“The Last Bullet”: South Sudan’s emerging state
Timm Sureau
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Date of Defense | Tag der Verteidigung
10.07.2017
Supervisors
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Richard Rottenburg
German Summary | Deutsche Zusammenfassung
Ausgehend von der ursprünglichen Forschungsfrage „Wie entsteht Staat im lokalen Kontext?“ stellte ich während meiner Forschung im Südsudan und meiner theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema schnell fest, dass ich den theoretischen Fragenkatalog erweitern musste. Die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit sind folgende: Was ist Staat? Wie entsteht er? Auf welche Weise werden Staats- und Staatlichkeitsdefinitionen durch die Entstehung des Südsudans in Frage gestellt? Welche Prozesse laufen während der lokalen Entstehung des Staates ab?
Obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – Staaten eines der wichtigsten Organisierungsprinzipien dieser Welt darstellen, ist die Definition des Konzeptes „Staat“ sehr umstritten. Viele Definitionen beziehen sich nach wie vor auf Max Webers (1922) missverstandenes theoretisches Konstrukt, der nur einen Idealtypus aus der deutschen und möglicherweise auch europäischen Geschichte gebildet hat, also eine abstrahierte Darstellung des deutschen Staates im späten 19. Jahrhunderts. Die Staatswerdungsprozesse, die ich während meiner anderthalbjährigen Forschung von Oktober 2010 bis April 2012 im Südsudan untersuchte, bieten eine besonders gute Gelegenheit, das Konzept Staat erneut zu untersuchen. Ich forschte in den Städten Torit, Malakal und Juba (heute Südsudan), und Khartum (Sudan). Ausgehend von meiner teilnehmenden Beobachtung nahm ich auch an Workshops, an Friedensgesprächen und deren Vorbereitung, an einem Disarmament, Demobilisation, Reintegration (DDR)-Programm, an staatlichen Zeremonien wie der Unabhängigkeitsfeier in der Hauptstadt, bis hin zu Schulabschlussfeiern teil. Im Rahmen der Extended Case Method (basierend auf Evens and Handelman 2005; und Gluckman 1940) nutzte ich dabei follow-the-case, follow-the-object, follow-the-model als Methoden; pflanzte, jätete, erntete mit Forschungspartnern und Forschungspartnerinnen, schaute bei der Alkoholbrauerei und der Zubereitung von Teigbällchen zu, und war dabei, als sie anschließend verkauft wurden. Ich saß auf dem Markt und in Ministerien herum, fotografierte und kopierte Materialien und machte 76 semi-strukturierte Interviews auf Englisch, Juba-Arabisch, Deutsch und Französisch, und ließ 221 Fragebögen mithilfe von Forschungsassistenten und Forschungsassistentinnen ausfüllen. Dabei war auffällig, dass selbst Regierungsangestellte äußerst offen waren und mich – wie auch andere – bereitwillig an ihrer Arbeit teilnehmen oder zusehen ließen. Die Masken, welche sonst politische Praktiken überdecken und den Staat mystifizieren (vlg. Abrams 1988, 82), waren im Südsudan nur in Ausnahmefällen aufgesetzt. Dies ermöglichte es Südsudanforscherinnen und Südsudanforschern wie mir, individuelles, kollektives und staatliches Handeln und zugehörige Motivationen unterscheiden zu können, diese in Regierungsinstitutionen von bürokratischen Vorgängen abzugrenzen, und die Kodifizierungsprozesse in Bürokratien nachzuvollziehen.
Die Abwesenheit dieser Masken erlaubte es, das Konzept „Staat“ neu zu hinterfragen und es nicht nur als eine festgefügte normative Zusammenstellung von Vorstellungen aus der europäischen Geschichte zu sehen. Was Staat ist wurde zwar oft beantwortet, allerdings vereinfachen viele Ansätze die Komplexität auf eine m.E. unzulässige Weise. Diese Vereinfachungen gehen der komplexen Interaktion, welche den Raum zwischen Mikroaktionen und Makroentitäten ausmacht, aus dem Weg. Dies ist ein konstituierendes Problem des Staatsverständnisses, das Manuel DeLanda „das ewige Problem der Verbindung zwischen Mikro und Makro, zwischen individueller Handlung und Struktur“1 (DeLanda, Protevi, and Thanem 2013, 5) genannt hat. Vier Arten der Vereinfachung stelle ich dabei fest:
(1) Staaten nur mit einem normativen Konzept zu vergleichen, welches auf europäischen Methoden europäisches Territorium zu ordnen, basieren. Diese normativen Konzepte sind häufig hinter Vergleichsindexen (der wahrscheinlich bekannteste ist der „Fragile State Index“), Benchmarks, Modellen, Entwicklungsparadigmen, und -programmen versteckt, und halten eine europäische Sicht auf Staaten aufrecht (vgl. Bierschenk 2014, 225–26; Migdal and Schlichte 2005, 11; Rottenburg and Merry 2015).
(2) Komplexe prozessuale Entitäten, wie Staaten es sind, mit einer festgesetzten Zusammenstellung an Definitionen zu vergleichen ist äußerst fraglich – in Anbetracht von weltweit ca. 200 Staaten, die unter sehr unterschiedlichen Umständen entstanden sind und sich weiterhin verändern, z.B. auf relativ neuen Spielfeldern wie Cyberwars und digitaler Gouvernementalität.
(3) Die Reduktion größerer Entitäten auf die Verbindungen ihrer Akteure, wie in der Akteur-Netzwerk-Theorie, ignoriert strukturähnliche Komponenten wie Rechts- und Regierungsinfrastruktur, und andere, durch Wiederholungen geschaffene Quasistrukturelemente. Letztere werden in Schulen, Gesetzen, in Medien, auf den Straßen, durch Eltern, Polizisten, und durch Bücher weitergetragen und können die individuellen Verbindungen überdauern.
(4) Vereinfachungen, welche den größeren Entitäten zugeschriebenen Essentialismen auf die essentiellen Eigenschaften ihrer Komponenten zurückführen, verschieben nur das Problem des Essentialismus auf kleinere Entitäten, anstatt es zu bewältigen.
Einen Ausweg aus diesen Vereinfachungen bietet Gilles Deleuze und Félix Guattaris (1977; 1987) Theorie des Agencement, welche von Manuel DeLanda (2000; 2002; 2006) verständlicher reinterpretiert wurde. Ausgehend von meiner Empirie bildet diese die Basis für mein theoretisches Verständnis von Staat. Ein Agencement ist aus einer Vielzahl von kleineren, heterogenen Agencements aufgebaut und besteht sowohl aus deren Verbindungen, bildet aber auch selbst erneut Verbindungen aus und trägt damit zur Erschaffung größerer Agencements bei (Deleuze and Parnet 1987, 69). Um dies zu verdeutlichen, beschreiben Deleuze und Guattari (1987, 339) einen bewaffneten Reiter, welcher aus einem Pferd, einer Waffe und einem Menschen besteht. Da dessen Fähigkeiten mehr sind als die addierten Fähigkeiten seiner Komponenten, kann der bewaffnete Reiter nicht beschrieben werden ohne auf die Verbindung hinzuweisen. Die Waffe selbst ist ebenfalls ein Agencement aus Stahl, Holz, und Schmiedetechniken und erst die Verbindung schafft die Waffe. Die wahrnehmbaren Eigenschaften (properties) eines Agencements sind jeweils auf den Verbindungen kleinerer Agencement aufgebaut und sind daher keine essentialistischen Eigenschaften, das heißt sie sind nicht der jeweiligen Komponente eigen. Stattdessen sind es Fähigkeiten (capacities), entstanden aus der Kombination der jeweils kleineren Agencements. Diese Fähigkeiten können daher selbst immer auch erklärt werden, was dazu einlädt in Agencements hinein zu zoomen und diese Agencement empirisch zu untersuchen. Der Name “Agencement” weist auf die Agens hin, welche das Agencement konstant re-kreiert.2 Diese Agens und die Verbindungen untereinander können daher erforscht und im sozio-historischen Kontext verstanden werden, ganz im Gegensatz zu essentiellen Eigenschaften, die einfach hingenommen werden müssen. Damit können strukturelle Muster analysiert werden, ohne die inhärente konstitutive Agens auszublenden.
DeLanda bietet zwei Achsen zum Verständnis dieser Agencements an: (1) Materiell – Expressiv; und (2) Territorialisierend - Deterritorialisierend. Aufgrund der sprachlichen Nähe zu (Staats)-territorium, welches eine Komponente einer der gängigsten Staatsdefinitionen ist, habe ich mich dafür entschieden diese Achsen (1) material – semiotic; und (2) soldifiying – dissipating zu nennen. Solidifikation ist dabei die Hierarchisierung, Stabilisierung, und engere Verknüpfung der Komponenten des Agencements und Dissipation deren Destabilisierung. Materiell und semiotisch wiederum sind Beschreibungen der Komponenten, wobei jede Komponente immer sowohl materiell als auch semiotisch ist. Ein Staatsgebäude ist beispielsweise eher materiell, und ein Gesetz ist eher semiotisch. Besonders strukturschaffende hauptsächlich semiotische Elemente wie Gesetze werden kodifizierend genannt, und deren Auflösung dekodifizierend (codifying und decodifying). Geringe Solidifikationen, also Agencements mit weniger Struktur, sind offener für Kreativität und Änderung, während stark gefestigte Agencements wenig Spielraum dafür bieten. Dissipation ist also nicht notwendigerweise die Zerstörung des Agencements, sondern kann mithilfe des Konzeptes der Resolidifikation auch als Änderungspotential angesehen werden. Was ist aber nun ein Agencement, wenn es alles einschließt? Diese Frage beantwortet Harman (2008, 382), welcher ebenfalls mit DeLanda arbeitet, anhand von zwei weiteren Konzepten: (1) redundant causation (überreichliche Verursachung) und (2) retroactive effects (Rückwirkung):
(1) Diejenigen Handlungen, welche ein agencement verursacht, können zwar im Einzelnen auf z.B. Individuen zurückgeführt werden, aber die überreichliche Verursachung besagt, dass die Handlung auch ohne den jeweiligen Akteur, d.h. auch von einem anderen Akteur hätte ausgeführt werden können. In einem Staatsagencement ist die Handlung eines Polizisten auf diesen zurück zu führen, aber ein anderer Polizist hätte ähnliches verursacht.
(2) Das Konzept der Rückwirkung besagt, dass das Agencement, welches durch seine Komponenten erschaffen wurde, auf diese eine Wirkung hat. So wirkt in einem Staatsagencement das Konzept des Staates auf seine Komponenten zurück, das heißt die Komponenten werden in ihrem Handeln durch die Präsenz eines Staates beeinflusst, eines Staates den sie selbst kontinuierlich neu erschaffen.
Den Staat als Agencement zu sehen erlaubt es daher die Rolle neuer sowie alter Komponenten in Solidifikation, Dissipation, Kodifizierung und Dekodifizierung zu analysieren, ihre Materialität festzustellen, und für den jeweiligen Staat auszuarbeiten, welche Komponenten in Staatsprozessen welche Rolle spielen – anstatt diese Prozesse mit einem ursprünglich europäischen normativen Konzept zu vergleichen. Staat kann daher aus unterschiedlichsten geographischen, ethnischen, linguistischen, moralischen, ökonomischen, und technischen Ordnungseinheiten bestehen (Deleuze and Guattari 1987, 443), welche aber nur in ihrer Verknüpfung den Staat konstituieren. Diese beschriebenen theoretischen Überlegungen führe ich in dem einleitenden Kapitel 1 „‘The Last Bullet’: South Sudan’s emerging state” aus, in dem ich auch die einzelnen Kapitel vorstelle.
Das 2. Kapitel „The incoherent state: A trajectory of violent serendipity” ist in zwei Teile aufgeteilt. Erstens beschreibe ich geographische und regionale Unterschiede, zweitens behandele ich Gewalt, Gerüchte und Forschertraumata. (1) An den Beispielen von Handel und Reisemöglichkeiten, und anhand von „Tribalismus“-Vorwürfen, zeige ich auf, dass es geographisch bedingt äußerst unterschiedliche Sorgen im Südsudan gibt. Malakal liegt nahe dem Nordsudan. Es gibt hier keine ganzjährig befahrbare Straße zur Hauptstadt oder zu den meisten anderen Regionen des Südsudans. Der Nil ist zwar als Transportweg nutzbar, aber die Verbindung über den Nil und anschließend über Juba, Uganda und Kenia zu den Weltmeeren ist sehr viel weiter und dauert länger als über den Sudan zum Roten Meer. Der Markt in Malakal ist daher abhängig von Transportwegen in den Sudan. Die neue Grenze und deren mögliche Sperrung aufgrund von Spannungen zwischen den beiden Regierungen machte vielen Händlern Sorge, und sie bereiteten sich durch Diversifizierung der Handelsrouten auf diese mögliche neue Gegebenheit vor. Trotz all dieser Vorkehrungen kam es nach der Unabhängigkeit des Südsudans und nach Eintreten von Spannungen zu einer Lebensmittelknappheit in Malakal. Eine weitere Angelegenheit, die auffällig viele Menschen in Malakal beunruhigte, war sogenannter Tribalismus, also die Selektion von Menschen anhand ihrer zugewiesenen ethnischen Affiliation anstelle ihrer Fähigkeiten. Der Vorwurf des Tribalismus war allgegenwärtig in Malakal und betraf hauptsächlich die Besetzung von Regierungs- und sonstigen Arbeitsstellen im formellen Sektor. Auffällig war, dass beide Angelegenheiten (also die neue Grenze und Tribalismus) in Torit, also im Süden des Südsudans, nicht geteilt wurden. Tribalismus wurde äußerst selten in Bezugnahme auf die Situation in Juba besprochen und war kein Thema in Torit selbst. Dies mag mit kleineren ethnischen Gruppen in der Region zusammenhängen und mit einer eher ausgleichenden Regierungsführung des Gouverneurs. Handel in Torit wurde und wird über Uganda und Kenia geführt. Auch wenn sich die Grenzsituation nach der Unabhängigkeit von einer Kenianisch/Ugandisch-Sudanesischen zu einer Kenianisch/Ugandisch-Südsudanesischen wandelte, führte dies zu keinen größeren Veränderungen im Handel. Die Unabhängigkeit war natürlich äußerst wichtig für Torit und hatte Auswirkungen auf das dortige Marktgeschehen, wie ich in Kapitel 4 bespreche, aber es gab kaum direkten kurzfristigen Wandel, welcher die Warensituation geändert hätte. Die geographischen Unterschiede im Südsudan waren eklatant. In Anbetracht dieser internen Diversität im Südsudan ist es umso erstaunlicher, dass internationale Entwicklungsprogramme sich an festgelegten Mechanismen und deren immanente Staatstheorien sich an starren Definitionen orientieren.
(2) Der zweite Teil des Kapitels beschreibt den Weg meiner gewalttätigen Serendipität. Serendipität ist die Entdeckung von Dingen, die der Entdecker nicht suchte (Solly 1878, 98) und die er dennoch mithilfe von bspw. mithilfe wissenschaftlicher Methoden zum Erkenntnisgewinn nutzt (Anonym, zitiert in Merton and Barber 2004, 211). In meinem Fall erwarb ich Erkenntnis zur (2a) Gerüchtetheorie, zu (2b) Forschertraumata und zu (2c) Gewalt in Staatswerdungsprozessen. (2a) Die Gewalt in der gewalttätigen Serendipität entspann sich während zwei Vorfällen in Malakal, in denen jeweils ca. 60 Menschen in meiner näheren Umgebung umkamen. Bei dem ersten Vorfall saß ich mit Kolleginnen und Kollegen in einem Haus auf dem Gelände der Universität von Malakal, während vor dem Zaun geschossen wurde. Eine Dozentin, die aus einem gefährlicher-gelegenen Haus zu uns herüberrannte, wurde angeschossen, und ich verarztete die Schusswunde. Von Beginn an hofften wir auf Besserung der Situation und sammelten Informationen. Mithilfe dieser Informationen schafften wir ein Bild, welches wir letztlich auch den Medien anboten, die die gut vernetzten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen anriefen, um Informationen zu erhalten. Auch wenn wir dies nicht so präsentierten, waren die Informationen nichts als Gerüchte, zusammengestellt aus Schnipseln von Informationen die uns vorlagen und kombiniert mit Vorwissen und Annahmen, die wir nicht belegen konnten. Das Weitergeben der Gerüchte, die wir für Informationen hielten, gab uns das Gefühl die Deutungshoheit der Situation und damit zumindest ein bisschen Kontrolle wiedererlangt zu haben. Dies ist ein wichtiger Punkt zur Gerüchtetheorie, die diesen konstitutiven oder solidifizierenden Effekt von Gerüchten bisher noch nicht in ihre Analyse aufgenommen hat. (2b) Dieses, und ein zweites vergleichbares Erlebnis in Malakal traumatisierten mich (und wahrscheinlich auch viele andere in Malakal) und brachte mich nach ein paar Jahren der Vermeidung des Themas und anschließender zusätzlicher Recherche zu der eher überraschenden Erkenntnis, dass Forschertraumata äußerst selten in der Literatur behandelt werden. Auch wenn es unangenehm ist über eigene Traumata zu schreiben, ist es dennoch wichtig für die Feldforschung, Forschungsfeldauswahl, Vorbereitung zukünftiger Forschender, etc., weshalb ich meine Erkenntnisse und Erlebnisse in diesem Kapitel wiedergebe. (2c) Die Gewalterlebnisse in Malakal ließen mich auch nach den Ursprüngen dieser Gewalt forschen. Beide Fälle basieren auf Versuchen, das Gewaltmonopol im Südsudan bereits vor dessen Unabhängigkeit herzustellen. Der erste Fall hing mit dem Abzug der Truppen der Sudanesisches Armee (Sudan Armed Forces - SAF) und mit der Entlassung vieler Soldaten südsudanesischen Ursprungs zusammen, die nicht mehr in das Schema der SAF passten. Die Spitze der SAF bot diesen Soldaten eine hohe Entschädigung im Gegenzug für die Übergabe aller Waffen im Nordsudan an. Leider glaubte eine bestimmte Gruppe dieser Soldaten nicht an diese Entschädigungszahlung, befürchtete, dass sie nach Waffenabgabe im Nordsudan keine Möglichkeit mehr hätten diese einzufordern, und entschieden sich zu dem Versuch einige Panzer zu übernehmen und als Einstand in die südsudanesischen Armee (SPLA) zu bringen. Daraus entstand eine viertägige Schießerei vor den Toren der Universität. Das zweite gewalttätige Ereignis basierte auf einem DDR-Programm, währenddessen aufgrund der Zusammenlegung zweier verfeindeter Milizen in einem Reintegrationscamp Spannungen entstanden und dies zu einem erneuten Ausbruch von Gewalt führte. Diese Gewalt verlegte die Miliz dann in die regionale Hauptstadt Malakal. Da, wie ich in Kapitel 5 beschreibe, DDR auch ein Versuch der Herstellung eines Gewaltmonopols ist, wurden beide Gewaltereignisse von der versuchten Herstellung eines Gewaltmonopols des Staates ausgelöst. Die eigentlich als solidifizierend geplanten Elemente des Staatsaufbaus brachten Dissipation, Gewalt, Traumata und Tod. Ich schließe dieses erste ethnographische Kapitel mit einem Ausblick auf mein Forschungsvorgehen und meine späteren Feldforschungsorte ab.
Im dritten Kapitel „Symbolic compulsions: Interrelations of hope, nation, and symbols for state building“ beschreibe ich die theoretischen Konzepte Hoffnung, Symbole und Nationalgefühl, und wie deren Verbindung zu einer Solidifikation des Südsudans beitragen sollte. In Anlehnung an Hirokazu Miyazaki (2004, 5) verstehe ich Hoffnung als eine temporale Umorientierung von Wissen, und somit Hoffnung nicht nur als ein Gefühl, da es auch zukünftige Handlungen auf fundamentale Weise beeinflusst. Im südlichen Sudan bestand eine epochale Hoffnung (vgl. Geertzs Beschreibungen über die nationalen Unabhängigkeiten in den 1950ern und 1960ern, sh. Geertz 1973, 252) auf den zukünftigen südsudanesischen Staat und auf die Freiheiten und Möglichkeiten, die diese schaffen würde. Diese Hoffnung wurde in Reden, Plakaten, Videos und Musik ausgedrückt, und einige Regierungsoffizielle versuchten diese Hoffnung mit neuen und bestehenden Symbolen zu verknüpfen und damit ein Nationalgefühl aufzubauen, welches stabilisierend wirken sollte. Ein wichtiger Akteur war dabei Jok Madut Jok, damaliger Staatssekretär des Ministeriums für Kultur und Erbe, der den Südsudan nur als Zweckgemeinschaft sah. Aufbauend auf Locke und Rousseau und deren Verständnis einer notwendigen Verknüpfung von Staat und Nation zu einem Nationalstaat plante Jok die existierende Hoffnung mit historischen Symbolen zu verknüpfen und eine Nationalidentität aktiv zu erschaffen. Ein wichtiges Element dieses Plans war die aktive Nutzung der Flagge, der Währung, und der Nationalhymne. Der Präsident des Südsudans, Salva Kiir, unterstützte das Projekt und erklärte während der Unabhängigkeitsfeier: „We must build a strong foundation for our new nation“ (Kiir 2011). Die aufgezwungene Verbindung zwischen einem Staat (einer Institution) und einer Nation (einer imaginierten Gemeinschaft (Anderson 1983)) war allerdings auch einer der Gründe für die Bürgerkriege im Südsudan, die letztlich zur Unabhängigkeit führten. Nach einer kurzen Beschreibung des Enthusiasmus während der Unabhängigkeitsfeier in Juba, der sich nochmals verstärkte als die Flagge des Südsudans zwischen den Flaggen anderer Staaten gehisst wurde, beschreibe ich die Geschichte ihrer Farben, und wie diese im letzten Jahrhundert genutzt und verändert wurden. Sowohl am Beispiel der Flagge als auch der Nationalhymne zeige ich auf, wie bewusst und geplant diese Änderungen vorgenommen wurden, um ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Das Gemeinschaftsgefühl kann dabei solidifizierend auf das Agencement Südsudan wirken, birgt aber die inhärente Gefahr des Ausschlusses von Menschen. Nation beinhaltet immer Inklusions- als auch Exklusionsprozesse. Günther Schlee (2013b) warnte daher bezüglich der Nationenbildung im Südsudan, dass sie zu einer immer weiteren Abspaltung von Regionen führen könnte.
Die Annahme der Notwendigkeit eines Nationalstaates zur Erreichung von Staatlichkeit ist zwar ursprünglich in einem europäischen Kontext entstanden, wie ich auch in Kapitel 1 ausführe, allerdings hat es sich längst verselbstständigt. Im Südsudan wurde es aktiv von der südsudanesischen Regierung eingeführt, um den Staat zu festigen. Ganz im Gegensatz dazu drangen Elemente des Neoliberalismus ohne geplante Unterstützung der Regierung in den Südsudan ein und führten zu einer schnell fortschreitenden Ökonomisierung der Gesellschaft, wie ich in Kapitel 4 „Monetization: Emerging markets and extraction politics“ beschreibe. Für dieses Kapitel folge ich Loïc Wacquant (2012,66), welcher den Neoliberalismus als “politisches Projekt der Staatsgestaltung”3 versteht, welche Kommodifizierung, Eigenverantwortung, disziplinarische Sozialpolitik, und Strafrechtspolitik beinhaltet. Ich konzentriere mich auf die Kommodifizierung und Eigenverantwortung, da die Basis für die weiteren Aspekte aufgrund geringer Institutionalisierung nicht gegeben war. Im Gegensatz zu Wacquant stelle ich für den Südsudan fest, dass Neoliberalismus kein zentral organisiertes Staatsgestaltungsprojekt war, sondern durch eine Vielzahl an Akteuren eingeführt wurde. Zwei Zeitpunkte waren dabei von besonderer Bedeutung. Erstens, das Comprehensive Peace Agreement (CPA) von 2005, welches Erdöleinahmen und eine erhöhte Sicherheit zur Folge hatte. (Seitdem zeigte sich auch, dass die Erdöleinkommen sehr schnell das Land verließen und nur wenig davon in der regionalen südsudanesischen Wirtschaft umverteilt wurde.) Zweitens, die Einführung einer südsudanesischen Währung direkt nach der Unabhängigkeit im Jahre 2011.
Das Kapitel beginnt mit einer geschichtlichen Ausführung über den Markt und den Handel in und um Torit und zeigt auf, dass vor 1989 nur wenige Südsudanesen am Handel teilnahmen und dies auch nur mit kleinen Verkaufsständen oder Läden. Dies hatte je nach Zeitepoche unterschiedliche Gründe. Es gibt zwar kaum Informationen über den Handel in den 1990ern in Torit, aber die Hungerflüchtlinge aus Torit und kriegerischer Auseinandersetzungen in der Region lassen einen florierenden Markt äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Zusätzlich zeige ich auf, dass die SPLM/A versuchte, lokal eine staatsähnliche Rolle einzunehmen, in dem sie eine Judikative aufbaute und Steuern eintrieb, um staatliche Dienstleistungen anbieten und um ihre Soldaten versorgen zu können. Im Jahre 2004 wurden die ersten Teilverträge des CPAs unterschrieben und die Region wurde etwas sicherer. Dies lockte die ersten wagemutigen Händler nach Torit, die eine hohe Rendite aufgrund des weiterhin erhöhten Risikos erwartete. Mitte 2005 begann die sudanesische Regierung die Erdöleinnahmen mit der südsudanesischen Regierung zu teilen, und überwies insgesamt 8,3 Milliarden USD zwischen 2005 und 2009. Da letztere das Geld u.a. lokal ausgab um etwa Staatsbedienstete zu bezahlen, wurde der südliche Sudan, insbesondere Juba, plötzlich ökonomisch äußerst attraktiv für Händler aus den Nachbarländern Uganda, Kenia, und Äthiopien. Wie ich aufzeige sahen viele Händler wenige Möglichkeiten für sich und ihre Familien in ihren Herkunftsländern, was ihre Risikobereitschaft erhöhte. Jeder Händler und jede Händlerin in Torit begründete ihre Anwesenheit in Torit mit der vorherigen Chancenlosigkeit, wie ich anhand von Interviews darlege. Lokale südsudanesische Händler hatten aufgrund geringer Erfahrung, schwach ausgeprägter Handelsnetzwerke und geringem Startkapital einen langsameren Start. Im Jahre 2006 wurde die Juba Declaration unterschrieben, welche der Region noch mehr Sicherheit brachte und den Handel verstärkte, wie ich auch mit Daten aus Fragebögen aufzeige. Zusätzlich zur verbesserten Sicherheitslage und zu den neuen ökonomischen Anreizen überdachten Regierung, UN-, und Nicht-Regierungsorganisationen ihren Ansatz und wechselten von Hilfsgüterlieferungen zu Entwicklungshilfe, häufig mit Projektplänen, die eine finanzielle Unabhängigkeit der Projekte anstrebten und dies über Gebühren und Zuzahlungen der Kunden, Patienten, Schüler oder sonstiger Nutznießer erreichen wollten. Entwicklungshilfeprogramme im Südsudan hatten i.d.R. einen neoliberalen Ansatz und zielten meist – wie auch in Kapitel 5 beschrieben – auf individuelle Teilnahme am Marktgeschehen mit Geld als allgemeinem Tauschmittel ab. All diese Prozesse und Faktoren hatten eine Monetisierung der Gesellschaft als Konsequenz, sodass mehr und mehr Menschen in eine monetäre Ökonomie einbezogen wurden. Aufgrund des langsamen Startes der Südsudanesen und Südsudanesinnen auf den Märkten verließ ein Großteil des Geldes den Südsudan. Dies geschah hauptsächlich durch Geldsendungen an Familienmitglieder im Heimatland und aufgrund geringer Produktion im Südsudan selbst, wodurch Waren fast ausschließlich im Ausland erstanden wurden. Zusätzlich zum zentralen Marktgeschehen in Torit beschreibe ich auch den Vorstadthandel und die Vorstadtproduktion von Alkohol, Hütten (Tukuls) und Gebäuden, Grasdächern, etc., welche stärker zur Umverteilung der Gelder beitrug.
Ein zweiter wichtiger Schritt in der Kommodifizierung des Südsudans war die Einführung des Südsudanesischen Pfunds (SSP) weniger als zwei Wochen nach der Unabhängigkeit. Diese Scheine, mit dem Gesicht von John Garang, dem im Jahr 2005 gestorbenen charismatischsten und hochstilisiertesten SPLM/A-Führer versehen, wurden plötzlich Zahlungsmittel. Damit wurden all diejenigen die Geld besaßen oder Geld schuldeten Teil eines sozialen Bundes, da sie plötzlich alle ein Interesse an der Stabilität dieser Währung hatten, die nicht nur durch die Handlungen von Südsudanesen und Südsudanesinnen, sondern auch durch Erdölpreisschwankungen beeinflusst wurde. Diese Gemeinschaft durch Teilnahme an einer gemeinsamen Währung nannte Bruno Théret (1999, 71-71) einen komplexen sozialen Bund. Zur Stabilisierung dieses sozialen Bundes, der auch solidifizierend auf das Agencement Südsudan wirken kann, begann die Regierung Eastern Equatoria states einige Vorschläge zu machen, die den Einfluss der Regierung auf die Gelder, den Geldfluss und auf Steuern, aber auch auf soziale Faktoren, wie die Umverteilung dieser Gelder, erhöhen sollte. Ein Vorschlag war, dass ausländische Händler nur noch an der Grenze Großhandel und keinen Einzelhandel mehr in den Städten betreiben dürfen. Dies sollte den Südsudanesen und Südsudanesinnen einen privilegierten Zugang zum Handel sichern, und für soziale Stabilität sorgen. Im Gegensatz zu einem “NGO-Bill”, welches die Aufteilung von Posten in Nicht-Regierungsorganisationen zugunsten von Menschen mit südsudanesischem Pass ändern sollte, wurde dieses Gesetz aber nie umgesetzt. Die Regierung versuchte Kontrolle über diese neoliberale Komponente des Agencements zu erhalten, welche auf vielen unterschiedliche Weisen und mit vielen unterschiedlichen Akteursgruppen den Südsudan erreicht hatte, und welche sehr solidifizierende, aber im Falle eines Währungszusammenbruches auch stark dissipative Konsequenzen haben kann.
Kapitel 5 “International Enactment: The twisting of DDR” behandelt ein Entwaffnungs, Demobilisierungs und Wiedereingliederungprogramm (DDR) und ist ein Beispiel für den direkten Einfluss von internationalen post-Konflikt Modellen. Das Kapitel beginnt mit einer kleinen Geschichte des DDR-Modells und zeigt auf, dass das vorangegangene Konzept dazu in unterschiedlichen Regionen in Konfliktfolgezeiten entstanden ist und letztlich im Jahr 2000 durch die UN in ein Modell gepresst wurde. Die grundsätzliche Idee dieses Modells besteht darin, nach der Beendigung von großen Konflikten bewaffnete Gewalt zu mindern – eine Gefahr, die besonders im Moment von Massenentlassungen von Soldaten aus der Armee oder aus Miliz groß ist. Zusätzlich sollte das Programm die Anzahl von bewaffneten Gruppen auf eins (den Staat) reduzieren und dadurch ein staatliches Gewaltmonopol herstellen. Die Idee des Programmes basiert auf der Annahme, dass ein staatliches Gewaltmonopol ein unerlässliches Ziel von Post-Konfliktinterventionen und Friedenserhalt sei. Die Annahme hinter diesen Programmen ist, dass ehemalige Soldaten stärker zu Gewalt neigen und daher den Frieden wahrscheinlicher bedrohen, als dies bei Zivilisten der Fall ist. Die Aufnahme in Friedensverträge selbst ist bereits Teil der Vorgaben des Modells und daher wurde das UN-Modell DDR in das CPA von 2005 aufgenommen. Das DDR-Modell war dabei Teil einer großen Anzahl an Post-Konflikt-Modellen, die nach 2005 und nochmals nach 2011 dem Südsudan quasi aufgezwungen wurden. Viele Nichtregierungsorganisationen und UN-Agenturen arbeiten mit solchen Modellen, die Portabilität durch einfache Leitfäden suggerieren und angeblich leicht und schneller implementiert, transferiert und wiederverwendet werden können, zumindest im Vergleich zur Neuentwicklung lokaler Lösungen. Solche Modelle reisen von Post-Konflikt-Region zu Post-Konflikt-Region und kommen mit einer großen Anzahl von Spezialisten, die nicht auf die Region, sondern auf das Modell spezialisiert sind. Für das DDR Programm in Torit zeige ich auf wie regionale Expertise der Implementierung verbessert hätte, oder sogar zu Beginn die Einbeziehung des DDR Programmes in das CPA hätte verhindern können. Die Tatsache, dass sich die Anzahl der zu integrierenden Soldaten von 300.000 über 140.000 und 60.000 auf 90.000 wandelte, ohne dass neue Fakten hinzugekommen waren, zeigt die Beliebigkeit der Umsetzung dieses Programms. Die UN-Mitarbeiter stellten auch schnell fest, dass die SPLA kaum Interesse in den DDR-Prozess zeigte und kaum kooperierte, da sie eigentlich die Armee verbessern wollte um besser auf zukünftige Konflikte vorbereitet zu sein. Nichtsdestotrotz wurde das Programm weitergeführt, da DDR offiziell Teil des CPAs war und niemand den CPA erneut verhandeln wollte, da dies andere Errungenschaften in Frage gestellt hätte. So warteten die UN-Mitarbeiter bis 2009 auf die SPLA-Listen der Ex-Kombattanten. Es stellte sich schnell heraus, dass die ausgewählten Ex-Kombattanten unwichtige Militärangehörige waren, die nie gekämpft, sondern Essen zubereitet oder Kleider gewaschen hatten. Das DDR-Programm wurde ihnen als Belohnung und als eine Art Rente für ihre Dienste vorgestellt. Die meisten Teilnehmer im DDR-Programm in Torit waren daher (weibliche) Teilnehmerinnen, die niemals mit der Waffe gekämpft hatten. Überraschenderweise passte dies wunderbar zu einer Gender-Studies Kritik, welche die ungleiche Geschlechteraufteilung in anderen Ländern kritisiert hatte. Da das Programm auch von leitenden SPLA-Offizieren als Rentenersatz gepriesen wurde, hatten viele der Teilnehmer und Teilnehmerinnen große Hoffnungen, welche letztendlich enttäuscht wurden. In dem kurzen vier-monatigen Programm wurde keine Zeit auf soziale oder psychologische Komponenten verwendet und es wurden ausschließlich Fähigkeiten zur verbesserten Teilnahme an der monetären Ökonomie unterrichtet. Letztlich wurde ein Programm, welches als Programm zur Pazifizierung gedacht war, zu einem schlecht-laufenden ökonomischen Monetisierungsprogramm, welches als Nebeneffekt die Effizienz der Armee steigerte, da diese sich nicht an Zahlungen an ehemalige Soldaten beteiligen musste. Wie ich auch in Kapitel 2 beschreibe war ein (weiteres) schlecht laufendes DDR-Programm Mitschuld an den Schießereien, die ich in Malakal erlebte. Diese Forschung – und auch andere – stellen die viele Millionen USD teuren internationalen Pazifizierungs- und Entwicklungsprogramme, welche überall in Afrika ausgeführt werden, grundsätzlich in Frage. Post-Konfliktsituationen als vergleichbar und nicht als individuelle Agencements mit einer eigenen Geschichte und mit einer eigenen Vielzahl an Akteuren mit inhärenten Plänen und Ansprüchen zu sehen, ist die irrige Grundannahme für die Implementierung solcher Modelle.
Kapitel 6 „Sovereignty and territory: Two land conflicts, two types of sovereignty“ behandelt zwei Landstreitigkeiten, welche sich beide um das Thema innere Souveränität drehen. Der erste Fall betrifft den Landverlust einer Farmerin in einem Standrandgebiet. Die Farmerin sah sich einer Vielzahl von Rechtskonzepten – ethnischem Recht, Staatsrecht, und Katasteramtsregulationen – gegenüber, obwohl sich alle Beteiligten darüber einig waren, dass Land außerhalb der Städte unter Gewohnheitsrecht falle, welches ihr das Land zugesprochen hätte. Jedoch hatte sich durch Zuzug die bewohnte Fläche der Stadt Torit innerhalb von sieben Jahren um 745% vergrößert, ausgelöst durch einen Migrationsprozess, der auf dem CPA im Jahr 2005, erhöhter Sicherheit, langsam wachsender wirtschaftlicher Prosperität und der zunehmenden Bereitstellung von Dienstleistungen in Gesundheit und Bildung basierte. Angesichts dieser Prozesse wurde die Frage zwischen ruralem und urbanem Land neu gestellt. In Abwesenheit klarer Regulationen hatte das Ministry of Land and Housing ein Kataster erstellt, was ich als retroaktiven Effekt des Staates bezeichne. Allerdings bedeutete dieser noch nicht die staatliche Kontrolle des Landes. Um das Kataster zu erstellen fragte das Ministerium den Commissioner an, welcher – ohne dies notwendigerweise dem Ministerium mitzuteilen – ein Abkommen mit den Monyomiji schloss, der herrschenden Altersgruppe der Latuko-Nyong, welche wiederum als die lokal-vorherrschende ethnische Gruppe betrachtet wurde. Diese hatten also das letzte Wort in Landfragen in und um Torit. Die territoriale Souveränität war daher in den Händen einer Gruppe von Männern, welche familiär mit dieser Region verbunden waren aber bei weitem nicht mit allen Menschen im stark-wachsenden Torit, wodurch viele Menschen keinerlei Repräsentation in diesem Gremium hatten. Die Farmer verloren damit ihr Ackerland in einem Prozess, den sie der Regierung anlasteten, obwohl dieser letztlich nicht in der Hand der Regierung lag. Durch ihre Klagen gegenüber der Regierung gaben sie die Macht und Kontrolle über Land damit diskursiv an die Regierung ab. Für die Farmer war die Regierung der territoriale Souverän. Dieser gab allerdings seine Stellung an den Commissioner ab, welcher diese mit den Monyomiji verhandelte. Die Souveränität war damit eher ein Agencement, welches konstant verhandelt wurde, anstelle einer klar definierten Aufgabenzuteilung.
Der zweite Teil des Kapitels betrifft umstrittenen Boden an der wichtigen Wegkreuzung namens Ame zwischen Juba und Uganda, also an der Hauptversorgungsachse, welche die Hauptstadt, mit Uganda, Kenia und den Weltmeeren verbindet. Dieser Boden wurde von zwei ethnischen Gruppen beansprucht, was seit den 1980ern zu regelmäßigen Konflikten geführt hatte, während der Konflikt in den 1990ern eher ruhte. Er brach erneut aus, als die Unterbrechung der Erdölförderung aufgrund von Differenzen zwischen der südsudanesischen Regierung und der sudanesischen Regierung bevorstand. Um kommenden finanziellen Einbußen vorzubeugen, entschied sich die Regierung einen Kontrollpunkt an der Ame-Kreuzung aufzubauen, um dort Importsteuern effektiver zu erheben. Dies erhöhte den ökonomischen Wert des Bodens, da Läden an der Kreuzung eine hohe ökonomische Rendite versprachen. Als einige niedrige Staatsangestellte versuchten, eine Katasterkarte der Kreuzung zu erstellen, um das Land verkaufen zu können, brach der Konflikt erneut aus. Dies zeigt die Macht einer Katasterkarte, da diese auch in den Augen der lokalen Bevölkerung, welche den Boden ja als ihren eigenen betrachtete, diesen in privates Land überführt hätte und damit die Situation verfestigt hätte. In dem Konflikt um Ame wurden sechs Menschen getötet. Die Schützen waren nicht nur lokal Ansässige, sondern auch Regierungssoldaten. Einen Monat nach dem Vorfall wurde die Catholic Diocese of Torit (CDOT) gebeten, eine Friedenskonferenz zu organisieren. Während dieser Konferenz wurde sowohl die Frage nach Landbesitz gestellt, als auch Fragen bezüglich der Bestrafung der Mörder. Vier Punkte stachen bei der Friedenskonferenz besonders hervor: (1) Obwohl Regierungssoldaten ebenfalls getötet hatten, wurde die Regierung bzw. die Armee nicht als Teil der Angeklagten gesehen. Die Soldaten wurden von ihrer individuellen Verantwortung befreit, und kurze Hinweise auf die Rolle der Armee unterstützten nur ihre losgelöste Rolle als Vertreter des Staates. Dies bezeichne ich als einen retroaktiven Effekt des Staates. (2) Vertreter der beiden ethnischen Gruppen diskusstierten lautstark und emotional während der Treffen, sprachen aber während der Pausen relativ entspannt miteinander. Ihre emotionale Einbindung war sehr viel schwächer als ihre regionale Affiliation nahelegen mochte. (3) Trotz dieser geringen Affiliation übergab die Regierung die Entscheidung über das Land und über den Umgang mit den Toten und den Mördern den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Konferenz, also den Vertretern der beiden ethnischen Gruppen. Da Souveränität u.a. als das Recht ohne Strafe zu töten und als die Kontrolle über Land definiert werden kann (Hansen und Stepputat 2005, 2), übertrug die Regierung ihre Souveränität. (4) Die Friedenskonferenz bracht keine klare Lösung für die Landfrage und für die Frage der Toten. Diese Fragen wurden auf spätere Konferenzen verlegt. Nichtsdestotrotz wurde die prozessuale Lösung von den meisten Teilnehmern gefeiert und die Friedenskonferenz als Erfolg dargestellt.
Der Aufbau von Souveränität ist in einem gewissen Paradox gefangen: Die Verringerung von Gewalt soll durch Gewalt erreicht werden. Die Regierung in Torit löste dieses Problem auf folgende Weise: Sie überreichte die Souveränität, die sie de facto nicht hatte, den Vertretern der beiden Gruppen. Hätte sie dies nicht getan, hätte sie wohl beide Gruppen gegen sich aufgebracht. Mit anderen Worten überreichte die Regierung die Souveränität, welche sie zuvor nicht besaß und erhielt sie dadurch, es handelte sich also um Besitz durch Gabe. Die Friedenskonferenz teilte die Souveränität auch nicht eindeutig zu, sondern beschloss, sie weiter zu diskutieren. Zusammen mit dem ersten Fall über Ackerland in Torit bedeutet dies für die Souveränität im Südsudan, dass diese regional immer neu verhandelt wird und dass daher Souveränität ein Agencement ist, welches Menschen auf bestimmte Weise handeln lässt, aber welche auch selbst im Prozess ist. Bodins Souveränitätsvorstellung, welche häufig angepasst wurde, aber nie eine fundamentale Änderung vollzogen hat, erlaubt keine passende Beschreibung von staatlichen Prozessen, zumindest nicht im Südsudan.
Die Konklusion der Arbeit bietet eine Einbettung in die größeren theoretischen Zusammenhänge für jedes Kapitel und konzentriert sich auf zwei der zu Beginn ausgeführten Konzepte, namentlich (1) redundant causation (überreichliche Verursachung) und (2) retroactive effects (Rückwirkung). Diese sind für das Staatsverständnis essentiell, da sie zwar nicht direkt aufzeigen wie ein Staat lokal definiert wird, aber sie erlauben zu sehen wo und wann ein Staat von Menschen definiert wird. Staat als Agencement zu sehen steht dem Gedanken entgegen den Staat durch eine notwendigerweise begrenzte Definition zu verstehen, stattdessen erlaubt es zu sehen wo, wann und wodurch Staat im Einzelfall konzeptioniert wird. Die Rückwirkung zeigt dabei auf, wann Menschen oder kleinere Agencements aufgrund eines größeren Agencements Staat sich in ihren Handlungen beeinflussen lassen. Die überreichliche Verursachung (redundant causation) zeigt auf wann die Handlung des individuellen Agencements (von Menschen bis zu Gruppen von Menschen inklusive ihres Umfeldes) nicht mehr notwendig für die Fortbestehung des komplexen Agencements Staat ist, und damit die individuelle Konstituierung überwunden wird. Das Konzept Staat erhält dadurch eine Wirkungsmacht, welche – obwohl kollektiv geschaffen – ein Eigenleben entwickelt hat. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Staaten heutzutage durch viele externe Einflüsse geprägt sind, und viele dieser Einflüsse drehen sich um Webers Konzeption des Staates. Die Tatsache, dass Nation, Territorialität oder Gewaltmonopol ein Thema der Arbeit sind zeigt also auf, dass Menschen, die im Südsudan tätig waren diese Konzepte von außen miteingebracht haben. Entweder wurden sie wissentlich eingeführt mithilfe von Modellen und Programmen (vgl. DDR), die von internationalen Akteuren ausgeführt wurden, oder mithilfe von Regierungsprogrammen (vgl. Nation), oder sie wurden aufgrund von angelernten Verhaltensweisen eingeführt (vgl. Neoliberalismus). Diese Gedanken wurden durch Schulen, (Schul-)Bücher, Gesetze, Symbole, Geldsysteme, Modelle, Straßenwissen, Universitäten übermittelt und dies zeigt nur auf, dass ein Jahrhundert Schulbildung, Expansion, Kolonialismus, kopierter Regierungsstrukturen, Kriege, und Entwicklungsparadigma unser (aller) Denken fundamental beeinflusst hat. All diese Faktoren haben ein ähnliches, verwandtes Bild von Staat in unserer Köpfen erschaffen, aber eben nur ein verwandtes und nicht ein Ebenbild. Staat als Agencement zu sehen erlaubt es, die Unterschiede in diesen Bildern zu entdecken, den Prozess mit aufzunehmen, und neue Komponenten schnell in das Konzept zu integrieren.
Eine solche neue Komponente ist die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte und insbesondere des letzten Jahrzehnts. Die Digitalisierung hat das Agencement Staat verändert, da durch schnelle und neue komplexe Kommunikationsmöglichkeiten die solidifizierenden und dissipierenden Elemente des Agencements verändert wurden. Dies hat sowohl zur starken Umwälzungen in einigen Ländern geführt, als auch zu Überwachungsstaaten, die ihre Bürger präziser kontrollieren können. Diese neuen Entwicklungen würde ich gerne in Flüchtlingslagern an der Grenze des Sudans erforschen, wo die technologisch unterstützte Hoffnung auf ein besseres Leben der Flüchtlinge auf die technologisch unterstützten Kontrollmechanismen derjenigen Organisationen stoßen, die diese Lager kontrollieren.
1 Eigene Übersetzung.
2 Dies ist auch der Grund für meine Ablehnung der englischen Übersetzung “Assemblage”, da dieses Agens bei der Übersetzung verloren geht.
3 Eigene Übersetzung von „political project of state-crafting“.