchste patronale Hierarchieebene gleichgesetzt.

Lokalisierte Demokratie

Der Zusammenbruch der Sowjetunion stellte die Kirgisische Republik vor eine doppelte Herausforderung. Zum einen markierte der Zusammenbruch den Anfang einer neuen Ära, in der Kirgisistan damit begann, seine  Geschichte, seine politische Erinnerung umzuschreiben und im Rahmen des Prozesses der Nationenbildung Raum für eine spezifische kirgisische Kultur zu schaffen. Nachdem die Kirgisische Republik ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, bedienten sich ,Nation-Builder' bei ihren Versuchen, eine kirgisische Identität zu konstruieren, großzügig einer Rhetorik der Brüderlichkeit ("Wir sind alle Brüder"). Gleichzeitig verlangte der Aufbau des neuen kirgisischen Staates nach Institutionen, die effizient genug waren, um ökonomische und politische Reformen durchführen zu können. In diesem zweigleisigen Prozess des Wechsels zur liberalen Marktwirtschaft und der politischen Liberalisierung halfen externer und interner Druck den kirgisischen Staat umzugestalten. Patron-Klient-Beziehungen waren - wie ich zeige - in diesem Prozess von entscheidender Bedeutung.

Dass diese Beziehungen bei der Umgestaltung des Staates eine wesentliche Rolle gespielt haben, wird in den jüngsten Studien zu Politik und Patronage in Zentralasien, wie etwa von Politikwissenschaftlern wie Schatz (2000) und Collins (2002), negiert. Dies liegt z. T. am enggefassten politikwissenschaftlichen Begriff von Patronage. Viele der Beziehungen, die ich als klientelistische bezeichne, betrachten sie als rein verwandtschaftliche, wobei sie gerne von ,Klanpolitik' reden. Wie ich in dieser Arbeit zeige, projizieren sie den Begriff ,Klan' auf Gruppierungen, von denen sie behaupten, dass sie weiterhin ,Corporate Groups' im ethnologischen Sinne bilden,  obwohl dies in der Praxis keineswegs der Fall ist.

Die meisten Politikwissenschaftler verstehen Patronage als hinderlich für die Entwicklung von Demokratie. Wie problematisch die in Kirgisistan zu beobachtende Ausdehnung von Patronage aus der Perspektive des  westlichen Ideals von Demokratie auch erscheinen mag, so müssen wir doch anerkennen, dass die jeweiligen Akteure, die in Patron-Klient-Beziehungen involviert sind, demokratische Reformen stark unterstützen. Patronage kann als ein Modus von lokalisierter Demokratie betrachtet werden, in die die Menschen emotional eingebunden sind.

Zum Aufbau der vorliegenden Dissertation

Im einleitenden Kapitel stelle ich die Fragestellung meiner Arbeit vor ebenso wie die Methoden, die ich zur Datengewinnung während meiner 13-monatigen Feldforschung angewendet habe. Den theoretischen Rahmen für die Arbeit präsentiere ich in Kapitel 1.

In Kapitel 2 behandele ich Patronage in Kirgisistan aus einer historischen Perspektive. Im Zentrum von Kapitel 3 stehen das Verwandtschaftssystem der untersuchten Akteure, die bei ihnen vorherrschenden Heiratsformen und Haushaltstrukturen. Kapitel 4 ist der Verflechtung von Patronage und Verwandtschaft gewidmet. Hier zeige ich, wie sich Kirgisen in der Praxis der verschiedenen Ebenen der Lineage-Struktur strategisch bedienen, um Patronagenetzwerke aufzubauen und zu nutzen.

In Kapitel 5 gehe ich zum einen auf die ethischen Normen ein, die in den Interaktionen zwischen Patrons und Klienten respektiert werden sollten. Zum anderen illustriere ich am Beispiel einer privaten Farm, inwiefern diese Normen in der Praxis umgesetzt werden. Auf dieser Farm waren alle Klienten bemüht, sich als 'harte Arbeiter' ihrem Patron gegenüber darzustellen. Zugleich buhlten viele untereinander um seine Gunst und teilten sich in kleinere Gruppen auf ("Kreise des Vertrauens"), die jeweils andere Gruppen von Klienten schlecht machten. Der Patron wiederum behandelte alle seine Klienten nicht wirklich gleich, schenkte ihnen aber öfter Geld, wenn sie sich in Notsituationen befanden, um ihre Loyalität ihm gegenüber zu stärken.

Kapitel 6 gibt Einblicke in die Bedeutung von Allianzen zwischen Patrons und Vertretern des Staates für den Ausgang von Konflikten. Im Konfliktfall, den ich hier diskutiere, hatten Dorfbewohner ganz andere Interessen als  ihr Patron. Im Gegensatz zum Patron befürworteten sie den Bau einer Moschee auf einem Grundstück, das sie als kollektives Eigentum ihrer Dorfgemeinschaft betrachteten. Der Patron hingegen beanspruchte das Grundstück für sich und wollte darauf eine Privatklinik errichten und konnte sein Interesse aufgrund seiner größeren Fähigkeit, ein strategisches Bündnis mit Beamten der Landregistrierungsbehörden einzugehen, durchsetzen.

Kapitel 7 enthält eine Beschreibung des Parlamentswahltags 2007 und der Kampagne, die dieser Wahl vorangegangen ist. Die Bewohner des Dorfes Bulak, in dem ich mich am Wahltag befand, nahmen aktiv an dem Wahlprozess teil. Sie unterstützten die sozialdemokratische Partei (SDPK), eine Partei, an deren Spitze ein Politiker stand, der in Bulak geboren war, sich als ,Native Son' präsentierte und von den Dorfbewohnern auch als solcher bezeichnet wurde. Wie diese Bezeichnung strategisch von Patrons und Klienten benutzt wurde, um von einander Solidarität einzufordern, zeige ich in diesem Kapitel.

In Kapitel 8 umreiße ich das kirgisische Ideal des Festessens und zeige, inwiefern dieses Ideal bei einem politischen Essen realisiert wurde, das zur Feier des Wahlsieges der sozialdemokratischen Partei SDPK veranstaltet wurde und in dessen Verlauf eine Rhetorik der Einheit gepflegt wurde.

Im abschließenden Kapitel fasse ich die wichtigsten Ergebnisse meiner Forschung zusammen und reflektiere darüber, wie meine theoretischen Überlegungen zu Patronage von Mitarbeitern internationaler NGOs, die in Kirgisistan tätig sind, aufgenommen wurden.

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