Political Orientations and Repertoires of Identification: State and Identity Formation in Northern Somalia

Markus V. Hoehne
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
15.07.2011

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Richard Rottenburg

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

In dieser Arbeit setze ich mich mit Dynamiken von Staats- und Identitätsbildung in Somaliland und Puntland auseinander. Beide staatsähnliche Gebilde entstanden in den 1990er Jahren in Nordwest- bzw. Nordostsomalia. Das „Staatsgebiet“ beider Gebilde umfasst zusammen ein gutes Drittel des Territoriums der 1991 zerfallenen Somalischen (Demokratischen) Republik. Somaliland und Puntland wurden Anfang der 2000er Jahre so stabil und friedlich, dass man dort längere Feldforschungsaufenthalte durchführen konnte.

Den Ausgangspunkt meiner Arbeit bilden folgende Grundannahmen: Erstens sind Dynamiken von Staats- und Identitätsbildung generell miteinander verbunden. Zweitens wird Staatlichkeit selten von ihrer Nichtexistenz her gedacht, bzw. kann kaum in Kontexten untersucht werden, die nicht wesentlich staatlich geprägt sind. Die Situation in Nordsomalia, nach Bürgerkrieg und Zerfall des etablierten Leviathans und mit zwei im Entstehen begriffenen staatsähnlichen Gebilden, bietet die Möglichkeit, Staats- und Identitätsbildungsprozesse in einer Phase zu beobachten und zu analysieren, die in vielen anderen Kontexten lange vorbei (oder noch nicht wieder eingetreten) ist. Besonders interessant an den Entwicklungen in Nordsomalia ist, dass die Anhänger Somalilands und Puntlands miteinander im Konflikt liegen über – wie ich in dieser Arbeit argumentiere – die politische Zukunft Somalias. Die damit verbundenen Fragen sind: Soll Somalia in den Grenzen von 1990 (vor dem Staatszerfall und der Sezession Somalilands 1991) wiedererstehen, oder sollen sich Somaliland und Somalia dauerhaft trennen? Diese Situation ist die Ausgangsbasis für die Bildung politischer Identitäten, auf deren Charakteristika ich weiter unten noch genauer eingehen werde. Diese Identitäten definieren sich nicht über patrilineare Abstammung oder andere Formen sozialer Zugehörigkeit (auch wenn besonders Klanzugehörigkeit, aber auch gemeinsame historische Erfahrungen, eine große Rolle spielen), sondern über politische Orientierung. Sie sind ausschlaggebend für die Konfliktdynamiken in der Region. Somaliländer ist die Selbstbezeichnung derjenigen, die für die Anerkennung eines unabhängigen Somalilands eintreten. Die Träger der puntländischen Ordnung sind Somali Nationalisten, die auf ein vereinigtes und starkes Somalia in den alten Grenzen hoffen. Die Abspaltung Somalilands wird von ihnen nicht toleriert. Eine genaue Analyse dieser Entwicklungen führt zu Einsichten, die über den regionalen Kontext hinaus auch für allgemeine Diskussionen in der politischen Ethnologie und der Politikwissenschaft interessant sind.

Die Dissertation ist in vier Teile und zehn Kapitel gegliedert. Teil I umfasst die konzeptionellen und theoretischen Ausführungen. Kapitel 1 skizziert meine Annäherung ans Feld, die für mich prägende Literatur in den Somali Studies und meine Methoden. Kapitel 2 diskutiert die dieser Arbeit zu Grunde liegende Literatur zu Staats- und Identitätsbildung. Darauf komme ich im weiteren Verlauf dieser Zusammenfassung noch ausführlicher zu sprechen. Teil II umfasst die Hintergrundkapitel 3 und 4. Diese führen in die geographischen, ökologischen, sozialen und historischen Bedingungen der Somalihalbinsel ein. Sie sind einerseits als Hilfe für Nichtspezialisten gedacht. Andererseits dienen gerade die Ausführungen zu den in der älteren Literatur beschriebenen sozialen und historischen Gegebenheiten in Kapitel 4 dazu, Kontinuitäten und Brüche zwischen „früher“ und „heute“ festzustellen. Teil III beschreibt Dynamiken der Staatsbildung „von unten“. Er geht auf die Entstehung von Somaliland und Puntland in den 1990er und frühen 2000er Jahren ein (Kapitel 5). Dann befasst er sich mit der Rolle traditioneller Autoritäten als den wichtigsten nichtstaatlichen politischen Institutionen und deren Rolle(n) in den Staatsbildungsprozessen in und zwischen Somaliland und Puntland (Kapitel 6). Teil IV schließlich stellt die Formierung politischer Identitäten in den Vordergrund. Dazu wird in Kapitel 7 auf die Zusammenhänge von Gewalterfahrungen, Traumatisierung und Identitätsbildung eingegangen. Es zeigt sich, dass nach dem Bürgerkrieg die Erfahrungen und die daraus abgeleiteten politischen Orientierungen und Identifizierungen der Menschen in Nordsomalia ganz unterschiedlich sind. Es gibt ein dominantes Traumanarrativ, das die Existenz eines unabhängigen Somalilands legitimiert. Dieses Narrativ stützt auch die zum Staat gehörige nationale Identität als Somaliländer. Es gibt aber auch „Gegennarrative“, welche die Existenz Somalilands delegitimieren und betonen, dass das wirkliche Trauma der Verlust eines einheitlichen und starken Staates Somalia und die Schwächung des somalischen Nationalismus sind. Zudem verweisen Brüche in der Biographie eines Hauptinformanten darauf, dass große Unterschiede zwischen individuellen Traumaerfahrungen und dominanten Traumanarrativen bestehen können, die eine Integration in den Nach- Bürgerkriegskontext erschweren. Kapitel 8 schließt an das Muster von Erzählung und Gegenerzählung an und zeigt, wie beide Seiten – die Befürworter eines unabhängigen Somalilands und seine Gegner – somalische Geschichte durch Umdeutungen und Auslassungen so präsentieren, dass es ihren jeweils entgegen gesetzten Positionen entspricht. Kapitel 9 zeigt, wie sich in den umstrittenen Grenzgebieten zwischen Somaliland und Puntland die Eskalation von Gewalt und die Bildung politischer Identitäten gegenseitig bedingen und vorantreiben. Kapitel 10 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Im Folgenden erläutere ich einige grundlegende Überlegungen zu Staats- und Identitätsbildung und zeige die Relevanz meiner Feldstudien in diesem Zusammenhang auf. Der moderne Staat entwickelte sich in Europa und Nordamerika seit der frühen Neuzeit (17. Jahrhundert). Das Modell wurde im Zuge von Kolonialismus und Dekolonisierung globalisiert, wie in Kapitel 2 Dargestellt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es mit Ausnahme des Südpols kein Territorium auf der Welt mehr, das nicht offiziell unter die Jurisdiktion eines Staates fällt (Benjamin 1988). Identitätsbildungsprozesse haben sich oft auf den Staat als Orientierungspunkt bezogen, und/oder wurden von staatlichen Instanzen beeinflusst. Staatlichkeit wurde zum „Zielpunkt“ erklärt von aufstrebenden Nationalisten, die sich und ihre Anhänger in einer politischen Ordnung vereint wissen wollten (Eriksen 1993: 97-120; Jecquin-Berdal 2002: 2-3).[1] Andererseits wirkt sich Staatlichkeit verbunden mit Nationenbildung auch auf die Wahrnehmung, das Selbstverständnis und die Identität von Staatsbürgern aus.[2] Der Staat und die Zugehörigkeit zu einem Staat wird als Normalfall angenommen (Doornbos 1994; Bourdieu 1999; Wimmer und Glick Schiller 2002); Nichtstaatlichkeit wird pathologisiert (Migdal und Schlichte 2005; Hagmann und Hoehne 2009).

In der Ethnologie wurden Staat oder Staatlichkeit lange Zeit nicht als Forschungsobjekte angesehen. Radcliffe-Brown (1962 [1940]: xxiii) nannte den Staat eine Fiktion der Philosophen. Er argumentierte: „What does exist is an organization, i.e. a collection of individual human beings connected by a complex system of relations […].There is no such thing as the power of the State“ (ibid.). Diese klaren Worte mögen jüngere politische Ethnologen Mitte des 20. Jahrhunderts, von denen viele in der britischen Sozialanthropologie akademisch sozialisiert worden waren, davon abgehalten haben, dem Staat als Forschungsobjekt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Erst ab den 1990er Jahren gelangte der Staat als Thema in den ethnologischen Mainstream (Trouillot 2001: 126). Hansen and Stepputat (2001) sprachen von „states of imagination“, womit sie darauf verwiesen, dass einfache Menschen bzw. soziale Gruppen gängige und sehr wirksame Vorstellungen von Staaten haben, die es ethnologisch zu hinterfragen gilt. Gar nicht so weit weg von der eben zitierten Position Radcliffe-Browns argumentierten sie, dass man den Staat ethnographisch aufbrechen müsste „into the multitude of discrete operations, procedures and representations in which it appears in the everyday life of ordinary people“ (Hansen und Stepputat 2001: 14). In ähnlicher Weise forderten Krohn- Hansen und Nustad (2005: 12): „A modern state must be understood as produced by a broad and continuously shifting field of power relationships, everyday practices and formations of meaning.”

Wie schon angedeutet interessiert mich an der Situation in Nordsomalia, wie Menschen sich in der Abwesenheit von Staatlichkeit bzw. in einem Kontext von langsam wieder entstehender Staatlichkeit orientieren. Natürlich kann man fragen, was denn an der Situation in Somaliland und Puntland anders ist als in bestimmten Gebieten Malis, des Kongo, des Sudan oder anderer (auch asiatischer und europäischer) Staaten, in denen der Staat oft, wenn überhaupt, nur als marginaler Akteur auftritt. Es gibt, wie Clapham (2001) und Bellagamba und Klute (2008) betonen, eine Vielzahl unterschiedlich gearteter Akteure neben dem Staat. In vielen Fällen agieren diese sogar mit größerer Legitimität und effektiver als staatliche Instanzen. Der Unterschied zur Lage in Nordsomalia ist allerdings, dass dort Anfang der 1990er Jahre der Staat nicht nur schwach war oder keine effektive Herrschaftsgewalt jenseits der Hauptstadt hatte, sondern komplett implodiert war. Es gab schlicht keine staatlichen Instanzen mehr, weder im Zentrum noch in der Peripherie. Was den Somalis blieb, war die Idee vom Staat. Es gelang in Somaliland und Puntland, dieser Idee in mühsamer Kleinarbeit – durch Staatsbildung „von unten“, wie in den Kapiteln 5 und 6 beschrieben – wieder eine feste Form zu geben. Seit Anfang der 2000er Jahre kann man von existierender (de-facto-)Staatlichkeit in den Zentren beider politischer Gebilde sprechen. Pegg (1998: 4) definiert de-facto-Staaten als Gebilde, die relativ stabil und politisch effektiv sind, in den Augen der Bevölkerungsmehrheit Legitimität genießen, und Menschen in einem klar definierten Gebiet staatliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Des Weiteren bemühen sie sich um internationale Anerkennung und haben die Fähigkeit, Anforderungen souveräner Staatlichkeit zu Erfüllen. Allerdings werden sie nicht international anerkannt und funktionieren deshalb außerhalb der international legitimen politischen Ordnung. Diese Merkmale treffen auf Somaliland seit Ende der 1990er Jahre zu. Puntland kann allerdings nicht als de-facto-Staat bezeichnet werden, da es keine internationale Anerkennung sucht. Es ist eine regionale Administration, die in Abwesenheit einer somalischen Regierung grundlegende Rechte des Staates Somalia in seinem Gebiet (Nordostsomalia) wahrt. Puntland sieht sich als zukünftigen Föderalstaat in einer noch zu errichtenden Bundesrepublik Somalia.

Die existierenden staatlichen Institutionen in Somaliland und Puntland müssen sich Anfang des 21. Jahrhunderts, wie in anderen Kontexten schwacher Staatlichkeit auch, mit den Kräften neben dem Staat arrangieren. Dies sind vornehmlich traditionelle Autoritäten, zum Teil aber auch noch (oder wieder) bewaffnete Klanmilizen (siehe Kapitel 6 und 9). Aber um diesen Punkt abzurunden: Anfang der 1990er Jahre gab es nicht einmal diese schwachen staatlichen Institutionen in der Region. Dies ist der Grund, warum Nordsomalia eines der wenigen zeitgenössischen „Testgebiete“ für grundlegende Prozesse von Staats- und Identitätsbildung ist.

Im Hinblick auf Identitätsbildung gehe ich von dem „konstruktivistischen Konsens“ aus, dass Realität sozial konstruiert ist (Berger und Luckmann 1987 [1966]). Barth (1969) betonte, dass Identitäten entlang sozialer Grenzen konstruiert werden. Immer dann, wenn es nötig ist, Differenzen nach außen aufzuzeigen, werden die Eigenschaften der eigenen Gruppe betont, die sich von denen anderer Gruppen unterscheiden. In Barths damaliger Sichtweise, die er später (1994) zum Teil revidierte, kam dem kulturellen Inhalt von Identitäten – wie substantiell die Eigenschaften wirklich waren – kaum Bedeutung zu. Entscheidend war, wie Unterschiede repräsentiert wurden. In der deutschen Ethnologie griffen Schlee (2002b, 2004, 2006) und Elwert (2002) die Barthsche Perspektive auf und betonten die Oberflächlichkeit aber Wirksamkeit von Identitätskonstruktionen. Schlee (2002b: 8) warb explizit für einen Ansatz in der Identitätsforschung, der sichtbare Marker und die Rationalitäten von Identifikationsprozessen ins Zentrum stellte. Er wollte Obeflächlichkeit in einem soziologischen Sinne verstanden wissen, „referring to the social ego, the surface, or the interface with others“ (ibid.). Entsprechend entwarf er Taxonomien von Identifizierungen und betonte, dass bestimmte Identifizierungen miteinander verbunden werden können, wie z.B. Nationalität und Religion, während andere Identifizierungen sich gegenseitig ausschließen, wie z.B. muslimisch und katholisch sein (Schlee 2006: 54-57). Elwert (2002) erweiterte die Perspektive um den Begriff des „code switching“ im Bereich von Identitäten. Er arbeitet heraus, dass Akteure sich je nach Kontext auf verschiedenen Ebenen, wie Religion, Sprache, Nationalität, identifizieren können. Trotz aller Flexibilität müssen Identitäten aber immer auch plausibel sein und von anderen – den sozialen
„Gegenspielern“ – akzeptiert werden können, um zu funktionieren (Eriksen 1993: 18; Schlee 2004).[3]

Diese Bemerkungen verweisen auf die komplexen Beziehungen und möglichen Spannungen zwischen individuellen und kollektiven Identitäten. Individuelle Identität bezieht sich auf die (subjektiv gefühlte) Kohärenz des eigenen Selbst, das sich in widersprüchlichen Situationen und über die Zeit „treu bleibt“. Kollektive Identität betrifft mehrere Personen und die Idee ihrer Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten (Jenkins 1996; Sökefeld 1999; Luhrmann 2001; Snow 2001; Rummens 2003). Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten können von „innen“ heraus konstruiert und erfahren werden, oder von „außen“ aufgezwungen werden (Jenkins 1996: 22-23). Individuelle wie auch kollektive Identitäten sind sozial in dem Sinn, dass sie nur in der Beziehung zu anderen Menschen und Gruppen vorhanden sind (Wagner 1999: 45; Jenkins 1996: 19-25). In der Isolation gibt es keine Identität. Zudem sind individuelle und kollektive Identitäten aufeinander bezogen und stehen in komplexer Wechselwirkung zueinander. Kollektive Dynamiken beeinflussen die Individuen innerhalb einer Gruppe; umgekehrt setzen sich Gruppenidentitäten aus dem gemeinsamen „Bodensatz“ individueller Identitäten zusammen. Allgemein und treffend formulieren Berger und Luckmann (1987 [1966]:195): „identity is a phenomenon that emerges from the dialectic between individual and society.“ In dieser Dissertation arbeite ich an der Unterscheidung aber auch dem Zusammengehen von individueller und kollektiver Identität. Die analytische Trennung erscheint mir sinnvoll, da sie hilft, persönliche Positionen von Gruppenorientierungen zu unterscheiden und auf der Mikroebene das Handeln individueller Akteure nachzuzeichnen.

Der Fokus auf die individuelle Ebene und die Motivationen, die Menschen zu bestimmten Identifizierungen veranlassen, macht es möglich, verbleibende Grauzonen der konstruktivistischen Identitätsforschung auszuleuchten. Erstens ist es sehr schwer, empirisch festzustellen, was auf kollektiver Ebene Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten innerhalb einer Gruppe und Unterschiede zu einer anderen Gruppe wirklich ausmacht (Wagner 1999: 45). Das wiederum berührt die Machtfrage in Identifikationsprozessen:

„Who has the power to represent a particular identity in a particular way, in order to ascribe it a particular meaning and achieve a specific inclusiveness, excluding thereby other meanings and positions? And: Who has the power to represent a particular people on the basis of claims to a particular identity? (Sökefeld 2008: 19)“

Jenkins stellte zuvor schon in ähnlicher Weise fest, dass Identität immer auch die Frage mit einbezieht: „whose definition of the situation counts“ (Jenkins 1996: 23, Kursivsetzung des Autors).

Ein zweites Problem der gegenwärtigen Identitätsforschung ist, dass die Rolle von Emotionen in Identifizierungsprozessen kaum beachtet wird und schwer zu analysieren ist. Dies hat Schlee (2002b: 23) zwar betont, aber selbst nicht weiter verfolgt. Identifizierung hat nicht nur mit Kalkül, Virtuosität und den strukturellen Bedingungen (Was ist in den Augen anderer akzeptabel? Worauf kann man sich überzeugend beziehen?) zu tun. Es spielen immer auch Stolz, Furcht, Zorn, Sympathien und andere gefühlsbezogene Faktoren eine Rolle. Es ist bisher immer noch unklar, was in Gruppen wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl ausmacht (Wagner 1999: 64).[4]

Zuletzt ist es zwar möglich, Identitäten als innerhalb von bestimmten Rahmenbedingungen konstruiert zu erforschen. Es ist aber ungleich schwieriger, festzustellen, wo Flexibilität aufhört und, zumindest für die Akteure, das Ende der Konstruierbarkeit von Identitäten erreicht ist. Das Ende der Konstruierbarkeit hat nicht immer etwas mit Plausibilität oder ökonomischer Rationalität zu tun. In meiner Feldforschung habe ich Menschen getroffen, die hartnäckig bestimmte Positionen vertreten haben, welche ihre Identität wesentlich geprägt haben, welche ihnen aber im alltäglichen Leben viele Schwierigkeiten bereitet haben. Es hätte in diesen Fällen durchaus plausible Möglichkeiten gegeben, durch eine leichte Verschiebung der politischen Orientierung das Leben angenehmer und vielleicht sogar ökonomisch erfolgreicher zu gestalten. Die Frage ist also: Warum verstehen bestimmte Menschen oder Gruppen bestimmte Aspekte ihre individuellen oder kollektiven Identitäten als unverrückbar? Wann kommt also eine primordiale Auffassung der Akteure ins Spiel, und wie wirkt diese sich auf Identifikationsprozesse und damit verbundene, z.B. politische, Dynamiken in einem Feldforschungsgebiet aus?

Mein Ansatz hinsichtlich dieser Probleme ist, individuelle Akteure, ihre Motivationen und ihr soziales Umfeld so gut wie möglich zu erfassen. Interessant sind immer die Brüche in der individuellen oder kollektiven Selbst- und Fremddarstellung. Damit sind die Fragen verbunden, an welchen Stellen Selbst- und/oder Fremdidentifikationen nicht mehr „funktionieren“, bzw., wo sie umstritten sind. In meiner Arbeit nähere ich mich der Entstehung von Zusammengehörigkeitsgefühl durch das Nachzeichnen der Entstehung einer „imagined community“ (Anderson 2006 [1983]) in Zentralsomaliland (Kapitel 5). Dabei spielen gemeinsame Erfahrungen und gelebter Alltag eine wesentliche Rolle. Dieses Thema setzt sich in Kapitel 7 fort, in dem die Produktion eines dominanten Trauma-Narratives als Grundlage der entstehenden Somaliländer Identität hervorgehoben wird. Dies ist jedoch „national“ gesehen nur eine Teilidentität. Sie trifft auf Menschen mit einem bestimmten Erfahrungshorizont zu. Diese Menschen leben meist in Zentralsomaliland und gehören der Abstammungsgruppe der Isaaq an. Andere Menschen in Somaliland haben einen deutlich anders gearteten Erfahrungshorizont. Dies führt zur Frage nach Machtungleichgewichten in den lokalen Identifikationsprozessen, der ich aber nur indirekt nachgehe. Von der somaliländischen Regierung in Hargeysa, der Hauptstadt Somalilands, werden alle Bewohner des früheren Britischen Protektorats von Somaliland als Teil der 1991 neu gegründeten politischen Gemeinschaft angesehen. Viele Menschen in den östlichen Regionen Somalilands, die den Klans Dhulbahante und Warsangeli angehören, widersetzten sich dieser Vereinnahmung. Auf nachbarschaftlicher Ebene und durch Heirat und Freundschaft sind sie den verschiedenen Issaq Klans verbunden. Sie wollen Somaliland jedoch nicht als unabhängigen Staat unterstützen, sondern sind am Wiederaufbau Somalias interessiert. Sie fühlen sich politisch zudem von der Übermacht der Isaaq in Somaliland bedroht. Die in Kapitel 8 aufgezeigten Positionen und Gegenpositionen der Anhänger Somalilands und der Befürworter eines vereinigten Somalias werden also nicht nur von dem kulturellen Kontext, dem individuellen Kalkül und der Virtuosität der Akteure, sondern auch von lokalen Machtungleichgewichten und Sicherheitsbedenken beeinflusst.

Direkten Bezug auf die Rolle von Emotionen in Identifikationsprozessen nehme ich in den Kapiteln 7 und 8. Hier wird, wie gerade schon angesprochen, aufgezeigt, wie traumatische Erfahrungen in der Zeit des Bürgerkrieges und Staatszerfalls Individuen und Gruppen zu bestimmten Identifikationen veranlasst haben. Allerdings verdeutlicht gerade die Biographie Mohamed Laba Qumacs, der einer meiner Hauptinformanten und ein guter Freund war, wie scheinbar klare Identifikationsmuster gebrochen werden und traumatische Erfahrungen nicht nur Zusammengehörigkeit, sondern auch Entfremdung produzieren können.

Die Frage, welche Identifizierungen als unverrückbar angenommen werden und wo sich das Ende der Konstruierbarkeit in lokalen Identifizierungsprozessen zeigt, wird im Zusammenhang mit der eskalierenden Gewalt in den umstrittenen Grenzgebieten zwischen Somaliland und Puntland behandelt. In den Kapiteln 5 und 6 wird besonders die politische Situation in den Regionen Sool und Sanaag sowie im südlichen Togdheer bzw. in der Region Cayn dargestellt.[5] Die dort wohnenden „Grenzländer“ können sich sowohl Somaliland als auch Puntland zurechnen. Sie oder ihre Vorfahren waren Teil des Britischen Protektorats. Dieses koloniale Gebilde umfasste das Gebiet, in dessen Grenzen sich die Republik Somaliland 1991 für unabhängig erklärte. Die Grenzländer können aber auch ihre patrilineare Abstammung von dem legendären Ahnen Harti betonen, was sie als Bürger Puntlands definiert. Puntland wurde 1998 als Administration aller Harti (und noch einiger kleinerer Mitglieder der Darood Klanfamilie) gegründet.[6] Sie können also opportunistisch zwischen territorialer und genealogischer Zugehörigkeit entscheiden und versuchen, durch politische Teilnahme in Somaliland und Puntland „doppelten Gewinn“ einzufahren. Dieses „Doppelspiel“ hat allerdings seinen Preis. Bis Anfang der 2000er Jahre waren die umstrittenen Grenzgebiete zwischen Somaliland und Puntland effektiv nicht staatlich kontrolliert. Die Menschen dort unterstanden der Autorität ihrer traditionellen Autoritäten. Diese sorgten, je nach eigenem Vermögen, für Ruhe und Ordnung und, in manchen Fällen, für moderate Entwicklung. Konflikte wurden oft gewaltsam ausgetragen. Tötungen konnten jahrelange Blutrachezyklen nach sich ziehen. Insgesamt blieb der Level der Gewalt allerdings niedrig. Zwischen 2000 und 2003 begannen die Regierungen in Hargeysa und Garoowe, ihre politischen „Fühler“ in das umstrittene Gebiet auszustrecken. Sie etablierten lokale Rumpfverwaltungen, die mit Mitgliedern der lokalen Klans besetzt wurden. Dies brachte einzelnen Personen und ihren erweiterten Familien moderate Gewinne ein, sorgte aber auch für neues Konfliktpotenzial im lokalen Kontext. Aus pastoralnomadischen wurden zunehmend politische Konflikte. Der Level von Gewalt stieg.

Kapitel 9 stellt die weiteren Ereignisse den umstrittenen Grenzgebieten ab 2004 dar. Diese liefen gerade in der Region Sool zunehmend auf militärische Konfrontationen zwischen Somaliland und Puntland hinaus. Darüberhinaus kommt es in Sool und im Süden Togdheers/Cayns seit 2010 zu Zusammenstößen zwischen lokalen Klanmilizen und der somaliländischen Armee. Besonders die Situation in diesen Gegenden, die vornehmlich von Dhulbahante bewohnt werden, zeigt, dass es eine Grenze des Opportunismus und der Konstruierbarkeit von Identitäten gibt, zumindest auf der Ebene der einfachen Bevölkerung. Die Menschen dort lassen sich nicht zur Aufgabe ihrer politischen Vision von der Wiedererrichtung eines vereinten Somalias bewegen. Dafür nehmen sie notfalls auch extreme wirtschaftliche Marginalisierung und die Militarisierung ihrer Klanterritorien auf sich. Je mehr die Gewalt eskalierte, desto mehr verhärteten sich auch die Fronten zwischen den von den Menschen betonten politischen Identitäten.

Im Schlusskapitel (Kapitel 10) streiche ich die Rolle von Emotionen in Staats- und Identitätsbildungsprozessen heraus. Staaten allgemein haben emotionale Qualitäten. Sie müssen jenseits ihres institutionellen und politischen Charakters auch verstanden werden als „ensemble of affective orientations, images, and expectations imprinted in the minds of the subjects“ (Young 1994: 33). Ich verweise zudem auf die Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten von Staatsbildungsprozessen. Somaliland, aber auch Puntland, entwickelten sich entgegen der Vorhersage, dass es ihren Unterstützern nur um das Abgreifen externer Ressourcen ginge. Nach zwei Jahrzehnten (Somaliland) bzw. etwas mehr als einer Dekade (Puntland) stehen sie in vielerlei Hinsicht besser da als der Süden, dem immer noch die internationale Aufmerksamkeit gilt. Doch waren die internen Staats- und Identitätsbildungsprozesse nicht einheitlich. Somaliland existiert nicht wirklich in den umstrittenen Grenzregionen. Auch Puntland ist dort nur wenig präsent. Die Grenzregionen können mit Ferguson und Whitehead (2000 [1992]) als „tribal zones“ verstanden werden, in denen sich Staatsbildung vollzieht und die im Zuge staatlicher Expansion von politischen Peripherien zu politischen Zentren werden. Dies geht, zum Leidwesen der lokalen Bevölkerung, mit der Militarisierung dieser Grenzregionen einher.

Natürlich ist eine Perspektive auf Staats- und Identitätsbildung, die ausschließlich den lokalen Kontext beachtet, nicht ausreichend. Ich bette deshalb meine Darstellungen der lokalen und regionalen Dynamiken an verschiedenen Stellen in den größeren Kontext somalischer und internationaler Politik und anderer Entwicklungen ein. Der Aufstieg und Fall des Präsidenten Maxamed Siyaad Barres (1969-1991), der direkt in den Bürgerkrieg und Staatszerfall führte, war eng mit dem Kalten Krieg verbunden war (siehe Kapitel 4). Ebenso sind die politischen Entwicklungen in dem Feldforschungsgebiet und der weiteren Region seit 1990 mit der von Präsident Bush senior verkündeten „Neuen Weltordnung“ unmittelbar nach dem Ende der Ost-West Konfrontation und dem seit 2001 eskalierenden internationalen Kampf gegen den Terrorismus verbunden. Somalia war in den zwei Jahrzehnten seit 1991 mehrfach Ziel von internationalen Militärinterventionen. Diese hatten das Mandat, Frieden und Staatlichkeit im Land wieder herzustellen, bzw. Bedrohungen des Friedens in der Region zu eliminieren. Faktisch haben die Interventionen aber, wie ich in meinen Schlussfolgerungen argumentiere, Frieden und Staatsbildung in Somalia verhindert. Besonders Somaliland, aber auch Puntland, haben indirekt von dem andauernden Staatszerfall Somalias profitiert. Die Menschen dort mussten sich auf die Wiederherstellung einer eigenen friedlichen politischen Ordnung konzentrieren abseits des internationalen Somaliafokus, der im Wesentlichen auf Mogadishu und den Süden gerichtet war. Diese gelang erstaunlich gut, wie die Entwicklungen in Somaliland in den 1990er Jahren, aber auch die in mancher Hinsicht parallelen Entwicklungen in Puntland ab 1998 zeigen. Immer wieder hat Äthiopien, das in Südsomalia bisher eine weitgehend destruktive Rolle gespielt hat, die Rivalen Somaliland und Puntland davon abgehalten, sich in einen lang anhaltenden Krieg gegeneinander zu begeben. Die Diaspora hat seit Anfang der 1990er Jahre den
Aufbau einer friedlichen politischen Ordnung in Somaliland und Puntland unterstützt.[7] Geldrücksendungen und, ab 2000, zunehmend größere wirtschaftliche Investitionen von Somalis aus Europa, Nordamerika und der arabischen Halbinsel haben zum Überleben vieler Menschen in Nordsomalia sowie zu einem moderaten wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen.

Kapitel 10 schlägt zudem die Konzepte von Mimesis und Mimikry vor, um Annäherungen und Ähnlichkeiten, sowie Imitationen im Zusammenhang mit den Staats- und Identitätsbildungsprozessen in Somaliland und Puntland zu analysieren. Diese Mimesis umfasst dabei die möglichst detailgetreue Imitation eines vorhandenen Gegenstandes oder einer vorhandenen Institution. Ziel ist es, durch die Kopie von etwas, das schon funktioniert, von den Vorteilen des existierenden Gegenstandes oder der existierenden Institution zu profitieren. Mimikry bezieht sich hingegen auf die Imitation in der Absicht, den Signalempfänger zu „betrügen“.[8] Zunächst imitierte Somaliland das globalisierte Konzept moderner Staatlichkeit so gut wie möglich, um sich vom zerfallenden Rest Somalias abzugrenzen. Allerdings waren einige Akteure in Somaliland (viele Nicht-Isaaq, aber auch einige Isaaq) nicht von der Richtigkeit der Abspaltung überzeugt. Sie akzeptierten sie nur, weil sie dachten, Somaliland würde nicht lange existieren und bald in einem wieder friedlichen, vereinten Somalia aufgehen. Puntland imitierte im Zuge seines Staatsaufbaus den politischen Prozess, der in Somaliland schon Anfang der 1990er Jahre stattgefunden hatte. Traditionelle Autoritäten ebneten den Weg für eine Regierungsbildung und standen jederzeit bereit, um an Konfliktverhandlungen zwischen verfeindeten Gruppen teilzunehmen. Ein klarer Aspekt von Mimikry seitens Puntlands wird hinsichtlich der Konflikt- und Identitätsdynamiken zwischen beiden staatsähnlichen Gebilden in Nordsomalia deutlich. In der Auseinandersetzung mit Somaliland über die Kontrolle der Regionen Sool und Sanaag sowie Gebiete im südlichen Togdheer/Cayn geriert sich Puntland als Staat auf derselben politischen Ebene wie Somaliland. Damit wird nach außen, in Richtung internationale Gemeinschaft, signalisiert, dass sich in Nordsomalia zwei ähnliche politische Gebilde um Territorium streiten. Dies verschleiert die Tatsache, dass Somaliland dieses Territorium beansprucht, da es sich als eigenen Staat in den Grenzen des früheren Britischen Protektorats ansieht, während Puntland nur eine regionale Administration ist, die ihren Anspruch auf die umstrittenen Grenzgebiete genealogisch begründet, aber keinen Anspruch auf unabhängige Staatlichkeit erhebt. Dieser Konflikt dient Puntland dazu, das Bild Somalilands als stabiler de-facto-Staat zu erschüttern und somit den Anspruch der Regierung in Hargeysa auf internationale Anerkennung Somalilands zu unterminieren:

Abschließend schlage ich das Konzept von politischer Identität vor, um die Konfliktdynamiken in Nordsomalia, zwischen Somaliland und Puntland und vor allem in den umstrittenen Grenzregionen, zu verstehen. Die politischen Identitäten haben im lokalen Kontext zwar oft einen genealogischen Unterbau. Isaaq sind meist (aber nicht immer) Somaliland Anhänger; Harti sind eher Somali-Nationalisten und verlassen sich auf Puntland als „Bollwerk“ gegen die Abspaltungsbemühungen Hargeysas. Dennoch wäre es in meinen Augen verfehlt, rein das genealogische Element für Konflikteskalationen vor Ort verantwortlich zu machen. Es geht oft nur Vordergründing um Isaaq gegen Harti oder Darood. Hintergründig geht es um die politische Zukunft der Region und Somalias.

Die entscheidenden Merkmale politischer Identitäten sind die gemeinsame Orientierung auf ein zukünftiges politisches Ziel hin, und die Tatsache, dass sie schlussendlich exklusiv sind und sich nicht durch alternative Verbindungen zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen (z.B. durch „cross-cutting ties“, die unter anderem durch Heirats- und Freundschaftsbeziehungen entstehen) „aufweichen“ lassen. Hinsichtlich des Konzepts der politischen Identitäten wurde ich hauptsächlich von Mamdani (2001) inspiriert, der in seiner Analyse der Gewalteskalationen in Ruanda die Hutu und Tutsi Identitäten als politische Identitäten begriff. Sie entstanden im Kontext politischer und rechtlicher Manipulationen seit der Kolonialzeit, beinhalteten zunehmend divergente Zukunftsorientierungen und tendierten zur Exklusivität, besonders im Zusammenhang mit dem ungleichen Zugang von Mitgliedern der verschiedenen Gruppen zur Macht und den Ressourcen des Staates. Den „letzten Schliff“ erhielten diese Identitäten im Kontext eskalierender Gewalt oder der Drohung von Gewalt. Tronvoll (2003, 2009) betonte, dass Gewalt Kohärenz nach innen und Abgrenzung nach außen fördert.[9] Dies, verbunden mit einem politischen „Projekt“, sind die Voraussetzungen für die Entstehung politischer Identitäten.

Diese Identitäten müssen zeitlich nicht stabil sein und können nach dem Abflauen politischer oder militärischer Konfrontationen wieder in den Hintergrund treten. Sie können aber unterschwellig die Beziehungen zwischen Gruppen prägen und, wenn die politischen Ziele sich gegenseitig ausschließen, wie es in Nordsomalia der Fall ist (Unabhängigkeit für Somaliland oder Aufbau eines vereinigten Somalias), zu immer neuen Gewalteskalationen beitragen. In diesem Prozess verhärten sich die Fronten. Freundschaften, Heiratsbeziehungen, Nachbarschaft und andere Alternativbeziehungen werden zunehmend unwichtiger.

Insgesamt zeigt meine Arbeit, dass das teleologische Verständnis von Staatsentstehung als der „Endform“ politischen Lebens, dem noch manche Politikwissenschaftler, Juristen und Politiker anhängen, verfehlt ist. Auch Ansätze, Staatlichkeit in schwachen oder zerfallenen Staaten „von oben“ wieder herzustellen, sind, wenn man sich die gegensätzlichen Erfahrungen in Somalia einerseits und Somaliland (und Puntland) andererseits ansieht, zum Scheitern verurteilt. Staats- und Identitätsbildungsprozesse sind hochkomplex, von einer Reihe schwer absehbarer mikropolitischer und mikrosoziologischer Dynamiken abhängig, und werden nicht zuletzt von schwer erfassbaren und steuerbaren Emotionen beeinflusst. Gerade die Beschäftigung mit Trauma – oft gehen Staats- und Identitätsbildungen ja gewaltsame Konflikte voraus oder gehen mit ihnen einher – erweist sich in diesem Zusammenhang als fruchtbar für das Verständnis politischer und sozialer Komplexitäten.



[1] Die Somalis sind ein klassisches Beispiel für Nationalismus auf Basis kultureller und historischer Verbundenheit (Lewis 1983). Ihr Antikolonialismus mündete schließlich in die staatliche Unabhängigkeit, war allerdings auch danach noch von dem Kampf um die Integration der unter äthiopischer, kenianischer und französischer Herrschaft stehenden Somali-Gebiete am Horn von Afrika geprägt.

[2] Helling (2009: 1) versteht Nationenbildung als Prozess sozio-kognitiver Standardisierung, oder klarer: als „a process of identity formation underwritten by the spread of social and cognitive conformity within a politically and usually geographically defined population.“

[3] In Situationen extremen Machtungleichgewichts können auch Identitäten aufgezwungen werden (Jenkins
1996).

[4] Das arabische Pendant zu Zusammengehörigkeitsgefühl ist asabiya, das von Ibn Khaldun in seiner Aanalyse tribaler Gesellschaften (auch gerade in Nordostafrika) verwendet wird. In Somali kann man es mit tolnimo bezeichnen, das allerdings immer auf die eigene patrilineare Abstammungsgruppe fokussiert ist.

[5] Puntland hat 2003 in dem Gebiet um die Stadt Buuhoodle, die entsprechend der somaliländischen Verwaltungsordnung im Süden der Region Togdheer liegt, eine neue Region namens Cayn gegründet.

[6] Zu den Harti Klans gehören unter anderem die Majeerteen, die Dhulbahante und die Warsangeli. Alle Harti Klans sind auf einer höheren Ebene der Segmentation Teil der Darood Klanfamilie

[7] Natürlich gab es auch Situationen, in denen diasporische Akteure eher konfliktfördernd aktiv waren.

[8] Hier ist zu beachten, dass das aus der Biologie entlehnte Konzept von Mimikry ursprünglich keine Intentionen des imitierenden Lebewesens beinhaltete.

[9] Appadurai (1998: 238-245) hat mit Bezug auf Eskalationen von Gewalt in ethnisch, kulturell und geographisch eng verbundenen Gesellschaften wie in Burundi festgestellt, dass Töten ein Akt der Identifizierung sein kann. Ähnlich betonte schon Leach (1965: 175): „[k]illing is a classifying operation. We kill our enemies; we do not kill our friends.“

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