Why Did They Stay Behind? Identities, Memories, and Social Networks of Kazakhstani Germans

Rita Sanders
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
17.01.2011

Supervisors |  Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Peter Finke (University of Zurich)

OPAC

German summary - Deutsche Zusammenfassung

Kasachstan wird zumeist als der „internationalste“ Staat Zentralasiens charakterisiert. Laut offizieller Statistiken leben in Kasachstan mehr als 100 verschiedene ethnische Gruppen, wobei jedoch allein Kasachen und Russen zusammen mehr als 80% der Bevölkerung ausmachen. Nach dem Ende der Sowjetunion wurde vielfach eine ethnisch konfliktreiche Entwicklung in deren Nachfolgestaaten angenommen, die jedoch im Hinblick auf Kasachstan weitgehend ausblieb. Dafür wird auch eine ethnisch ausbalancierte Politik von Nursultan Nasarbajew, dem ersten und bis heute einzigen Präsidenten Kasachstans, verantwortlich gesehen. Allerdings gilt zu berücksichtigen, dass allein bis 1997 ca. 1,5 Millionen Menschen bzw. 10% der Bevölkerung auswanderten. Diese enorme Abwanderungsbewegung betrifft Kasachstandeutsche in besonderem Maße, denn fast 80% von ihnen sind bis heute nach Deutschland immigriert. Damit verringerte sich die Zahl der Deutschen von ca. einer Million im Jahr 1989 auf 230 000 im Jahr 2007.

Die vorliegende Arbeit thematisiert das Leben derjenigen, die in Kasachstan blieben. Kasachstandeutsche werden zumeist mit dem Label Diaspora versehen, was eine ethnisch abgegrenzte Gruppe annimmt, die durch ihren Bezug zu einem Heimatland definiert ist. Darüber hinaus wird in jüngeren Studien das Konzept des Transnationalismus verwendet, womit persönliche und institutionelle Verflechtungen zwischen denen die auswanderten und denen die blieben thematisiert werden und deren Formierung zu einem transnationalen sozialen Feld angenommen wird. Diese Dissertation bietet eine kritische Reflexion beider Konzepte, indem der Austausch von Unterstützungen und Bedeutungen in sozialen Netzwerken sowie deren Einflüsse auf Ethnizitätskonstruktionen im lokalen Kontext in Kasachstan untersucht werden. Dabei wird herausgestellt, wie transnational übertragene Bedeutungen von den Menschen in Kasachstan neu interpretiert werden, um ihren vor allem lokal definierten Belangen zu entsprechen. In diesem Zusammenhang wird nachgegangen, wie transnational übertragene Deutschlandbilder mit kasachstandeutschen Erinnerungen „ihrer Vergangenheit“ und ihrem Konzept einer deutschen Identität zusammenwirken. In einem weiteren Schritt wird die Bedeutung der Minderheitenpolitik seitens des kasachischen Staates sowie die Einwanderungspolitik und Minderheitenförderung des deutschen Staates für eine deutsche Identität in Kasachstan beleuchtet. So thematisiert die Arbeit das Wechselspiel von Erinnerungen, sozialen Beziehungen und staatlicher Politik und wie dieses Menschen bei ihrer Identitätskonstruktion unterstützt und begrenzt.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste Kapitel liefert neben einer einleitenden Darstellung des Forschungsstandes zum Thema einen Überblick über die Arbeit leitende theoretische und methodische Aspekte zu Identität, Ethnizität und Migration und deren empirischer Untersuchung. Ethnische Identitäten werden als eine Spezifizierung von Identitäten dargestellt, die grundsätzlich durch Selbst- und Fremdzuschreibung von kulturellen Merkmalen fortwährend konstruiert werden, wobei geteilte Schemata zu Identitäten sowie emotionale Bindungen an einzelne kulturelle Merkmale wie Sprache oder Territorium sowie an die jeweiligen Identitäten selbst stabilisierend wirken und willkürlichen oder rein instrumentellen Identifikationen im Wege stehen. Des Weiteren wird herausgestellt, dass diese Arbeit in erster Linie mit der Analyse einer mittleren Ebene von Kognitionen, Institutionen und sozialen Netzwerken befasst ist, wobei individuelle Varianz und äußere Rahmenbedingungen, die sich u.a. durch staatliche Politiken und makroökonomische Entwicklungen ergeben, berücksichtigt werden.

Das Forschungsthema wird mit einem Mix von quantitativen und qualitativen Methoden bearbeitet. Anhand von Lebensgeschichten werden kasachstandeutsche Selbstzuschreibungen und emotionale Bindungen an Identitäten untersucht. Mithilfe von Methoden aus der kognitiven Anthropologie werden die von Kasachen, Russen und Deutschen geteilten Schemata zu „Nationalität“ und den einzelnen ethnischen Gruppen sowie Fremdzuschreibungen zu Kasachstandeutschen näher beleuchtet. Die Ennittlung von egozentrierten Netzwerken liefert Informationen über ethnische und räumliche Strukturen von sozialen Beziehungen einzelner Personen, die mit kognitiven Mustern und emotionalen Bezügen zu bestimmten Identitäten verglichen werden. Teilnehmende Beobachtung liefert Informationen darüber, wie sich Individuen in unterschiedlichen Situationen ethnisch positionieren und wie ethnische In- und Exklusionsmechanismen wirken. Der letzte Teil des ersten Kapitels stellt den Feldforschungsort Taldykorgan vor und liefert eine zeitlich strukturierte Darlegung der verwandten Methoden.

Das zweite Kapitel bietet einen Abriss von für die Themenstellung relevanten Ereignissen der Geschichte Kasachstans sowie der der Russland- bzw. Kasachstandeutschen. Der Fokus liegt dabei auf den von den jeweiligen Staaten – d.h. von Russland, der UdSSR, Deutschland und Kasachstan – vertretenen Ethnizitätskonzepten und deren konkrete politische Umsetzungen sowie auf den Konsequenzen, die diese für die jeweilig betroffenen Menschen hatten und haben. Deutsche wanderten in mehreren Wellen gegen Ende des 18. Jh. und während des 19. Jh. nach Russland ein. Zielte die Anwerbung von Peter dem Großen noch auf Spezialisten wie Handwerker, so wandte sich das 1763 von Katharina der Großen veröffentliche Manifest an bäuerliche Einwanderer aus den deutschen Einzelstaaten. Die Anwerbung war gebunden an eine Ansiedlung der Einwanderer an der Wolga sowie an der Schwarzmeerküste. Die erste Generation der Siedler hatte einen schwierigen Start, da viele von ihnen über nur unzureichende landwirtschaftliche Kenntnisse verfügten und mit den fremden klimatischen Bedingungen nicht zurechtkamen. Dies änderte sich jedoch zumeist schon in der folgenden Generation und führte dazu, dass viele der deutschen Einwanderer besser gestellt waren als ihre bis 1861 zumeist leibeigenen russischen Nachbarn. Die einst für die deutschen Siedler gewährten Privilegien wie Religionsfreiheit und Befreiung vom Militärdienst wurden erst sukzessive durch die sich verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen nach der deutschen Reichgründung 1871 und insbesondere nach Beginn des ersten Weltkrieges abgeschafft. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR führte 1941 dazu, dass nahezu alle Russlanddeutschen aus ihren Siedlungsgebieten in der Wolgarepublik und an der Schwarzmeerküste nach Sibirien oder Zentralasien deportiert wurden. Somit stieg die Zahl Deutscher in der kasachischen SSR zwischen 1939 und 1959 von 92 571 auf 659 751.

Die Konzepte Nationalität und Nation wurden in der UdSSR in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert und führten zu widersprüchlichen politischen Umsetzungen. Widersprach die Vorstellung von ethnisch unterschiedlichen Menschen einer Sowjetideologie, die davon ausging, dass nicht ethnisch-nationale sondern ökonomische Parameter das menschliche Sein bestimmen, so wurden dennoch eine ethnische Abstammung ab dem Jahr 1932 im Pass fixiert sowie ethnisch markierte Republiken eingerichtet. Dieser Widerspruch wurde als temporäres Phänomen gedeutet und mit einem anvisierten „Verschmelzen der Nationen“, das jedoch zunehmend in eine entferntere Zukunft projiziert wurde, zu lösen versucht. Dabei wurde es als die Aufgabe aller Nationalitäten gesehen sich „zu entwickeln“, was paradoxerweise einschloss, dass diese zunächst einmal, ein Bewusstsein für ihre eigene ethnische Identität und Kultur erlangen sollten. Für die Phase des Übergangs zum Sowjetmenschen wurde darüber hinaus das Konzept der „Völkerfreundschaft“ propagiert, wobei gleichzeitig zahlreiche ethnische Gruppen, wie zum Beispiel Kasachen, unter politischen Repressalien zu leiden hatten. Viele Nachwirkungen dieser zwiespältigen Nationalitätenpolitik der UdSSR lassen sich auch in Äußerungen und Handlungsweisen im heutigen Kasachstan aufspüren.

Im dritten Kapitel wird zum Einen eine von Kasachstandeutschen geteilte Vorstellung einer Kategorie „deutsch“ vorgestellt und zum Anderen eine Typologie unterschiedlicher Ausprägungen kasachstandeutscher Identitäten anhand von vier beispielhaften Lebensgeschichten dargelegt. Dabei wird argumentiert, dass sich diese Identitätsausprägungen aus den jeweiligen Erfahrungen, die eine Person gesammelt hat, ergeben und für diese Person einen Rahmen für mögliche Identifikationen bilden.

Kasachstandeutsche Identitäten unterscheiden sich demnach im Hinblick auf die Relevanz, die eine ethnisch deutsche Identität spielt, oder darauf, ob der Bezug zu einer übergeordneten Einheit gesucht wird, und zweitens hinsichtlich der Positionierung zu Russen und Kasachen. Interpretieren viele eine deutsche Identität als Spezifizierung einer kasachstanrussischen, so sehen einige andere eine deutsche Identität in klarer Abgrenzung zu einer russischen, wobei gleichzeitig zumeist eine deutsch-kasachische Bindung unterstrichen wird.

Eine in erster Linie ethnisch definierte Identität zeigt sich, wenn Personen ihre Lebensgeschichte maßgeblich durch ihr Deutsch-Sein bestimmt sehen. Dies bezieht sich zum Einen auf diejenigen, die ethnische Diskriminierung erlebten. Zweitens sind dies häufig Deutsche, die in „deutschen Dörfern“ aufwuchsen und somit in besonderem Maße von der Auswanderungssituation und insbesondere der Tatsache, dass nahezu alle Familienangehörigen und viele Freunde und Nachbarn auswanderten, betroffen sind. Die „deutsche Kindheit und Jugend“ in einer nun vergangenen „deutschen Welt“ erlangt dabei einen besonderen Wert, der nicht „verraten“ werden darf. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die Personen sich selbst gegen eine gemeinsame Auswanderung mit ihrer Familie entschieden haben oder ob ihr Einreiseantrag abgelehnt wurde.

Eine ethnische Identität ist von untergeordneter Bedeutung, wenn diese als nicht maßgeblich für die Lebensgeschichte interpretiert wird. Dies bezieht sich in erster Linie auf Personen, die beruflich erfolgreich sind, ihre Umwelt als überwiegend wohlwollend erleben und nicht in besonderem Maße von den negativen Konsequenzen der Auswanderung betroffen sind. Dennoch identifizieren sich auch diese Personen in bestimmten Kontexten als Deutsche. Bedeutsam ist aber, dass sie flexibler agieren und reagieren können, da sie mehrere Identitätsoptionen – Deutscher, Kasachstandeutscher, Kasachstaner und Russe – zur Verfügung haben als diejenigen, die sich ihrer deutschen Identität „verpflichtet“ fühlen.

Trotz unterschiedlicher Interpretationen einer deutschen Identität, die sich durch verschiedene Lebensgeschichten und damit verbundene emotionale Verknüpfungen ergeben, besteht Konsens hinsichtlich der Definition der Kategorie deutsch. Den Kriterien Sprache und Religion kommt dabei eine untergeordnete Bedeutung zu, da Kasachstandeutsche zumeist kein Deutsch sprechen und über keine als spezifisch deutsch zu interpretierende Religionszugehörigkeit gekennzeichnet sind. Eine deutsche Identität wird von Kasachstandeutschen vielmehr durch Abstammung und eine Reihe von als „typisch deutsch“ definierten Handlungsweisen und Charaktereigenschaften definiert. Diese werden als „im Blut“ übermittelte Charakteristika angenommen und aus der Spezifik der kasachstandeutschen Geschichte heraus erläutert. Dabei wird das Gedächtnis einer kasachstandeutschen Geschichte von den jüngeren Generationen dahingehend geformt, dass Erzählungen, die Russland- bzw. kasachstandeutsche als Opfer von Deportation und Diskriminierung schildern und die von der älteren Generation fokussiert erzählt werden, in den Hintergrund treten und solchen Interpretationen Platz machen, die Kasachstandeutsche als arbeitsame und zuverlässige Menschen darstellen, die dank ihrer Eigenschaften, selbst widrige Umstände zu meistern wussten. Ein dergestalt reinterpretiertes positives Gedächtnis bildet die Grundlage für die Attraktivität einer deutschen Identität im heutigen Kasachstan.

Im vierten Kapitel wird zunächst dargelegt, wie Kasachen, Russen und Deutsche das Konzept Nationalität begreifen und nach welchen Kriterien Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen den verschiedenen Nationalitäten angenommen werden. Nationalitäten sind demnach Gruppen von Menschen, die durch Sprache, (Ursprungs)Territorium, Religion und spezifische Charaktereigenschaften voneinander abgegrenzt werden. Häufig werden die einzelnen Nationalitäten dabei in zwei Gruppen eingeteilt: Die eine umfasst Kasachen und weitere zentralasiatische Nationalitäten sowie Kaukasus-Nationalitäten und zumeist Koreaner und Chinesen, die zweite Gruppe besteht aus Russen und weiteren europäischen Nationalitäten. Diese Einteilung wird von einigen Vertretern der zweiten Gruppe mit einer schwarz-weiß Dichotomie gefasst, wobei Vertreter der zweiten Gruppe gleichermaßen als „Russen“ bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund wird in einem weiteren Schritt erläutert, wie Kasachen und Russen die Kategorie deutsch definieren. Während Kasachen zumeist ein primordiales Verständnis von Nationalitäten haben und von daher auch eine deutsche Identität durch die Weitergabe bestimmter (als positiv konnotierter) Merkmale annehmen, stellen Russen eine deutsche Identität aufgrund fehlender Abgrenzungsmerkmale wie Sprache und Religion zumeist in Frage und schließen Kasachstandeutsche in die Kategorie russisch ein.

Im zweiten Teil des vierten Kapitels wird dargestellt, wie Kasachstandeutsche sich in verschiedenen Kontexten ethnisch identifizieren. Eine kasachstandeutsche Identität wird zumeist als persönliche Spezifizierung einer „öffentlichen“ russischen Identität verstanden, die von daher zumeist nur gegenüber vertrauten Personen genannt wird. Aufgrund fehlender Abgrenzungskriterien wie Sprache oder Aussehen werden Deutsche im Alltag von unbekannten Personen als „Russe“ kategorisiert. Die Kategorie „Russe“ referiert dabei außerdem auf eine empfundene politische Ausgrenzung als nicht-Kasache und widerstrebt damit der staatlicherseits vorgegebenen folkloristischen Interpretation des Nationalitätenbegriffs. Zweitens identifizieren sich Deutsche zumeist nur gegenüber Kasachen als Deutsche, gegenüber Russen jedoch als Russen. Dieses allgemeine Identifikationsmuster wird jedoch von den im vorangegangenen Kapitel dargestellten Identitätstypen u.a. dahingehend modifiziert, dass sich diejenigen, die sich in ihrem Identitätsverständnis von einer russischen Identität abgrenzen, auch nicht in der alltäglichen Praxis als Russen identifizieren.

Des Weiteren wird festgehalten, dass das Nationalitätenschema, obschon kaum eine Nationalität den vorgesehenen Kriterien entspricht, so z.B. kaum ein Kasachstandeutscher Deutsch spricht, nicht angepasst wird. Von Bedeutung ist dabei die staatlicherseits propagierte folkloristische Interpretation von Nationalität, die eine Zuschreibung von positiven Charakteristika für alle Nationalitäten vorsieht und ethnisch begründete Selbstzuschreibungen wie z.B. Fleißig-Sein unterstützt. So gesehen haben im staatlichen Diskurs propagierte Schemata ein Gewicht, denn allein durch ihre weite Verbreitung dienen sie als nichthinterfragter Interpretationsrahmen. Allerdings wird ebenso herausgestellt, dass erstens nicht alle weit verbreiteten Schemata wie z. B. die schwarz-weiß Aufteilung der Nationalitäten und ihre Abwandlung der Stadt-Land Dichotomie durch den Staatsdiskurs gedeckt sind und dass zweitens persönliche Modifikationen dieser weit verbreiteten Schemata häufig handlungsentscheidender sind.

Im fünften Kapitel werden soziale Netzwerke und ihre Verflechtung mit identitären Mustern aufgezeigt. Im ersten Teil werden lokale Netzwerke von Kasachstandeutschen vorgestellt. Dabei lässt sich festhalten, dass ihre sozialen Netzwerke weitestgehend der konzeptionellen Einteilung der Nationalitäten gleichen; so sind Beziehungen zu Kasachen und anderen Zentralasiaten selten und solche zu europäischen Nationalitäten stark überrepräsentiert. Allerdings ist die individuelle Varianz hinsichtlich der sozialen Beziehungen zu Kasachen groß; verfügen die meisten Kasachstandeutschen über wenige, so haben einige wenige viele Beziehungen zu Kasachen. Dabei sind letztere zumeist beruflich erfolgreich.

Im zweiten Teil des fünften Kapitels werden transnationale Beziehungen thematisiert. Zunächst wird gezeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Kasachstandeutschen über nahe verwandtschaftliche Beziehungen nach Deutschland verfügen. Allerdings wird auch dargelegt, dass Verwandte in Deutschland kaum um emotionale oder ökonomische Unterstützung gebeten werden. Dieser Umstand wird in erster Linie mit der Spezifik des ethnisch initiierten Migrationsprozesses in eine „historische Heimat“ erklärt, bei dem die überwiegende Zahl der aus Kasachstan ausgewanderten Deutschen ohne Rückkehroption migrierten und von daher weniger Kontakt zu ihren in Kasachstan gebliebenen Verwandten aufrecht hielten als dies in anderen Migrationsprozessen der Fall ist. Hinzu kommt, dass diejenigen, die in Kasachstan blieben, oft mit ihrer Familie brachen, da sie allein durch ihr Dableiben gegen den Ethos einer familienbasierten Handlungsweise verstießen. Den „Verlust“ der Verwandten in Deutschland empfinden viele als große Tragödie und Gefühle von Scham und Versagen prägen den Diskurs über das „nicht-Helfen“ der Verwandten in Deutschland.

Allerdings verfügen einige der Kasachstandeutschen über zahlreiche Beziehungen zu Freunden und Verwandten in Deutschland. Dies sind zumeist die im ersten Abschnitt des Kapitels angesprochenen „erfolgreichen Deutschen“. Von daher kann gezeigt werden, dass der Status der Personen in Kasachstan die Qualität der transnationalen Beziehungen beeinflusst, da erfolgreiche Deutsche weniger unter dem Druck stehen, ihre negative Migrationsentscheidung rechtfertigen zu müssen. Es sind häufig vielmehr sie selbst, die die schwierige Situation und mangelnde Integration ihrer Verwandten in Deutschland anmerken und dabei sowohl jene als auch die hiesige deutsche Bevölkerung dafür verantwortlich sehen. So gesehen sind es nicht mehr ihre Verwandten, die in eine vermeintliche „historische Heimat“ auswanderten, die in der Position sind, die Dortgebliebenen zu kritisieren, sondern diejenigen, die in ihrer Heimat Kasachstan blieben.

Der dritte Teil des fünften Kapitels bespricht die Übermittlung von Deutschlandbildern in einem transnationalen Feld und beleuchtet deren Einfluss auf kasachstandeutsche Identitäten. Es wird gezeigt, dass negative Deutschlandbilder vorherrschen, die sich zum Einen aus den negativen Schilderungen von Verwandten in Deutschland ergeben und zudem durch die häufig komplizierte Beziehungssituation zu diesen bestimmt sind. Dabei sind es die oben angesprochenen „erfolgreichen Kasachstandeutschen“, die aufgrund ihres sozialen Kapitals in der Position sind, (negative) Deutschlandbilder zu prägen und dabei jene übertönen, die über nur wenige soziale Beziehungen verfügen und dabei zumeist auch diejenigen sind, die das Bild einer positiv konnotierten „historischen Heimat“ Deutschland haben. So haben persönliche Beziehungen nach Deutschland letztlich lokale kasachstandeutsche Identitäten gefördert, die sowohl hiesige Deutsche als auch Kasachstandeutsche in Deutschland ausschließen. Die Etablierung eines transnationalen Feldes, das von einigen wenigen dominiert wird, hat damit zu einer identitären Lokalisierung geführt.

Im sechsten Kapitel wird der Einfluss der Minderheiten- bzw. Nationalitätenpolitik von Deutschland und Kasachstan auf kasachstandeutsche Identitäten thematisiert. Dabei erhält die kasachstandeutsche Organisation „Wiedergeburt“, die 1989 von Ethnoaktivisten mit dem Ziel einer Wiedereinrichtung der Wolgarepublik gegründet wurde, eine besondere Bedeutung. Die zum Teil von der GTZ finanzierte Organisation wurde mit der Gründung des Minderheitenassemblees Jahr 1995 sukzessive in dieses inkorporiert und damit zu einer staatlichen Institution Kasachstans. Die Organisation Wiedergeburt unterhält in 16 Städten lokale Filialen; in Taldykorgan besteht eine solche seit dem Jahr 1992, die zumeist als „deutsches Haus“ bezeichnet wird. Das „deutsche Haus“ in Taldykorgan leistet Unterstützung in Form von Sachleistungen wie Medikamenten, bietet Sprachkurse für Deutsch, Kasachisch und Englisch an und veranstaltet einen Senioren- und einen Jugendklub. Insbesondere ältere Kasachstandeutsche erwarten in erster Linie Unterstützung seitens des deutschen Staates. Die Verteilung von solchen Hilfsleistungen hat dabei dazu geführt, dass im Kontext des „deutschen Hauses“, und insbesondere von Mitgliedern des Seniorenklubs, die Kategorie deutsch enger ausgelegt wird, um weniger „berechtigte“ Hilfsbedürftige zu erzielen. Die verschiedenen Aktivitäten des Jugendklubs hingegen begeistern junge Menschen für eine deutsche Identität, die diese häufig auf nur ein deutsches Großelternteil zurückführen.

Der zweite Teil des sechsten Kapitels beschreibt die Rolle des „deutschen Hauses“ bei der Umsetzung des Staatskonzeptes „Völkerfreundschaft“‚ das insbesondere Nasarbajews liberale Haltung zu ethnischen Minderheiten belegen soll, am Bespiel des kasachischen Neujahrfestes Nauris. Das „deutsche Haus“ ist dabei wie alle anderen Minderheitenorganisationen dazu aufgefordert, „traditionelle ethnische Kultur“ wie Tänze und Gerichte zu präsentieren. Bemerkenswert ist dabei erstens, wie wenig die dort präsentierten kulturellen Ausdrucksformen mit kasachstandeutschem Alltag gemein haben, und zweitens, wie bewusst sich die Vertreter des „deutschen Hauses“ der ihnen übertragenen Aufgabe sind. Dennoch wird gezeigt, dass die unentwegte Präsentation „deutscher Ausdrucksformen“ ihre Wirkung hat, da möglicherweise gerade die Entkoppelung vom Alltag die weit verbreitete Vorstellung an einen unabhängig von Zeit und Raum bestehenden „deutschen Geist“ bekräftigt.

Im dritten Teil des sechsten Kapitels wird der Einfluss der deutschen Minderheiten- und Immigrationspolitik auf eine kasachstandeutsche Identität herausgearbeitet. Dabei wird festgehalten, dass der deutsche Staat zumeist als nicht legitim gesehen wird, kasachstandeutsche Identitäten prägen zu können, da sowohl Immigrations- als auch Minderheitenpolitik häufig für ihre empfundene Ungerechtigkeit kritisiert werden. Hinzu kommt, dass die widersprüchliche Politik, die einerseits eine primordiale Konzeption von Nation die Einwanderung Kasachstandeutscher leiten ließ und andererseits ein nun „modernes Verständnis“ von Deutschland mit Informationsbroschüren zu verbreiten sucht und Kasachstandeutsche zum Bleiben auffordert, auf Unverständnis stößt. Kasachstandeutsche sind daher völlig unzutreffend mit dem Label „Diaspora“ verstanden, da diese, auch angestoßen durch eine institutionelle transnationale Einbindung an das Land ihrer Vorfahren, zu diesem eine identitäre Distanz suchen.

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