Shaping Youth: quest for moral education in a Mansi summer camp in Western Siberia
Ina Schröder
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Date of Defense | Tag der Verteidigung
12.05.2017
Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Otto Habeck
OPAC
German Summary | Deutsche Zusammenfassung
Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit Veränderungen und Kontinuitäten von Erziehungspraktiken im post-sowjetischen Russland im Kontext einer indigenen Revitalisierungsbewegung im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen-Jugra (weiter: Jugra), einem föderalen Teil Russlands. Ich untersuche, wie sich Menschen unter den Bedingungen politischen Wandels und sozioökonomischer Belastungen mit neuen Werteorientierungen und deren Vermittlung an die junge Generation auseinandersetzen. Der Zerfall der Sowjetunion und ihrer offiziell vermittelten sozialistischen Erziehungsmoral löste in Russland eine andauernde öffentliche Kontroverse um den moralischen Zustand der Gesellschaft aus. Der Begriff der Erziehung (vospitanie) war bereits in der Sowjetunion sehr stark moralisch konnotiert und umfasste Werte wie Patriotismus, Liebe zur Arbeit, Disziplin, Atheismus, Kollektivismus, Selbstkultivierung und die Übereinstimmung mit sozialistischen Werten und Idealen (Halstead 1994). Seitdem die sozialistische Ideologie obsolet erscheint, wurde die Frage, wie man Kinder erziehen soll, vollends zu einem der zentralen öffentlichen Diskurse in Russland. Das Menschenbild, ehedem am Ideal des Homo Sovieticus orientiert, musste neu diskutiert und formuliert werden. Wie viele anthropologische Untersuchungen zeigen, zirkulieren im heutigen Russland konkurrierende säkulare und religiöse Moralvorstellungen, die nicht nur auf der Ebene der Institutionen, sondern auch des Selbst wirksam sind (Zigon 2011; Steinberg und Wanner 2013). Insbesondere wurde argumentiert, dass durch die Transformation und globale Einflüsse die post-sowjetische Vorstellung, dass das Individuum an sich selbst arbeiten muss, zentral wird. Andere Untersuchungen in Russland zeigten, dass die Pluralität moralischer Diskurse und ethischer Praktiken, die durch die Unsicherheit der 1990er entstand, durch die Zentralisierungsbestrebungen der jetzigen Regierung tendenziell eingeschränkt werden (Habeck 2013; Laruelle 2009). So werden Kindern und Jugendlichen zunehmend Wertevorstellungen wie Patriotismus, Familie, Wettbewerbsfähigkeit und die Rolle der Russischen Orthodoxen Kirche für den Zusammenhalt der Russländischen Nation vermittelt - sowohl in schulischen als auch außerschulischen staatlichen Institutionen. Dabei gibt die heutige Regierung vor, die angebliche Gefahr der gesellschaftlichen Desintegration, welche mit der Entwicklung konkurrierender regionaler, ethnischer und religiöser Identifikationen einhergehe, zu bekämpfen.
An dieser Stelle knüpft diese Studie an. Ich beschäftige mich mit der Frage, inwiefern die moralische Erziehung in Russland vielfältigere Dimensionen annimmt, als die normative Rhetorik des Staates preisgibt und sozialanthropologische Forschungen konstatierten. Die Studie basiert auf insgesamt 12-monatigen ethnographischen Feldforschungsaufenthalten, die zwischen 2010 und 2013 in der Siedlung Saranpaul’, Berezovo Rajon und in der regionalen Hauptstadt Chanty-Mansijsk durchgeführt wurden. Die Wahl fiel auf dieses Forschungsgebiet aufgrund lokaler Initiativen indigener Aktivistinnen, welche Kindern und Jugendlichen moralische Werte auf der Basis ethnischer Kultur zu vermitteln trachten. Diese und vergleichbare ethnische Revitalisierungsbewegungen im postsozialistischen Raum zeigen, dass die ambivalente sowjetische Nationalitätenpolitik die nationalen/ethnischen Identitäten nicht geschwächt hat. Im Gegenteil, vermeintlich ethnische Identitäten bilden für viele Eliten die Grundlage, um kollektive Identitäten neu zu mobilisieren. Dabei werden kulturelle Traditionen vor allem als Quellen moralischer Erneuerung betrachtet. So haben in der Region Jugra seit den frühen 1990er Jahren indigene Intellektuelle als Sprachrohr für die dort lebenden indigenen Minderheiten der Mansi1 und Chanty gewirkt. Diese sind als titulare Nationalitäten anerkannt, repräsentieren heute jedoch nur circa 2% der Gesamtbevölkerung „ihres“ Autonomen Kreises. Trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit gegenüber der russischen Mehrheitsbevölkerung spielen Indigene eine wichtige symbolische Rolle in der von der Öl- und Gasförderung geprägten Region. Die regionalen Eliten setzen auf die öffentliche Präsenz der indigenen Gruppen, um den autonomen Status des zu Sowjetzeiten geschaffenen Autonomen Kreises der Chanty und Mansi gegen die Moskauer Zentralisierungspolitik aufrechtzuerhalten.
In dieser Studie beschreibe ich die lokalen Bedeutungen und Praktiken moralischer Erziehung und setze sie in Beziehung zu den normativen moralischen Diskursen in Russland im Kontext der post-sowjetischen Transformation. Die Forschungsfragen lauten: was zählt im untersuchten Erziehungsmodell als moralisch? Was ist die emische Bedeutung vom wahren Selbst? Inwiefern lassen sich in diesem Erziehungsmodell post-sowjetische Kontinuitäten sowie Veränderungen in Erziehungskonzepten und -praktiken nachverfolgen? Wie ist das Erziehungsmodell von normativen moralischen Diskursen in Russland geprägt, und inwiefern weicht es von ihnen ab? In meiner Analyse wählte ich die pädagogische Form eines Sommercamps, da dieses einen Raum intensiver moralischer Instruktion darstellt, in welchem die Kinder und Jugendlichen in ihrer ethnischen Kultur verwurzelt werden sollen. Die Besonderheit dieser Freizeitaktivität ist, dass sie hautsächlich an Mansi-Kinder und Jugendliche gerichtet ist, welche in infrastrukturell abgelegenen Gebieten des Berezovo Rajon leben und begrenzte Möglichkeiten haben, woanders ihre Ferien zu verbringen. Das regionalstaatlich finanzierte Sommercamp wird von indigenen Pädagoginnen geleitet. Als Vertreter der spät-sowjetischen Generation wurden diese hauptsächlich in russischer Sprache und sowjetischen Traditionen sozialisiert, was die moralischen Inhalte der Camp-Pädagogik mitbeeinflusst. Weitere soziale Akteure, um die sich diese Arbeit neben den Pädagoginnen dreht, sind die jungen Menschen und ihre Eltern.
Im ersten Kapitel beschäftige ich mich mit ethnologischen Debatten, die sich mit Fragen der Moral und Ethik auseinander setzen. Dabei lehne ich mich an den theoretischen Ansatz von Jarrett Zigon (2010) an‚ um die vielfältigen moralischen Einflüsse, die auf die Camp-Pädagogik einwirken, zu differenzieren. Zigon argumentiert, dass moralische Grundsätze in einer Gesellschaft oder einer Institution nie einheitlich sind bzw. eine Totalität ergeben, sondern sich aus verschiedenen aufeinander bezogenen Teilaspekten zusammensetzen: 1. öffentlichen moralischen Diskursen, 2. institutioneller Moral und 3. persönlichen moralischen Dispositionen. Die Zusammensetzung von diesen verschiedenen Aspekten nennt er „moralische und ethische Assemblage“. Obwohl es im Sommercamp um die Vermittlung mansischer Kultur geht, zeigt sich durch die nähere Analyse, dass in dieser Institution vielfältige moralische Aspekte und ethische Praktiken ihren Platz finden. So umfasste das Camp nicht nur mansische Glaubens- und Moralvorstellungen, sondern auch sowjetische und post-sowjetische Erziehungsnormen, die ich später näher erläutern werde. Die einzelnen moralischen Teilaspekte ergaben im Camp eine einzigartige moralische Assemblage, die sich auch in ethischen Praktiken im Camp wiederspiegelt. Das Ethische wird im Sinne von Foucault (1990) als eine selbst-reflexive Praxis verstanden, die der Person erlaubt, Distanz zu moralischen Erwartungen herzustellen und sich auf der Ebene des Selbst ethischen Praktiken zu unterziehen. Demnach, wie Zigon argumentiert, werden Menschen von moralischen Assemblages beeinflusst, aber nicht determiniert. Des Weiteren diskutiere ich die Begriffe der Identität und der kollektiven Identität. Dies ist wichtig für diese Arbeit, da die moralischen Werte in der Camp-Pädagogik auf der Ebene der kollektiven Mansi-Identität zusammengefasst werden. Dabei schließe mich der Kritik derjenigen Autoren an, welche über Durkheims Vorstellung hinausgehen, wonach angeblich die Moral und das Soziale eine Einheit bilden. Dabei ist es wichtig die Selbst-Identifikation der Individuen in den Blick zu nehmen, die sich im Laufe des Lebens verändern und unterschiedliche Dimensionen annehmen kann.
Das zweite Kapitel dient der ethnographischen Beschreibung eines exemplarischen Tages im Sommercamp Man’ Uskve. Ich gehe auf die beteiligten Akteure, materielle Ausstattung, die Lage im mansischen Dorf, die Aktivitäten und den zeitlichen Ablauf des Camps ein. Die meisten Teilnehmerinnen kommen aus verschiedenen Jugra-Regionen, aber vor allem aus eher sozial und ökonomisch marginalisierten Gegenden des Berezovo Rajons. Viele von ihnen stammen aus gemischten ethnischen Familien der Mansi, Chanten, Nenzen, Komi und Russen. Mit diesem Kapitel möchte ich vermitteln, welche besondere regionale Prägung das Camp durch seine Lage und die Menschen, die dort zusammenkommen, hat.
Im dritten Kapitel beschäftige ich mich mit der historischen Entwicklungen der Jugra-Region. Zunächst führe ich den Leser in die Siedlung Saranpaul’ ein und beschreibe die lokalen inter-ethnischen Beziehungen zwischen den Mansi, Komi und Russen. Dies dient dazu, die historisch entstandenen Hierarchien zwischen diesen Gruppen besser zu verstehen. Daraufhin zeichne ich die Konsequenzen der zaristischen und später sowjetischen Zäsuren auf das Leben der indigenen Mansi-Bevölkerung auf, und weise darauf hin, dass diese zum Rückgang und teilweise auch zum Verschwinden mancher mansischen Dialekte und religiöser Praktiken führten. Laut der Volkszählung von 2010 sprachen nur 7,6% aller Mansi ihre Muttersprache. Andererseits insbesondere die sowjetische Geschlechterpolitik ermöglichte indigenen Frauen höhere Bildung und Führungspositionen in kulturellen Bereichen. Dies legte der Grundstein dafür, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion vor allem indigene Frauen die kulturelle Revitalisierungsbewegung in Jugra prägten. In einem weiteren Schritt gehe ich auf die Indigenen-Politik in Russland ein und erhelle, was die Klassifikation ‚Indigene zahlenmäßig kleine Völker des Nordens‘ beinhaltet.
Das vierte Kapitel setzt sich mit der Frage auseinander, wie aus der emischen Sicht das „wahre Selbst“ (nastoiashchee ya) im Sommercamp konzeptualisiert wird und aus welchen Aspekten sich diese moralische Assemblage zusammensetzt. Als erstes zeige ich auf, wie indigene Pädagoginnen sich von der Tradition sowjetischer Pioniercamps abgrenzen und diese Erziehungsform in die neue übersetzen – sie „indigenisieren“. Dieser Prozess spiegelt die Kreativität und eine ständige Streben nach „richtiger“ moralischer Erziehung und gestärkter Bedeutung der Mansi-Kultur wieder.
Daraufhin gehe ich mehreren Schritten darauf ein, wie am Selbst der Camp-Teilnehmer gearbeitet wird. Erstens setzen Pädagoginnen auf die post-sowjetischen Normen von Kultiviertheit (kul’turnost’) und halten an der Vorstellung fest, dass Kinder und Jugendliche von sozial schwachen Familien sich kultivieren und infolge sozial aufsteigen können. Zweitens untersuche ich den Wandel des pädagogischen Modells: während die sowjetische Pädagogik eine Art Skulptur‐Modell verfolge, wonach das Kind als formbar angesehen wurde, verschob sich dieses Konzept im Kontext ethnischer Revitalisierung in Richtung der Annahme angeborener Eigenschaften. Demnach brächten Kinder biologisch bedingte Veranlagungen mit sich in den Bereichen der ethnisch‐nationalen Zugehörigkeit und des Geschlechts. Drittens zeige ich, dass im Kontext neo-liberaler Reformen von den Teilnehmern individuelle Selbstverantwortung an sich selbst zu arbeiten und sich zu verändern gefordert wurde. Viertens stelle ich dar wie die mansische Kultur, welche zu Sowjetzeiten von ‚schädlichen‘ religiösen Komponenten bereinigt werden sollte, von den indigenen Pädagoginnen de-säkularisiert wurde. Die traditionelle Mansi-Religion beinhaltete Glaubensvorstellungen, wonach Menschen mit Ahnen, Tieren und Geistern im Dialog stehen und durch die Einhaltung bestimmter Tabus die Geistwesen zufrieden stellen können. Diesem Modell folgend entfaltete sich im Camp ein Diskurs über tabuisierte und nicht-tabuisierte kulturelle Darstellungen und Verhaltensweisen. Vor allem wurden traditionelle Vorstellungen über Reinheit/Unreinheit der Frauen (wieder-)eingeführt. Fünftens setzten Pädagoginnen auf die humanistische kindzentrierte Pädagogik aus der Perestroika-Zeit. Diese Methodologie wird heute von manchen Pädagogen in Russland weitergetragen, welche die ökonomisierende Ausrichtung zwischenmenschlicher Beziehungen kritisieren (Matza 2012). Somit zeichnet dieses Kapitel die vielfältigen Einflüsse auf die Camp-Pädagogik nach und vermittelt dem Leser die komplexen Spannungsverhältnisse zwischen divergierenden Werten, welche das Ideal des „wahren Selbst“ umspannen.
Im fünften Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage geschlechterspezifischer Erziehungsmoral. Aufgrund hoher Sterblichkeit unter jungen Männern im Gefolge von Risikoverhalten und Suizidfällen bereiten die Jungen den Pädagoginnen besondere Sorge. Ich zeige, dass die Camp-Pädagogik mit den spät-sowjetischen und neueren öffentlichen moralischen Diskursen in Russland Parallelen aufweist, welche eine „Verdrehung der Geschlechterrollen“ konstatierten, der zufolge Frauen als zu maskulin und Männer als verweichlicht angesehen wurden. Diese Vorstellungen spiegeln auch die normativ ausgerichtete Familienpolitik der jetzigen Regierung wieder, welche der „demographischen Krise“ in Russland entgegenwirken soll. Am Beispiel eines Rollenspiels, das eine mittelalterliche Epoche mansischer Stämme nachstellt, zeige ich, wie eine passive Rolle der Mädchen normativ gesetzt und diskutiert wird. Ich argumentiere, dass die patriarchale Ordnung, die von Pädagoginnen vertreten und im Spiel nachgeahmt wird, viele Brüche und Inkonsistenzen aufweist, die sich bereits daran zeigt, dass weibliche Leiterinnen die Führung im Camp übernehmen. Auch die Mädchen kommentieren diese normativen Idealvorstellungen, ohne sie jedoch öffentlich zu kritisieren. Dabei bewegen sie sich zwischen einer Bandbreite subjektiver Positionen von bereitwilliger Annahme über Kritik, Langeweile und Spaß am Spiel. Die passive Rolle im Spiel fordert die Mädchen, ihre Einstellung zu ihrer Geschlechteridentität und zur Bedeutung ethnischer Tradition zu reflektieren. Es bleibt ambivalent, wann die Mädchen ihre Frauenrolle im Spiel aus Überzeugung, wann aus spielerischen und wann aus pragmatischen Gründen annehmen.
Im sechsten Kapitel zeige ich, wie junge Menschen, die in abgelegenen Dörfern Jugras leben und aus marginalen sozialen Verhältnissen stammen, die staatlich-finanzierten Freizeitaktivitäten als eine der wichtigsten Ressourcen wahrnehmen, um ihr Selbst zu gestalten. Ich gehe auf die Einstellungen junger Menschen zum Camp ein, darauf, wie sie sich von Nicht-Teilnehmern abgrenzen und darauf, wie die Teilnahme sie persönlich verändert hat. Ich schildere, dass vor allem die Kommunikation (obshchenie) und die Zugehörigkeit zum Kollektiv eine für sie wichtige Rolle spielen. Durch den gemeinsam durchlebten Alltag schafft das Camp ein Communitas-Gefühl der schnell hergestellten Zugehörigkeit. Nichtsdestotrotz bringen junge Menschen unterschiedliche Sensibilitäten in das Camp ein und identifizieren sich selektiv mit den dort gelebten Werten. Anhand von vier Biographien analysiere ich, wie die Teilnahme am Camp die Selbstreflexion der jungen Teilnehmer fördert. Insbesondere zeige ich auf, welche ethischen Praktiken und Selbst-Identifikation sie mit der moralischen Assemblage verbunden haben und in welchen sie von zentralen Inhalten der Camp-Pädagogik abweichen. Zentral stelle ich dar, wie junge Menschen zwischen den widersprüchlichen moralischen Erwartungen im Camp und außerhalb navigieren. Dabei stützen meine Beobachtungen Ewing (1990), die argumentiert, dass es kein essentielles Selbst gibt, sondern, dass Menschen nicht konsistente Selbst-Repräsentationen haben, die sich je nach Kontext wandeln können.
Im siebten Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage, welche Einstellung die Eltern zur Entstehung des Camps und der indigenen Revitalisierungsbewegung haben. Ich untersuche, warum das von Intellektuellen in der Stadt Chanty-Mansijsk in den späten 1980er Jahren initiierte Aufleben indigener kultureller Praktiken, keine indigene Massenbewegung geworden ist. Die Camp-Initiative schließt zwar die Hilfe von verschiedenen Akteuren im Dorf ein, ist jedoch kein Gemeinschaftsprojekt geworden, das das gesamte Dorf integriert. Aufgrund von diskriminierenden Erfahrungen als Angehörige einer indigenen Minderheit, ökonomischen Belastungen und Misstrauen gegenüber der öffentlichen Repräsentation ethnischer Kultur, wurde das Freizeitprojekt von der lokalen Bevölkerung kontrovers beurteilt. Die Motivation der Eltern ihr Kind ins Camp zu schicken war weniger dadurch motiviert, die ethnische Identität ihrer Kinder stärken zu wollen. Vielmehr sollte dies die Kinder (vor allem Jungen) vor den negativen Einflüssen der „Straße“ bewahren. Trotz partiell divergierender Erziehungsvorstellungen und Loyalitätskonflikte zwischen Familien und Campleitung wurde das Camp schlussendlich zu einer wichtigen pädagogischen Institution im Dorf Saranpaul’ und im Berezovo-Raion.
Im achten Kapitel fasse ich die Ergebnisse dieser Arbeit zusammen. Am Beispiel eines Sommercamps für indigene Kinder und Jugendliche in Westsibirien habe ich untersucht, welche moralischen Inhalte und welches Menschenbild ein selbstinitiiertes pädagogisches Projekt aufweisen kann. Damit trägt diese Arbeit zu wissenschaftlichen Debatten über pluralistischen moralischen Wandel in staatlich verfassten komplexen Gesellschaften bei. Ich habe gezeigt, dass moralisch-ethische Akteure wie Pädagoginnen, junge Menschen und ihre Eltern teilweise divergierende Vorstellungen davon haben, was das Moralische ausmacht. Ihre Kontroversen um eine gute Erziehung gehen über die normativen Erwartungen des Zentral- und Regionalstaates hinaus. Trotz aller Unterschiede beschäftigt die Sorge um die Marginalisierung Jugendlicher im abgelegenen Gebiet und ihre Chancenlosigkeit sowohl die jungen als auch die älteren Akteure. Demnach stellt die Institution des Camps für alle Beteiligten eine wichtige Ressource dar, um in einem verarmten Gebiete einer ausschließenden Sozialpolitik des Staates entgegenzuwirken. Vor allem der humanistische Aspekt der Camp-Pädagogik transportiert soziale Kritik am staatlichen Diskurs der „sozialschwachen Familie“ (neblagopoluchnaia semia). Obwohl das Camp also den ökonomischen Zwängen des Kulturmarktes unterworfen ist und die Leiterinnen den Wettbewerb unter (vor allem männlichen) Teilnehmern fördern, lehnen sie die Norm der menschlichen Existenz als homo oeconomicus ab und erheben stattdessen Empathie, Solidarität und Loyalität zur Camp-Gemeinschaft zum lokalen Wertmaßstab. Wie ich zeigen konnte, umfasst die moralische Assemblage der Camp-Pädagogik somit die normative institutionalisierte Moral der Familienwerte und der Selbst-Kultivierung. In diesem Sinne artikuliert das Camp Ähnlichkeiten und Unterschiede in Bezug auf öffentliche moralische Diskurse und institutionelle Moral. Gleichzeitig betont die Camp-Pädagogik die lokale Zugehörigkeit und die indigene Religion als Identitätsmerkmale. Trotz des Rückgangs des religiösen Repertoires im letzten Jahrhundert wird die indigene Religion von Pädagoginnen als zentral für die geschlechtsspezifische moralische Erziehung Jugendlicher angesehen. Durch die Auseinandersetzung der Jugendlichen, Pädagoginnen und Eltern über Moral und darüber, was das ‚wahre Selbst‘ ausmacht, bleibt das Erziehungsmodell des Camps sowohl nach innen als nach außen immer in Bewegung und auf ständigem Streben (quest) nach „authentischeren“ Formen.
Für diese Arbeit war der theoretische Ansatz von Jarrett Zigon hilfreich, um die Vielfältigkeit moralischer Diskurse sogar in einer so kleinen sozialen Institution wie einem Freizeitcamp zu verstehen. Doch in seinen Ausführungen ist er zu undifferenziert, wie sich eine Assemblage in einer Institution an sich bildet und ob und wie sich institutionelle oder öffentliche moralische Diskurse dadurch verändern. Meine Beobachtungen ergaben, dass die Entstehung einer moralischen Assemblage der ethischen kreativen Momente der Hinterfragung und Übersetzung bedarf. Die Assemblage wird durch die Menschen, in diesem Fall Pädagogen, Jugendliche und zum Teil ihre Eltern geschaffen. Die normativen moralischen Diskurse, die sie umgeben, übersetzen sie in ihre eigene Realität (Clifford 2013; Tsing 2005). Wie Tsing mit ihrem Begriff friction (Reibung) im Kontext der Globalisierung betont, während Ideen und Praktiken über Unterschiede hinweg „wandern“, werden sie durch Interaktion mit lokalen Bedeutungen aufgeladen. So werden die normativen Diskurse, die über die Massenmedien und Institutionen auf die Menschen einwirken, durch die Reibung mit lokaler sozialer Realität verändert. Mein ethnologischer Beitrag ist es demnach genau darauf zu achten, wie normative moralische Diskurse „wandern“ und wie sie von Menschen in besonderen Momenten der Bewusstwerdung zu Assemblagen zusammengefügt werden und so ihre Bedeutung wandeln.
Aufgrund pluraler und widersprüchlicher Moralvorstellungen und Praktiken lässt sich ein dynamisches lokales Erziehungsmodell und die moralische Gemeinschaft eines Camps nur bedingt durch öffentliche moralische Diskurse und institutionalisierte Moral vereinnahmen. Meine Arbeit hat somit die Assemblage kulturpädagogischer Formen als einen offenen, eigenständigen und extrem pluralen Prozess konkretisiert. Eine weitere, vertiefende wie komparative sozialanthropologische Analyse von Feriencamps lohnt sich, denn sie verspricht, komplexe gesellschaftliche Wandelprozesse in ihrer Vielfalt schärfer erfassen zu können.
1 Als Ethnonym nutze ich hierbei nicht die deutsche Übersetzung „Mansen“, sondern die Selbstbezeichnung „Mansi“ wie es in Transkription ihrer russischen Schreibweise wiedergegeben wird.