From Shanghai to Iug-2: Integration and Identification among and beyond the Male Youth of a Bishkek Neighbourhood

Philipp Schröder
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense |  Tag der Verteidigung
18.06.2012

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Peter Finke

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

Meine Dissertation untersucht Identifikations- und Integrationsprozesse unter männlichen Jugendlichen einer Nachbarschaft im urbanen Kontext Bischkeks, der Hauptstadt der Kirgisischen Republik. Das ethnographische Material hierfür wurde in einer Feldforschung zwischen April 2007 und Oktober 2008 erhoben.

Zeitlich setzt die Forschung damit nach der so genannten „Tulpen-Revolution“ an, bei der im Frühjahr 2005 Askar Akaev, der erste Präsident seit der Unabhängigkeit Kirgistans im Jahr

1991, gestürzt wurde. Bei diesem Machtwechsel spielten Jugendliche und deren Teilnahme an den weitgehend unblutigen Demonstrationen in Bischkeks Zentrum eine nicht unerhebliche Rolle. In einer Zeit des Wandels und Umbruchs in Kirgistan zeigte sich an diesem Ereignis die gesellschaftliche Wirkmacht Jugendlicher. Andererseits konnte die Befürchtung nicht ausgeräumt werden, dass „die Jugend“ ein für politische Interessen instrumentalisierbarer Bevölkerungsteil ist.

Über dieses zweifellos relevante Einzelereignis hinaus rückte für mich damit die Alltagswelt jugendlicher Stadtbewohner ins Zentrum des Forschungsinteresses. Welche sozialen Beziehungen und ideellen Bezugssysteme sind relevant? Wie ordnen sich diese, nach welchen Regeln verlaufen und wandeln sie sich und anhand welcher Thematiken und Begriffe werden sie bearbeitet und ausgehandelt? Von diesen Fragen ausgehend soll meine Arbeit vor allem ein Beitrag zur Jugend- und Stadtethnologie Kirgistans und Zentralasiens sein. Beides sind Themen, die in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Region bislang wenig Berücksichtigung fanden.

Meine Arbeit beginnt mit der Beschreibung einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen zwei jungen Kirgisen auf dem Sportplatz der Nachbarschaft in der ich meine Feldforschung durchführte. Einer dieser jungen Männer war Batyr, ein langjähriger Bewohner der Nachbarschaft und die Schlüsselfigur dieser Studie. Im Gegensatz zu Batyr hatte sein Kontrahent in diesem Kampf keinerlei Bezug zu dieser Nachbarschaft, denn er war nur für einige wenige Tage aus einer ländlichen Region Kirgistans nach Bischkek gereist. Die detaillierte Darstellung dieser einleitenden Fallstudie erlaubt es mir, die meisten für diese Arbeit relevanten Akteure und Thematiken anzusprechen und die weitere Auseinandersetzung mit diesen in den einzelnen Kapiteln vorzubereiten.

Im nächsten Teil der Einleitung gehe ich auf verschiedene Aspekte meines „Feldes“ ein. Dies beinhaltet meine Annäherung an die Themen Stadt und Jugend in Kirgistan, genauso wie eine kurze Darstellung der relevantesten sozio-ökonomischen und geographischen Parameter der Nachbarschaft meiner Forschung, inklusive deren Verortung im Kontext von Kirgistans Hauptstadt Bischkek. Die Nachbarschaft meiner Forschung ist ein Plattenbauviertel, ein so genanntes mikroraion, das sich südlich von Bischkeks Zentrum befindet. Neben Iug-2 (Süd-2), dem offiziellen administrativen Namen, ist die Nachbarschaft lokal als Shanghai bekannt. Daraufhin spreche ich einige methodologisch-praktische Gesichtspunkte meiner Forschung an. Die Diskussion essentieller Felderfahrungen und methodologischer Implikationen soll erste Einblicke in die „Art“ meiner Daten geben und berührt die Bereiche Sport, Sprachpraxis, lokale Altersvorstellungen und Machtbeziehungen. Unter anderem wird dadurch deutlich, dass ich aufgrund meiner Fokussierung auf die qualitative, informelle Mikroebene von Kleingruppen langjähriger junger Nachbarschaftsbewohner nicht den Anspruch entwickeln kann „Jugend“ als soziale Kategorie und damit in Relation zu anderen Altersklassifikationen zu untersuchen.

Der abschließende Teil der Einleitung präsentiert den grundlegenden theoretisch- konzeptionellen Rahmen meiner Arbeit. Ich stelle hier zunächst mein Verständnis von Integration als sozialem Tausch vor. Im Anschluss verweise ich auf das Zusammenspiel von Integration und Identität, die als sozial konstruierter Referenzrahmen für diese Tauschprozesse dient. Im Anschluss daran gebe ich eine kurze Zusammenfassung des Ansatzes der „Neuen Institutionenökonomik“, der aus meiner Sicht alle relevanten Elemente vereint, um Prozesse der Integration und Identifizierung aus der zuvor skizzierten Perspektive zu untersuchen. Die Einleitung schließt mit der Forschungsfrage: Wie und im Bezug auf welche Identitäten und institutionellen Konstellationen engagieren sich die (eingeschränkt) rationalen Akteure meiner Feldforschung in (sozialem) Tausch, schaffen und bearbeiten dabei soziale Beziehungen und praktizieren damit letztlich Integration?

Ich habe Batyr in der einführenden Fallstudie als langjährigen Bewohner von Shanghai vorgestellt und seinen Kampf gegen die „Eindringlinge“ aus der ländlichen Region Kirgistans nachgezeichnet. Unter seinen Nachbarschaftsfreunden galt Batyr als Anführer (lider).Im zweiten Kapitel meiner Arbeit verfolge ich wie Batyr zu einer führenden Figur unter den Jugendlichen dieser Nachbarschaft wurde. Ich spreche dabei Aspekte wie Gewalt und Maskulinität an und stelle klar was es heißt „sich zu zeigen“, das heißt, wie man sich als Anführer in der Nachbarschaft Respekt erarbeitet und Verantwortung übernimmt für diejenigen jüngeren Bewohner über die man als Führer Autorität beanspruchen will. Ich gehe auf die Motivationen von Batyr und anderen jungen männlichen Nachbarschaftsbewohnern ein, die bis in die jüngere Vergangenheit an kollektiven, gewaltsamen Kämpfen gegen die Bewohner anderer Nachbarschaften in Bischkek teilgenommen hatten. Das über die gemeinsame Gewaltanwendung vermittelte Erfahren von „flow“, „communitas“, Prestige, Solidarität und Freundschaft öffnet den Blick auf die Nachbarschaft Shanghai als soziale wie symbolische Ressource für Integration, Differenz und Identifikation. Ich greife daran anknüpfend Repräsentationen von Shanghai auf wie sie in Graffitikunst, digitalen Bildern und in Internetgemeinschaften Ausdruck fanden.
Dieses Kapitel vereint Batyrs Biographie mit bestimmten Aspekten der Sozialgeschichte der Nachbarschaft und beschreibt ihn als Mitglied der letzten „Generation“ junger männlicher Shanghaier, die sich in der Vergangenheit an dieser Art von Kämpfen zwischen Bischkeks Nachbarschaften engagiert hatten. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung in den Jahren 2007 und 2008 gab es derartige Kämpfe bereits nicht mehr. Für die Bewohner Shanghais beeinflusste diese Tatsache nachhaltig die Wahrnehmung der Nachbarschaft als Ressource und veränderte die Praktiken ihrer sozialen Organisation, territorialen Integration und kollektiven Identifikation. Diese Themen werden dann in den nächsten Kapiteln meiner Arbeit sukzessive aufgegriffen.

Kanat war ebenso wie Batyr ein junger Kirgise, der sein gesamtes bisheriges Leben in dieser Nachbarschaft gewohnt hatte. In meiner Beschreibung der Ereignisse auf dem Sportplatz erwähne ich, dass Kanat zwar nicht unmittelbar an dem Zwischenfall beteiligt war, jedoch kurze Zeit später von „seinem Hof“ in Shanghai an den Ort des Geschehens herüber kam. Diese kurze Erwähnung hat ihre eigene Signifikanz, weil die Beziehung zwischen Batyr und Kanat essentiell davon geprägt war, dass ihre Wohnungen in unterschiedlichen Höfen der Nachbarschaft verortet waren. Von seinen jugendlichen Bewohnern wurde Shanghai als Einheit seiner einzelnen Höfe wahrgenommen, während gleichzeitig die Shanghaier deutlich unterschieden wer welchem Hof der Nachbarschaft zugehörig war.

Im dritten Kapitel betrachte ich die Wahrnehmung des „eigenen Hofs“ als bedeutungsvollen, öffentlichen wie privaten Raum, welcher eine spezifische moralisch-soziale Ordnung aufwies, genauso wie er im Bezug auf die Gesamtnachbarschaft eine ambivalente Rolle spielte. Ich stelle den Zusammenhang von architektonischen Anordnungen mit demographischen Konstellationen heraus, um der Frage nachzugehen was einen Hof ausmacht und welche weiteren Variablen die „Lebendigkeit“ eines solchen Raumes beeinflussten. Ich beschreibe wie sich die Beziehungen zwischen Shanghaiern verschiedener Höfe in Batyrs und Kanats Altersgruppe gestalteten und vergleiche dies mit der Praxis territorialer Integration unter Bewohnern, die jünger waren als sie. Während Batyr und seine Altersgenossen sich in der Vergangenheit sehr stark auf den eigenen Hof fokussierten und sich nur für die gemeinsamen Kämpfe gegen die verfeindeten Nachbarschaften mit den Mitgliedern anderer Höfe Shanghais vereinigt hatten, so knüpften die jüngeren Shanghaier auch Sozialbeziehungen im gesamtstädtischen Raum und über die geographischen wie mentalen Grenzen des eigenen Hofs und der eigenen Nachbarschaft hinaus.

Das vierte und fünfte Kapitel meiner Arbeit behandelt Shanghais Altershierarchie und die Beziehungen zwischen verschiedenen “Generationen” junger männlicher Nachbarschaftsbewohner. Im lokalen Verständnis waren junge Kirgisen wie Bolot, der 1983 geboren wurde, Batyr, der 1985 geboren wurde, und Semetei, der 1987 geboren wurde, Mitglieder verschiedener Generationen von Shanghaiern.

Während der Auseinandersetzung auf dem Sportplatz in Shanghai war neben Batyr auch Bolot anwesend. Ebenso wie Batyr war dieser ein langjähriger Bewohner der Nachbarschaft. Während Batyr jedoch den Kampf gegen die „Eindringlinge“ aus der ländlichen Region Kirgistans aufnahm, wurde Bolot nicht Teil der Gewalt und kämpfte nicht an Batyrs Seite, genauso wie er keine ernsthaften Versuche unternahm den Konflikt zu de-eskalieren.

Bolots Mangel an Entschlusskraft in dieser Situation geht auf seinen individuellen Status in der Nachbarschaft zurück, ebenso wie auf die Beziehung in der Bolot und Batyr stellvertretend für die Mitglieder ihrer jeweiligen Generationen standen. Im vierten Kapitel meiner Arbeit stelle ich vor was unter „einer Generation“ in Shanghai verstanden wurde, welche Stufen Altersgenossen gemeinsam durchliefen und in welchen Formen sich der Umgang der Mitglieder solcher verschiedener Generationen abspielte. Die gegenseitigen Positionierungen junger männlicher Bewohner innerhalb der Altershierarchie von Shanghai kamen letztendlich zustande aus einer Kombination von Seniorität (einem zugeschriebenen Status) und den individuellen Verdiensten um die Belange der Nachbarschaft (einem erworbenen Status). In diesem Zusammenhang untersuche ich wie Alter, Familienstand und familiäre Verpflichtungen, aber auch das Ende der kollektiven Gewalt zwischen Shanghai und den angrenzenden Nachbarschaften, zu einem Rückzug der älteren Generationen vom Leben „in den Höfen“ der Nachbarschaft führte und wie dies insgesamt die soziale Ablösung förderte zwischen Shanghaiern die bereits „weg waren von der Straße“ und solchen die noch den Großteil ihrer Freizeit „auf der Straße“ verbrachten. Ich stelle die Schwäche dieser Bindung dar, genauso wie ich aber auch einen Fall aufgreife der zeigt, wie diese schlummernden Beziehungen in bestimmten Situationen reaktiviert werden konnten.

Semetei war ein kirgisischer Shanghaier, der während der gewaltsamen Auseinandersetzung Batyrs auf dem Sportplatz nicht vor Ort war. Im Gegensatz zu Bolot, der als Ehemann und Vater zu einer Generation „weg von der Straße“ gehörte und damit nicht mehr in der Erwartung stand noch an der Seite Batyrs gegen die Eindringlinge zu kämpfen, hätte Semetei nicht gezögert und wäre bereitwillig Teil der Gewalt geworden. Diese Bereitschaft zur Gewaltanwendung kennzeichnete Semetei und seine Altersgenossen als Mitglieder einer jüngeren, „niederen“ Generation von Shanghaiern als Batyr und Bolot.

Das fünfte Kapitel untersucht die Beziehungen zwischen Batyrs Generation und den Nachbarschaftsbewohnern, die jünger waren als sie. Im Gegensatz zu den Generationen älterer Shanghaier waren Batyr und diese jüngeren Bewohner sämtlich noch „auf der Straße“ anzufinden. Sie waren damit nicht betroffen von einer ähnlichen sozialen Entkoppelung wie sie im Kapitel zuvor für die Generationenbeziehungen zwischen Bolot und Batyr festgestellt wurde. Die Beziehungen zwischen Batyr, Semetei und ihren jeweiligen Generationen waren lebendig und ich diskutiere ihre Verhältnisse im Bezug auf normative Verpflichtungen wie Loyalität, Respekt und Verantwortung. In diesem Zusammenhang beschreibe ich Semetei als
„fiktiven“ kleinen Nachbarschaftsbruder (bratishka) von Batyr, der wiederum als Semeteis bratan, sein großer Nachbarschaftsbruder, angesehen wurde. Ich gehe dann im Detail auf konkrete Einzelfälle der Interaktionen und Tauschprozesse von Batyr und Semetei ein. Diese verdeutlichen das Zusammenspiel eines solchen bratan-bratishka Verhältnisses mit Beziehungen zu „echten“ Verwandten und zu „Freunden“, genauso wie sich dadurch die verschiedenen Funktionalitäten und Trennlinien zwischen diesen sozialen Kategorisierungen aufzeigen lassen.

Ulan, ein langjähriger Nachbar von Batyr und echter Shanghaier, leistete Batyr im Gefolge des gewaltsamen Zwischenfalls auf dem Sportplatz der Nachbarschaft tatkräftige Hilfe. Mit Ulans Beteiligung konnte Batyr später am Abend Rache an den fremden „Eindringlingen“ nehmen und ihnen eine echte „Abreibung“ verpassen.

Nachdem ich in den vorherigen Kapiteln ein Verständnis für die Abgrenzungen zwischen Shanghais Generationen entwickelt habe, beschäftigt sich das sechste Kapitel mit den Beziehungen zwischen Batyr und seinen direkten Altersgenossen, wie etwa Ulan. Unter den männlichen Bewohnern Shanghais war es eindeutig, dass Freundschaft nur unter den Mitgliedern der gleichen „Generation“ von Shanghais Altershierarchie möglich war.

Durch die Analyse von „Kulturprodukten“ wie Rap-Liedern oder Trinksprüchen arbeite ich zunächst heraus, dass Freundschaftsbeziehungen unter männlichen Jugendlichen vor allem von einem idealisierten Verständnis mechanischer Solidarität geleitet wurden. Ich zeige, dass sich dieses Verständnis von Solidarität, welches gefasst wurde im gleichwertigen Austausch von Respekt und Verantwortung, sowohl auf Hilfeleistungen in Notsituationen beziehen konnte, genauso wie auf das gemeinsame Verbringen der „guten Zeiten“. Davon ausgehend diskutiere ich Solidaritätspraktiken der Shanghaier im Bezug auf verschiedene Freizeitaktivitäten, den Ausdruck von Maskulinität und Emotionalität sowie die Beziehungen zu Frauen. Diese Freundschaftsverhältnisse setze ich daraufhin in Beziehung zu den Vorteilen und Pflichten, die für Batyrs Generation von Shanghaiern aus den Beziehungen zu ihren (erweiterten) Familien und Verwandten entstanden. Letztendlich wird aus dieser Kontrastierung deutlich, dass sich Batyr und seine Altersgenossen während meiner Feldforschung in einem Lebensabschnitt befanden, der es noch zuließ sich eine „Zeit der Freundschaft“ zu leisten, inklusive eines aufwendigen, umfassenden und „quasi- verwandtschaflichen“ Verständnisses von männlicher Solidarität.

Neben Batyr und dem älteren Shanghaier Bolot war auch Maks während des gewaltsamen Zwischenfalls auf dem Sportplatz der Nachbarschaft anwesend. Maks war ein Altersgenosse Batyrs und langjähriger Bewohner Shanghais. In den Augen der jungen kirgisischen Bewohner wäre er damit verpflichtet gewesen, auf dem Sportplatz an Batyrs Seite gegen die Eindringlinge aus der ländlichen Region Kirgistans zu kämpfen.

Nachdem ich mich bislang vor allem auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unter den jungen kirgisischen Shanghaiern konzentriert habe, untersucht das siebte Kapitel die Beziehungen zwischen den beiden größten ethnischen Gruppen der Nachbarschaft: den russischen und kirgisischen Shanghaiern. Zunächst stelle ich heraus, dass die russischen Shanghaier, im Gegensatz zu den meisten ihrer langjährigen kirgisischen Nachbarn, auch soziale Kontakte außerhalb der Nachbarschaft unterhielten, etwa zu anderen Hobbysportlern oder Kommilitonen. Darüber hinaus spielte in Shanghai die unterschiedliche Haltung gegenüber der Anwendung physischer Gewalt nicht nur eine Rolle bei der Unterscheidung zwischen Führern und Gefolgsleuten, sondern auch bei derjenigen zwischen diesen beiden größten ethnischen Gruppen. Während für die kirgisischen Shanghaier die Anwendung von Gewalt ein essentieller Ausdruck ihrer jugendlichen Maskulinität war, sowie ein Mittel ihre sozialen Beziehungen zu ordnen, verhielten sich die russischen Bewohner von Shanghai diesbezüglich zurückhaltender. Davon ausgehend zeichne ich jenseits essentialisierender Vorstellungen zu Ethnizität das ambivalente Verhältnis zwischen kirgisischen und russischen Bewohner in Shanghai nach. Ich zeige dabei, wie hinter einer diskursiv propagierten Fassade harmonischer Koexistenz eine stille Unterordnung der russischen Shanghaier unter die Autorität ihrer kirgisischen Nachbarn aufschien. Auf der anderen Seite dieser kirgisischen Dominanz finden sich jedoch auch wohlgeschätzte Gemeinsamkeiten zwischen den etablierten ethnischen Gruppen in Shanghai. Neben der Vertrautheit aus lebenslanger Kohabitation und gemeinsamer (Jugend-) Sozialisation in den öffentlichen Räumen der Nachbarschaft, ist dies besonders die Präferenz für Russisch als primäre Sprache der inter- sowie intraethnischen Kommunikation. Gemäß dieser Ambivalenz minimalisierten die russischen und kirgisischen Shanghaier ihre tatsächlichen Interaktionen und bezeichneten sich lediglich als „Bekannte aus der Nachbarschaft“.

Über diese alltagspraktische Passivität hinaus verorteten sich die langjährigen kirgisischen und russischen Bewohner Shanghais gemeinsam in der „multi-ethnischen“ Identifikationskategorie der „Städter“. Diese Selbstwahrnehmung als Städter überbrückte ethnische Differenzierungen und stand in Opposition zur Kategorie der „Neuankömmlinge“ und „Dörfler“ in Bischkek, welche beinahe ausnahmslos ethnische Kirgisen waren.

Tilek war ein junger kirgisischer Bewohner der Nachbarschaft, der beständig versuchte seine Zugehörigkeit zu Shanghai unter Beweis zu stellen. Gegenüber Batyr und anderen langjährigen Bewohnern der Nachbarschaft war Tilek stets bemüht, sich als zuverlässiger, solidarischer Freund zu präsentieren. Er tat dies in der Hoffnung das Stigma überwinden zu können nicht als „echter Shanghaier“ angesehen zu werden, sondern lediglich ein „Neuankömmling“ in Bischkek und der Nachbarschaft zu sein, jemand der seine frühere Jugend in einer der ländlichen Regionen Kirgistans zugebracht hatte.

Im achten Kapitel meiner Arbeit verfolge ich Tileks entschlossenes Streben in Shanghai akzeptiert und integriert zu werden. Über die Betrachtung der Erfolge und Rückschläge in Tileks Streben nach Integration arbeite ich heraus, wer in Bischkek als „Neuankömmling“ galt und inwiefern sich die sozialen Fokussierungen dieser Neuankömmlinge von denen der Shanghaier unterschieden. Von dieser Grenzziehung zwischen Städtern und Neuankömmlingen ausgehend beschreibe ich, was als relevante Elemente einer urbanen Identität in Bischkek verstanden wurde. Ich diskutiere dabei die Bereiche Sprache, Verhaltenspraktiken und Erscheinungsbild im öffentlichen städtischen Raum und zeige, wie Neuankömmlinge sich diese in einem Prozess der urbanen Sozialisation aneignen konnten, um letztlich als „städtisch genug“ wahrgenommen zu werden. Diejenigen der neueren Migranten, denen die Erfüllung dieser Konventionen von den etablierten Städtern (noch) nicht zugestanden wurde, wurden von diesen als „grobe, aggressive und unzivilisierte Eindringlinge“ in die urbane Lebenswelt Bischkeks präsentiert.

Andererseits war die Solidarität unter den Städtern gegenüber dieser wahrgenommenen Bedrohung aus dem ländlichen Raum bis dato nicht mehr als eine rein rhetorische Allianz, ausgedrückt in Ankündigungen zukünftiger Gewalt gegen „Dörfler“, die sich jedoch (bislang) nicht in entsprechende Formen kollektiven Handelns umgesetzt hatten.

Im abschließenden Kapitel meiner Arbeit analysiere ich den Hintergrund dieses Identitätskonflikts von Städtern vs. Dörflern. Ich greife die relevanten Punkte der vorherigen Kapitel wieder auf und schließe daraus, dass die Identifikations- und Integrationspraxis der Shanghaier mit ihrer Nachbarschaft schwindet.

Dieser Prozess ist am engsten mit dem Ende der innerstädtischen Kämpfe unter den Nachbarschaften Bischkeks verbunden, denjenigen Formen kollektiver Gewaltausübung im Rahmen derer Batyr zum Führer seiner Nachbarschaft wurde und viele Shanghaier seiner Generation ihre bedeutsamsten Freundschaften knüpften. Seit dem Ende dieser Kämpfe, die um das Jahr 2003 bereits nicht mehr stattfanden, gab es in Shanghai keinen Führer mehr wie Batyr and es gab keine neuen Gewalterfahrungen, welche die soziale und symbolische Ressource Shanghai für die verschiedenen nachfolgenden Generationen etablierter Bewohner zu revitalisieren vermochten.

Letztendlich bestanden dieselben Gründe für das Ende der Kämpfe zwischen Bischkeks Nachbarschaften und dem Wechsel der primären Identifizierung, derjenigen vom Verständnis zuforderst ein Shanghaier zu sein und hin zu einer Identifikation als „Städter“ in Bischkek. Dieser Wandel ist eng verknüpft mit bestimmten gesellschaftlichen Prozessen der kirgisischen, post-sozialistischen Gesellschaft. Seit den frühen 1990er Jahren bereits verband sich die starke externe Migration der ethnischen Russen Kirgistans (vor allem in Richtung Russland) mit einer signifikanten Land-Stadt-Migration ethnischer Kirgisen. In Shanghai führte dies zu einer Gentrifizierung und Heterogenisierung der Einwohnerstruktur.

Gleichzeitig brachte das Zusammenkommen einer moderat positiven wirtschaftlichen Entwicklung mit fortschreitender technologischer Innovation neue, und vor allem bezahlbare Möglichkeiten der virtuellen Unterhaltung für Bischkeks Jugend hervor, wie etwa social networking websites, DVD-Leihmärkte und Ego-Shooter Computerspiele. Besonders für die Shanghaier der Generationen „unter“ Batyr und seinen Altersgenossen versprachen diese virtuellen Abenteuer vor Computer- und TV-Bildschirmen offenbar mehr Aufregung und „bonding“ als die echten, gewaltsamen Nachbarschaftskämpfe der jüngeren Vergangenheit.

Diese demographischen und ökonomisch-technologischen Faktoren trugen erheblich dazu bei, dass sich immer weniger „echte“ Shanghaier in den Höfen der Nachbarschaft befanden und anstelle dessen neue soziale Bindungen zu anderen Städtern in anderen Nachbarschaften eingegangen wurden. Im Rückgriff auf die theoretischen Anmerkungen aus dem einleitenden Kapitel kann man diesen Wandel der Integrations- und Identifikationspraxis, weg von der strengen territorialen Fokussierung auf die eigene Nachbarschaft und hin zur „höheren“ Ebene des gesamtstädtischen Kontextes, mit Hilfe von Begriffen wie Pfadabhängigkeit, der Persistenz informeller Institutionen, jugendlichen Präferenzkonstellationen und niedrigeren Transaktionskosten nachvollziehbar machen.

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