Negotiating Language and Identity: The case of Belgium

Jolanda Lindenberg
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
09.03.2010

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Burkhard Schnepel

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit Fragen der Identität unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sprache bei der Bildung von Wir-Gruppen, der sozialen und politischen Definition von Alterität, sowie der Aushandlung von Konflikten zwischen niederländisch- und französischsprachigen Gruppen Belgiens. Sie basiert auf der Auswertung einer 12-monatigen Feldforschung, die Regionen übergreifend angelegt war, aber vor allem in Flandern durchgeführt wurde. Als Hauptforschungsgebiete wurden dort zwei de facto bilinguale Städte (Sint-Genesius-Rode und Wemmel) mit Einrichtungen ausgewählt, die offiziell zur Verbesserung von administrativen Dienstleistungen für Bürger aus der als administrativ nicht-dominant geltenden Sprachgruppe (französischsprachige Belgier) dienen. Hinzu kamen vergleichende und ergänzende Feldforschungen in zwei vorstädtischen Gemeinden (Lochristi und Fléron) mit monolingualem Status, in denen solche Einrichtungen fehlten. Eine dieser Gemeinden befindet sich in Flandern, die andere in Wallonien, dem französischsprachigen Teil Belgiens.

Im Verlauf der Analyse von Identifikations- und Abgrenzungsprozessen in Belgien setze ich mich zunächst mit Repräsentationen von primordialer und konstruktivistischer Identität auseinander. Im Anschluss diskutiere ich Ansätze zur Relation zwischen Sprache und Identifikation. Schließlich hebe ich die politische Dimension dieser Relation hervor, wobei ich Debatten zu Konfliktmanagement in meine Analyse einbeziehe.

Die oben genannten Fragestellungen werden mit Hilfe analytischer Begriffe der Handlungstheorie von Alfred Schütz (1951, 1954, 2003), wie etwa den Konzepten Lebenswelt, Wirklichkeits- oder Realitätsbereiche, Relevanzstrukturen und Wissensvorrat untersucht. Nach Schütz verfügt jedes Individuum über eine Lebenswelt, die sich aus verschiedenen Realitätsbereichen zusammensetzt, die jeweils mit Relevanzstrukturen sowie Wissensvorräten verbunden werden, welche wiederum zum großen Teil sozial abgeleitet sind. Zudem wird erwartet, dass Relevanzstrukturen in der Interaktionssituation von den beteiligten Subjekten zunächst geteilt und dann situativ weiter ausgehandelt werden. Wie von Schütz betont, erfolgen diese Aushandlungsprozesse einerseits auf der Basis des eigenen Wissensvorrats aus früheren Erfahrungen und der eigenen Kompetenzen und andererseits unter Berücksichtigung allgemeiner Regeln, Normen und Werten. Schütz’ Ansatz erfasst also zwei Dimensionen der Aushandlung von Identität: die individuelle sowie die soziale Dimension. Die Interaktionen zwischen diesen beiden Dimensionen der Aushandlung von Identität stehen im Zentrum der vorliegenden Dissertation, wobei Schütz’ Ansatz insbesondere zur Analyse dieser Interaktionen eingesetzt wird.

Bei der Untersuchung von Identifikationsprozessen in Belgien wird deutlich, dass die verschiedenen Ebenen von regionaler, nationaler und transnationaler Identifikation in unterschiedlichen Beziehungen stehen, die jeweils von der individuellen Konzeptualisierung von Identifikation abhängen. Für die Analyse der Interaktionen dieser Ebenen scheint es sinnvoll zwischen Formen der Identifikation, die in paradigmatischer Relation zueinander stehen und Formen, die sich in einem syntagmatischen Verhältnis befinden, zu unterscheiden (Schlee 2004, 2008). Ein Flame, der sich beispielsweise für Separatismus ausspricht, setzt regionale und nationale Identifikation in eine paradigmatische Relation zueinander. Hier werden zwei Identitäten, die flämische und die belgische, auf die gleiche Ebene angesiedelt – die nationale – und daher als inkompatibel miteinander betrachtet. Ein Flame, der sich nun weiterhin mit dem Föderalstaat Belgien identifiziert, sieht hingegen die oben genannten Identitäten als sich nicht gegenseitig ausschließend an, da er diese Identitäten in ein syntagmatisches Verhältnis zu einander stellt bzw. auf zwei verschiedenen Ebenen verortet. Wie in der Arbeit betont wird, hängt das Positionieren der Identitätsdimensionen in eine paradigmatische oder syntagmatische Beziehung auch von individuellen Konzeptualisierungen von Identität und sozialen Grenzen ab (Barth 1969). In Belgien wurden nicht einfach territoriale und administrative Grenzen entlang sprachlicher Linien gezogen: Auch dort hat die Tatsache, dass bei solchen Grenzziehungen ein kulturelles Merkmal aufgegriffen wurde, klare Auswirkungen auf emische Konzeptualisierungen von Identifikationen und sozialen Grenzen.

Mit der Beschreibung der Semantik von Identifikation und der Skala soziolinguistischer Identifikation wird die Diskussion von primordialistischen und konstruktivistischen Ansätzen eingeleitet. Im Falle einer Identifikation aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit, deren Beanspruchung mit Verwandtschaftsprinzipien begründet wird, kann der Gebrauch einer Sprache durchaus kognitiv als eine primordiale Form soziolinguistischer Identifikation beschrieben werden. Der Gebrauch einer Sprache kann aber auch praktisch-taktisch eingesetzt werden, um eine weitere Identität für sich zu beanspruchen. Mit Blick auf diese verschiedenen Möglichkeiten zeige ich in der vorliegenden Dissertation, dass jeder der oben genannten Ansätze von Identität sich bei der Analyse von Identifikationsprozessen als nützlich erweist und dass beide Ansätze miteinander kombiniert werden können (Donahoe et al. 2009). Die Kombination solcher Ansätze erscheint umso sinnvoller, als unterschiedliche Konzeptualisierungen von Identität in verschiedenen Situationen variabel ausgehandelt werden können. Letzteres ist konsistent mit der Schütz’schen Idee, dass Relevanzstrukturen auf der Basis von Wissensvorräten situativ ausgehandelt werden: z.B. hängt es von den an der Situation beteiligten Personen und deren Wissensvorräten und Relevanzstrukturen ab, ob Sprache als praktisches Kommunikationsmedium genutzt wird, oder in ihrem symbolischen Wert als Identitätsmarker.

In der anthropologischen Literatur zu Identität wird Sprache oft auf eine Identifikationsressource reduziert. Dabei wird Sprache meist als ein der Identität vorgelagertes Etwas behandelt. Mit Rückgriff auf Ansätze aus der Soziolinguistik und der linguistischen Anthropologie wird in der vorliegenden Studie die Analyse der Relation zwischen Sprache und Identifikation durch die Untersuchung der Art und Weise, wie Sprachpraktiken durch Identifikation beeinflusst werden, erweitert. Zugleich wird in dieser Arbeit der Umstand berücksichtigt, dass emische Konzeptualisierungen der Relation zwischen Sprache und Identität Sprachpraktiken beeinflussen. Diese Konzeptualisierungen können mit Bezug auf Schlees (2001) Unterscheidung zwischen emblematischem, kognitivem, symbolischem und praktischem Gebrauch von Sprache analysiert werden. All diese Formen des Gebrauchs von Sprache werden in der hiesigen Dissertation thematisiert und unter Berücksichtigung der Probleme, die durch die Möglichkeit der unterschiedlichen Gewichtung bestimmter Formen durch interagierende Akteure auftreten können, diskutiert. Dies kann am Beispiel einer Interaktionssituation illustriert werden, in denen ein Flame, der dem symbolischen Wert von Sprache als Identitätsmarker große Bedeutung beimisst, auf einen französischsprachige Belgier trifft, der seinerseits Sprache eher als praktisches Kommunikationsmedium betrachtet. Diese beiden Personen können aufgrund ihrer unterschiedlichen Relevanzstrukturen in Konflikt darüber geraten, wofür Sprache in dieser konkreten Situation steht und welche Sprache im Gespräch miteinander zu benutzen. In Belgien kann außerdem beobachtet werden, dass sich Flamen bei der Definition ihrer soziolinguistischen Identität zuerst auf territoriale Prinzipien beziehen. Französischsprachige Akteure hingegen heben personengebundene Identitätskonzepte hervor. Zugleich richten sie sich bei der Entscheidung für oder gegen den Gebrauch der eigenen Sprache in Interaktionen mit Flamen eher an lokalen Größenverhältnissen zwischen Sprachgemeinschaften aus. In Zusammenhängen überwiegend französischsprachiger Bevölkerungsanteile wird prinzipiell davon ausgegangen, dass der Gegenüber Französisch beherrscht und der französischsprachige Interaktionspartner deshalb nicht ins Niederländische zu „switchen“ braucht. Diese Erwartung wird selten enttäuscht, wobei dies zum Teil auf die Erinnerung an die besondere Stellung des Französischen im vorföderalen Belgien zurückzuführen ist.

In Belgien galt das Französische bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als Sprache der höheren sozioökonomischen Klassen. Diese Situation hängt mit der Position des Französischen als europäische Elitensprache im 19. Jahrhundert zusammen, eine Position, die auch durch die Unabhängigkeit Belgiens von den Niederlanden in 1830, das Aufkommen nationalistischer Bewegungen und der Ideologie „eine Nation, eine Sprache“ verstärkt wurde. Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1870 wurden jedoch Bemühungen der offiziellen Gleichstellung von Niederländisch und Französisch unternommen. Diese Bemühungen, die mit Versuchen der Standardisierung der in Belgien gesprochenen Variante des Niederländischen einhergingen, hatten in der Praxis erst in den 1950er Jahren Erfolg, als Flandern einen wirtschaftlichen Aufschwung erfuhr. Mit der ökonomischen Prosperität Flanderns fand nicht nur eine Aufwertung des Niederländischen statt, sondern es zeichnete sich auch eine Tendenz der zunehmenden Identifikation über Sprache in beiden Teilen Belgiens ab. Diese Tendenz ist gegenwärtig besonders ausgeprägt, und wurde durch die offizielle Umwandlung Belgiens in einen Föderalstaat in 2001 forciert. Seitdem die Föderalisierung in Belgien mit einer deutlichen Verlagerung der Entscheidungsmacht von der nationalen auf die gemeinschaftliche und regionale Ebene einhergeht, ist das Konfliktpotential zwischen niederländisch- und französischsprachigen Gruppen gestiegen. Die hier präsentierte Analyse zeigt, dass die oft von Politikwissenschaftlern und Politikern vertretene These, dass Föderalisierung eine Strategie zur Konfliktminimierung darstellt, einer Relativierung bedarf. Unumstritten bleibt jedoch, dass die Konflikte zwischen den oben genannten Gruppen in der Regel nicht gewaltsam ausgetragen werden. Elwerts (2004) Ansatz zur Konflikttheorie folgend können dort zwei Hauptformen der gewaltfreien Konfliktaustragung identifiziert werden: Verfahren und Meidung. Verfahren, d.h. Handlungskonstellationen mit geordneten Sequenzen und institutionalisierten Strukturen der Kompromissbildung, werden in Belgien eher auf der föderalen Ebene wirksam. Auf der regionalen Ebene hingegen wird Meidung als Form der Konfliktaustragung stärker kultiviert. Schon deswegen, weil Regionen weitgehend autonom voneinander sind, können Interaktionen zwischen Regionalregierungen auf ein Minimum reduziert werden. Auch die Gestaltung des alltäglichen Lebens ist in hohem Maße um die Vermeidung von Interaktionen zwischen niederländisch- und französischsprachigen Akteuren organisiert. In der Praxis richtet sich sogar die Mitgliedschaft in Vereinen vor allem nach der offiziellen Sprachzugehörigkeit. Dies hängt wiederum mit der Art und Weise zusammen, wie Föderalisierung vor Ort implementiert wird. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache und aufgrund eigener Beobachtungen kann betont werden, dass im Falle Belgiens die Föderalisierung als Form der politischen und administrativen Organisation nicht nur zur Rigidifizierung sprachlicher Unterschiede, sondern auch zur Akzentuierung von Differenzen in anderen Bereichen als dem sprachlichen, führt.

Dies wird bei der Analyse der sozialen Erinnerungen von niederländisch- und französischsprachigen Akteuren deutlich. Wie in der Arbeit gezeigt wird, avancieren soziale Erinnerungen zu interpretativen Rahmen, die sowohl Prozesse der Re-Interpretation von vergangenen Konflikten als auch die Handhabung gegenwärtiger Konflikte mitbestimmen. Diese interpretativen Rahmen, die inzwischen auf hoch institutionalisierte Weise weiter getragen werden, variieren je nach Sprachgruppe, und sie sind – wie Schütz es formulieren würde – Teil des Wissensvorrates geworden, der zugleich die Relevanzstrukturen der jeweiligen Gruppen mitbestimmt. Die eben beschriebenen Entwicklungen haben zwei sich gegenseitig verstärkende Auswirkungen. Erstens kommt es zur Meidung des interpretativen Rahmens der jeweils Anderen durch institutionalisierte Mittel: getrennte Medien, unterschiedliche Bildungssysteme und Regionalpolitiken. Zweitens tragen sie zur Perpetuierung der Relevanz der Basis beider interpretativen Rahmen bei, nämlich sozio-linguistischer Identifikation.

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