Domesticating Youth: the youth bulge in post-civil war Tajikistan

Sophie Roche
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
10.06.2010

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Ildikó Bellér-Hann

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

In den letzten Jahrzehnten ist die Rolle der Jugend als eine politische dynamische Kraft wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Hierbei wird Jugend als ein demographischer Faktor problematisiert. In anderen Worten, ein großer Anteil junger Menschen (youth bulge)[1] wird für ein erhöhtes Risiko sozialer und politischer Unruhen verantwortlich gemacht. Die vorliegende Arbeit greift dieses Argument auf und untersucht es von einem ethnologischen Standpunkt aus, d.h. es wurde eine holistische Herangehensweise gewählt. Dem Argument liegt die Ansicht zugrunde, dass demographische Größen bei soziokulturellen Veränderungen eine zentrale Rolle spielen. In Bezug auf „Jugend“ bedeutet es, dass junge Menschen soziale, politische oder demographische Gruppen bilden, die entscheidend an der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes beteiligt sind. Damit ist „Jugend“ ein vielseitiges veränderbares Konzept, das sich sowohl auf eine Phase im Lebenslauf bezieht als auch soziale, politische, religiöse und demographische Gruppen bezeichnet, die das Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen jungen Akteuren einerseits und Institution, Autoritäten etc. andererseits sind.

Als ethnographisches Beispiel wurde in dieser Arbeit das Land Tadschikistan gewählt, das alle Faktoren eines „youth bulge“ aufweist und einen Bürgerkrieg Anfang der 1990er Jahre durchlebt hat. In politischen Analysen wurde neben ökonomischen und politischen Faktoren (säkulare versus islamische Kräfte) Tadschikistans Demographie zur Problemquelle erklärt. Hohe Geburtenraten und Ressourcenknappheit wurden unter anderem als zentrale Ursachen für den Konflikt beschrieben. Zwar herrscht seit 1997 ein offizieller Frieden, doch hat Tadschikistan damit das demographische Problem noch nicht gelöst. Wie aber die Gruppe der „Jugendlichen“ und die Lebensphase „Jugend“ in unterschiedlichen Kontexten interpretiert, analysiert, konzeptualisiert und reformiert wird und welche Rolle insbesondere der Bürgerkrieg dabei spielt, wird in dieser Arbeit diskutiert. Da sowohl in internationalen Diskursen als auch in lokalen Konzeptionen und politischen Interpretationen Jugendliche als noch-nicht-reife-Menschen konzeptualisiert werden, habe ich den Begriff der Domestizierung benutzt, um die diskursive Ungleichheit zwischen dem was junge Menschen denken und tun und der Dominanz von Institution und erwachsenen Autoritäten hervorzuheben.

Hauptargumente der Arbeit


Die Arbeit beginnt mit einer detaillierten Analyse des Begriffs „Jugend“ und dessen Bezug zu sozialen und politischen Konflikten in der ethnologischen und demographischen Literatur. Die Konnotation von Jugend mit sozialen Konflikten im europäischen und amerikanischen Raum zieht sich durch die gesamte soziologische Literatur seit der Industrialisierung Englands. Im afrikanischen und asiatischen Kontext dagegen wurde Jugend seit Margaret Mead als eine Übergangsphase beschrieben, die durch Übergangsrituale gekennzeichnet war und von Seitens der Erwachsenenwelt kontrolliert werden konnte. Allerdings hat sich diese Sicht in den letzten Dekaden verändert, unterstützt durch die massive Beteiligung junger Menschen an unterschiedlichen Bürgerkriegen. Heute werden Jugendliche sowohl als Risikofaktor als auch als Opfer gesehen.

Die Phase der Jugend hat sich durch die von Europa und den USA stammenden Einflüsse sowie global zirkulierende islamische Konzepte in vielen Gesellschaften verändert, nicht zuletzt durch den Export des westlichen Bildungssystems. Der Westen vermarktet Jugend als einen ewigen Status, der Dynamik und wirtschaftlichen Erfolg suggeriert. Dem gegenüber bietet der Islam einen erwachsenen Status mit ähnlichen Qualitäten an. In Tadschikistan konkurrieren beide Konzepte um die Jugendlichen, die Interesse daran zeigen, den traditionellen Jugendstatus, d.h. einen unterworfenen Status, der graduell überwunden werden muss, möglichst schnell zu verlassen. Diese Prozesse habe ich „Domestizierung“ genannt. Ich benutze das Konzept der „Domestizierung“ metaphorisch, um hervorzuheben, dass der Umgang mit jungen Menschen in Tadschikistan (und viel allgemeiner in den meisten youth bulge Bevölkerungen) in der Regel von oben nach unten verläuft. Das heißt, Jugend ist ein Zustand, den es zu überwinden, zu zähmen, zu kontrollieren und zu domestizieren gilt. In der Tradition gilt ein Jugendlicher noch nicht als ein voller Mensch und Bürger, er ist noch nicht reif und seine Natur ist verantwortlich für Gewaltausbrüche oder Missgeschicke. Grundsätzlich gibt es zwei Arten der Domestizierung, die strukturelle und die autoritäre. Unter struktureller Domestizierung verstehe ich die Gemeinschafts- und Verwandtschaftsstrukturen, innerhalb derer jungen Menschen ein bestimmter Platz zugewiesen wird. Die autoritäre Domestizierung meint einen Prozess, der primär autoritär aber auch als Aushandlungsprozess zu verstehen ist, in dem Jugendliche nicht ohne Kompromisse und Zugeständnisse zu domestizieren sind. Hierbei wird Domestizierung sowohl durch Individuen als auch von Institutionen wie dem Staat oder der Religion angestrebt. Beide Domestizierungsformen haben auch direkte Auswirkung auf verwandtschaftliche, gemeinschaftliche, religiöse und politische Konzeptualisierungen von Jugend als einer soziodemographischen Gruppe.

Während junge Menschen also als hilfebedürftig und zu kontrollierend eingestuft werden, internalisieren nicht alle jungen Menschen diese Werte, sondern agieren, um sich Gehör zu verschaffen. (Häufig sind sie erst dann erfolgreich, wenn sie zahlreich und gewalttätig genug sind, um Medien auf sich aufmerksam zu machen). In diesem Sinne ist „Domestizierung“ also auch ein Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Gruppen (Studenten-Staat, Jugend innerhalb der Dorfgemeinschaft, Kinder-Eltern, Geschwister untereinander etc). Diese Aushandlungsprozesse finden nicht notwendigerweise in direkten face-to-face-Beziehungen statt, sondern haben unterschiedliche Formen. Während also „Jugendliche“ als soziobiologische Kategorie verwendet wird, (re)agieren junge Menschen als Individuen oder in Gruppen, so dass die Kategorien immer wieder neu modelliert und angepasst werden müssen.

Der Begriff „Jugend“ bezeichnet in dieser Arbeit junge Männer; die einzige Ausnahme bildet die Gruppe von Studenten.[2] Grund hierfür sind die emischen Bezeichnungen von jungen Menschen (javonon, bachaho) und jung (javon), die den Lebenslauf eines Mannes unterschiedlich von dem einer Frau konstruieren. Während letztere möglichst schnell vom Mädchenstatus in den Status der Ehefrau, Schwiegertochter (kelin) und Mutter treten sollen und sie lückenlos zunächst von ihrer eigenen Familie, dann von der des Ehemannes kontrolliert werden, genießen junge Männer weitaus mehr Freiräume. In diesem Sinne meint „jung“ sowohl Unerfahrenheit und experimentelle Natur als auch die Fähigkeit, harte physische Arbeiten auszuführen. Dies erlaubt es männlichen Jugendlichen einerseits, das Leben auszuprobieren, es verpflichtet sie andererseits aber auch dazu, ihre Dienste der Gemeinschaft, der Familie, Gott und dem Staat zur Verfügung zu stellen.

Ein junger Mann erreicht die soziale und die biologische Reife getrennt. So dient zwar die Hochzeit der „Domestizierung“ der Jugend und fordert von ihr Verantwortung, gleichzeitig aber wird dem jungen Mann volle Verantwortungsfähigkeit abgesprochen. Erst wenn er ein eigenes Haus hat, aus dessen „Schornstein Rauch kommt“, wie eine tadschikische Redewendung sagt, wird er als volles Mitglied der Gemeinschaft anerkannt, nimmt teil an den Teehaustreffen, wird zu Hochzeiten eingeladen und ist ökonomisch für seine Familie verantwortlich. Bis dahin gibt es allerdings eine Reihe unterschiedlicher Domestizierungsstrategien. Diese werden in den unterschiedlichen Kapiteln diskutiert

Forschungsregion und Methoden

Diese Arbeit basiert auf einer einjährigen Feldforschung in Tadschikistan von 2006 bis 2007. Geographisch konzentriert sich diese Arbeit auf das östlich von Duschanbe liegende Qarotegin Tal und die darin liegenden Verwaltungsbezirke Rasht (Dorf: Shahrigul) und Jirgatol (Gemeinde: Lakhsh bzw. Dörfer Sasik Bulak und Sari Kenja). Dazu stammt ein Teil der Analyse von einem Stadtviertel (Nachbarschaftsgemeinde – mahalla) in Shahrituz. Diese Bewohner der Nachbarschaftsgemeinde wurden 1953 im Zuge der Massenumsiedlungen von einem Dorf in Jirgatol geschlossen nach Shahrituz zwangsumgesiedelt, um in den Baumwollplantagen zu arbeiten. Während des Bürgerkrieges flohen alle Bewohner dieser Nachbarschaftsgemeinde aus Shahritus ins nah gelegene Afghanistan bzw. zu Verwandten nach Lakhsh. Sie kamen ab 1995 zurück und bauen seitdem ihre Häuser, die während des Krieges zerstört worden waren, wieder auf. Zusätzlich sind Beobachtungen aus der Hauptstadt Duschanbe mit in die Arbeit eingeflossen. Duschanbe ist das Wirtschafts- und Bildungszentrum des Landes und zieht daher junge Menschen an. Hier wird die „Staat-Jugend-Beziehung“ am besten artikuliert.
 

Methodologisch habe ich mich vor allem der ethnologischen Methodenvielfalt bedient, unter anderem der teilnehmenden Beobachtung, der genealogischen Methode, Interviews und Gesprächen als zentrale Forschungsmethoden. Eine besondere Rolle fiel dabei der genealogischen Methode zu, die ich dazu verwendet habe, Lebensläufe zu rekonstruieren und zu standardisieren. Neben der Erfassung von Verwandtschaft über mehrere Generationen habe ich eine systematische Erhebung (census) einzelner Nachbarschaftsgemeinden durchgeführt, um demographische Daten zu erheben. Sie sind in die Arbeit als demographische Analyse eingeflossen. Der besondere Vorteil der ethnologischen Methoden liegt darin, dass der Forscher direkten Kontakt mit der Bevölkerung über einen langen Zeitraum unterhält und so über die diskursive Ebene hinaus Erkenntnisse über soziale Prozesse gewinnen kann. Dies ist besonders in der Konfliktforschung relevant, da häufig Konflikte rhetorisch dementiert werden, um ein harmonisches und kohärentes Bild der Gesellschaft nach außen hin zu zeichnen. Der Rhetorik unterliegt natürlich eine Absicht, die Realität zeigt sich jedoch häufig weitaus differenzierter. Dies gilt insbesondere für Jugendliche. Jugendliche wurden mir als „noch nicht fertige Menschen“ präsentiert, und daher waren sie nicht berechtigt, Aussagen über die Gesellschaft zu machen. Sie waren weder kulturell, noch sozial oder politisch „reif“. Während diese Ansichten „Domestizierungsstrategien“ in Tadschikistan widerspiegeln, verstehen sich junge Menschen durchaus als aktive Mitglieder der Gemeinschaft, engagieren sich sozial und vertreten politische Ansichten.

Überblick über die Arbeit

Die Arbeit beginnt mit einer Analyse der Literatur über Jugendliche mit Fokus auf Konfliktforschung (Kapitel 1). Das Konzept der Domestizierung setzt an dieser Diskussion an und verbindet Jugendforschung mit demographischen Ansätzen der Konfliktforschung. Auf dieser Grundlage ist die Arbeit in zwei Teile untergliedert. Im ersten geht es um gesamtgesellschaftliche Bezüge wie Geschichte, Demographie und Jugendkonzepte während im zweiten Teil einzelne Bereiche wie Verwandtschaft, Freundschaft, Religion, Migration, Heirat etc. untersucht werden. Im ersten Teil geht es mir darum, eine mögliche historische Entwicklung einer soziopolitischen Gruppe „Jugend“ nachzuvollziehen sowie die mikrodemographische Entwicklung der Forschungsorte darzustellen und die sehr unterschiedlichen Begriffe und Konzeptionen von Jugend in Tadschikistan zu diskutieren.

In Kapitel 2 werden unterschiedliche Zeitfenster in der Geschichte Zentralasiens geöffnet. Ich beginne mit Dokumenten aus dem 19. Jahrhundert, in denen junge Menschen vornehmlich in dualen Beziehungen (Lehrer-Schüler, Lehrling-Meister etc.) beschrieben werden. Dies scheint sowohl in handwerklichen Berufen zu gelten als auch in Schulen (maktab) und höheren Bildungseinrichtungen (madrasa). Mit der Bewegung der Reformer (Jadid) um die Jahrhundertwende (1900) scheint sich ein Bewusstsein für Bildung als programmorientiertes Lernen herauszubilden. Inspiriert durch Reformbewegungen im Osmanischen Reich werden Forderungen nach strukturierten Schulen stark. Bevor es allerdings zur Bildung einer eindeutigen Gruppe „Jugend“ kommt, unterbricht die Oktoberrevolution 1917 diese Prozesse. Eine wesentliche Unterstützung erfahren die Bolschewiken von den Studenten in Russland, die sie nach 15 Jahren Konkurrenz mit anderen revolutionären Gruppen endlich auf ihre Seite zu ziehen vermögen. Bald wird „Jugend“ zu einem festen Bestandteil der Sowjetpolitik durch die Organisation der Kommunistischen Jugendliga (Komsomol). Hiermit werden junge Menschen zu den Reformkräften schlechthin erklärt und ihnen wird eine Vorreiterrolle (vanguard) zugesprochen. Sie werden zur Basis des sozialistischen Regimes, das Zentralasien neu organisiert. Allerdings verliert die Komsomol-Organisation bald an reformerischer Attraktivität für die Mehrheit der jungen Menschen, als sie Mitte 1950 zu einer Massenorganisation aufsteigt und nunmehr streng durch die Partei kontrolliert wird. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verliert auch die Organisation Komsomol in Tadschikistan ihre Bedeutung und macht Platz für neue Ideologien. Unter anderem kommen diese neuen Ideologien von islamischen Bewegungen.

In einer historisch-demographischen Analyse in Kapitel 3 wird auf einer mikro-regionalen Ebene die demographische Entwicklung demonstriert und die demographischen Konsequenzen des Bürgerkrieges dargestellt. Ein konkretes Beispiel wird in Kapitel 10 aufgegriffen mit einer detaillierten Analyse des Alters bei erster Heirat. Während die Hochzeit einen wesentlichen Schritt innerhalb der Domestizierungsbemühungen darstellt, ist sie nicht der letzte Schritt im sozialen Reifungsprozess. Zwar wird mit der Heirat dem jungen Mann nahe gelegt, dass er nun Verantwortung trägt, allerdings wird sein Eheleben vornehmlich durch die Regeln in der Hausgemeinschaft strukturiert, und seine Frau ist primär Helferin seiner Mutter im Haushalt. Auch Kosten werden innerhalb der Familie geteilt, so dass viele junge Väter erst mit dem eigenen Haushalt realisieren, was es bedeutet, eine Familie zu unterhalten. Basierend auf einer statistischen Analyse des „Alters bei erster Heirat“ zeige ich, wie die Heirat ein umstrittenes Ereignis ist und im Bürgerkrieg der Kontrolle der Eltern, der Gemeinschaft und des Staates entglitt. Junge Männer nutzten das Machtvakuum, um Zugang zu Frauen zu erhalten, ohne den finanziellen Aufwand sowie den Zeitaufwand einer traditionellen Heiratsprozedur. Das Ergebnis war ein Sinken des Alters bei erster Heirat am Anfang des Krieges und dann stetiges Ansteigen des Alters bis hin zu Rekordhöhen in den letzten Jahren. Dies liegt einerseits daran, dass die Kontrolle der Heirat als Domestizierungsmittel wieder von den Eltern übernommen wurde, allerdings in eingeschränktem Maße, da junge Männer in der Regel selbst für die Kosten ihrer Hochzeit aufkommen müssen. Andererseits erfahren Russlandmigranten alternative Jugendkonzepte, in denen Zugang zu Frauen unabhängig von Heirat und Familie möglich ist. Diese alternativen Erfahrungen im Ausland verleiten viele junge Männer dazu, die Hochzeit mit einer Frau in Tadschikistan zu verschieben. Immer wieder berichten junge Männer, dass sie nur heiraten, um ihren Eltern eine Hilfe im Haushalt zu besorgen und dem Druck der Gemeinschaft nachzugeben. Die Heirat offenbart sich also als umstrittenes Ereignis und stellt einen zentralen Punkt in den Aushandlungsprozessen über Jugendkonzepte dar.

Die Diskussion über Konzeptualisierungen der Kategorie „Jugend“ zieht sich durch alle Kapitel und erweist sich als kontrovers und umstritten. Um aber Jugendliche als mögliche Risikoquelle zu analysieren, schlage ich vor, diese unterschiedlichen Konzepte und Kategorisierungen genauer zu untersuchen. Nur so wird ersichtlich wann, wo und wie junge Menschen nicht nur eine beträchtliche demographische Größe erreichen, sondern diese auch als politisches Mittel einzusetzen vermögen. Folgt man lokalen Konzeptualisierungen von Jugend, so umfassen diese möglicherweise weitaus mehr benachteiligte Menschen als eine biologische Definition das täte. Obendrein zeigen die emischen Qualitäten, die Jugend zugeschrieben werden, welche Handlungsoptionen für junge Menschen als denkbar gelten (z.B. wilde, militaristische Eigenschaften).

Beginnend mit Kapitel 4 wird Jugend als ein emischer Begriff in Bezug zu Arbeit gestellt. „Jung“ ist, wer volle physische Kraft hat und noch keine soziale, religiöse und politische Maturität erlangt hat. Während Jugend grundsätzlich als ein biologischer Übergangstatus gesehen wird, spielen die soziale und politische Stellung eine wichtige Rolle. Folglich kann Jugend durch soziale, politische und religiöse Domestizierung bezwungen werden. Dass Jugendliche aber nicht nur „natürlich wild“ sind, sondern auch Opfer institutioneller und autoritärer Interessen, zeigen die Beispiele in der Bürgerkriegsliteratur. In beiden Fällen jedoch bedürfen junge Menschen der lenkenden Hand der Erwachsenen.

Wie dies innerhalb der Verwandtschaft organisiert ist, wird in Kapitel 5 gezeigt. Entgegen der Interpretationen, die hervorheben, dass Eltern volle Autorität über ihre Kinder haben, argumentiere ich, dass Eltern einen ehrwürdigen, fast sakralen Status für ihre Kinder haben. Dies hat zur Folge, dass es per Definition keine Konflikte zwischen Kindern und ihren Eltern geben kann, auch wenn es immer wieder zu (heftigen) Auseinandersetzungen kommt. Daher dementieren sowohl Erwachsene als auch Kinder jede Art von Konflikt. Allerdings schließt es nicht aus, dass Kinder entweder über Vermittler (insbesondere der Schwägerin) oder durch konkrete Akte ihre gegenteiligen Ansichten mitteilen. Die performative oder rhetorische Hervorhebung einer positiven Eltern-Kind-Beziehung ist daher auf einer anderen Ebene angesiedelt als die realen alltäglichen Beziehungen, die konfliktträchtig sein können. Diese Diskussion zusammenfassend lässt sich sagen, dass Domestizierung innerhalb der Familie sehr stark strukturell ist, was besonders deutlich in der Brüderbeziehung zum Vorschein kommt (wie in Kapitel 8 gezeigt), aber in Übergansritualen ausgehandelt und durch ökonomische Veränderungen stark beeinflusst wird.

Der vielleicht wichtigste Schritt in der verwandtschaftlichen und gemeinschaftlichen Domestizierung ist der eigene Haushalt. Einhergehend mit einem von den Eltern getrennten Haushalt erlangt ein junger Mann nicht nur eine beträchtliche ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch einen Status innerhalb der Dorfgemeinschaft (Kapitel 6). Im lokalen Teehaus kann er ab diesem Zeitpunkt an den Teehausversammlungen, die in den Wintermonaten stattfinden, teilnehmen. Innerhalb des Teehauses wird durch die Sitzordnung sozialer Status als eine Folge der Altersstruktur sichtbar und internalisiert. Hierbei erhält ein junger gelernter Mullah den gleichen Status wie die Dorfältesten. Er erlangt also sofort den höchsten Status innerhalb der Dorfgemeinschaft, während alle anderen dem Senioritätsprinzip folgend mit dem Alter an Status gewinnen. Im Teehaus wird die Alterstruktur als gesellschaftliches Ordnungsprinzip ständig wieder bekräftigt und gelebt.

Der hierarchischen Altersorganisation stehen die Freundschaftsbeziehungen entgegen (Kapitel 9). In der Gemeinschaft in Lakhsh und allgemein in Tadschikistan werden unterschiedliche Formen von Freundschaft gepflegt, die verschiedene Bedürfnisse befriedigen. Es gibt duale Freundschaften, die auf gegenseitige Achtung und Pflege basieren, Freundschaften, deren Nutzen im Jenseits liegen und polyadische Freundschaften. Letztere sind zentral für junge Männer, da sie hier ein Solidaritätsnetwerk aufbauen, das andere Kategorien quer durchzieht (z.B. Verwandtschaft, Ethnische).

Von Seiten des Staates werden junge Menschen als eine zu domestizierende soziale Gruppe gesehen (Kapitel 7). Ins Zentrum der Diskussion habe ich ein Ereignis gestellt, das während meines Aufenthaltes geschah. Zu den Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstags wurde der Bevölkerung ein kostenloses Konzert versprochen. Das eigentliche Konzert wurde nach den ersten Vorbands zur Empörung der Zuschauer auf den nächsten Tag verschoben. Korrupte Polizisten und die Verschiebung des Konzerts brachten die jungen Menschen, die von überall her gekommen waren, außer sich. Sie verstanden es als politische Provokation und zogen randalierend durch die Straßen. Zeitungsberichte und Diskussionen innerhalb der Bevölkerung von Duschanbe zeigen, dass hier, genauso wie während des Bürgerkrieges und vieler anderer Ereignisse, junge Männer als wild und unerzogen verstanden wurden. Ihre politischen Forderungen wurden kriminalisiert, und man sprach über die wilde unreife rurale Jugend, die es zu kontrollieren – und zu domestizieren – gelte. Das Ereignis zeigte aber auch, dass junge Menschen mehr als eine passive demographische Größe sind und leicht zu einem politischen Faktor werden können. Es reichte ein kleiner Anlass, um die jungen Menschen in Bewegung zu bringen und unter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen. Als ungeplante Aktion wurde die „Revolte“ sofort auseinandergeschlagen, allerdings ist die Botschaft durchaus in Erinnerung geblieben.

Problematisch ist die biologisch definierte youth bulge These, wie sie von Heinsohn (2006) vertreten wird, die davon ausgeht, dass Geschwister Rivalen sind. Gemäß Heinsohn, haben Väter in youth bulge Gesellschaften mehr Söhne, als sie mit ausreichendem Erbe versehen könnten. Daher suchen „überschüssige“ Söhne nach Anerkennung und Erfolg in expansionistischen Unternehmungen (z.B. Kolonien, Eroberungen). Diese zunächst interessante These wird dann heikel, wenn sie generalisierend Kinderreichtum zur Gefahrenquelle deklariert. So zeigen die Studien in Tadschikistan, dass Geschwister als feste Einheit verstanden werden und Familien als Unternehmen funktionieren. Eltern und Geschwister verfolgen hier eine Diversifizierungsstragie, um die soziale Sicherheit zu maximieren, d.h. es werden Söhne in unterschiedlichen Bereichen platziert, um jemand „Studiertes“ in der Familie zu haben sowie einen „religiösen Spezialisten“ und einen oder mehrere Söhne, die in Russland „Geld erwirtschaften“.

Migration ist eine Erfahrung, die zur sozialen Reife beiträgt und aus einem Jungen einen Mann macht (Kapitel 11). Dieser Statuszuwachs ist möglich durch die Trennung beider Welten auf diskursiver Ebene. Während also ein junger Mann in Russland alternative Jugendkonzepte erfährt, die Freiheit und Unabhängigkeit suggerieren (inwiefern diese gelebt werden, war nicht Teil der Untersuchung), erfährt er, zurück in seinem Dorf, die Behandlung, die einem Erwachsenen entgegengebracht wird weitaus früher als ein junger Mann, der im Dorf geblieben ist. Allerdings ist der Statuszuwachs auch abhängig vom finanziellen Erfolg. So hat die Wirtschaftskrise 2008 dazu geführt, dass tausende junge Männer erfolglos zurückkehren mussten und wieder als „wild“ und „unerzogen“ bezeichnet werden, wenn sie sich z.B. mit Straßenschlachten in Duschanbe die Zeit vertreiben. Migration wird als eine Möglichkeit gesehen, bei der junge Menschen durch Trennung von der Familie und harte physische Arbeit domestiziert werden. Sie ist auch gleichzeitig ein zentrales Ventil für junge Männer im Heiratsalter innerhalb des Dorfes. In anderen Worten, die jungen Menschen, die zu einem demographischen Unruhefaktor werden könnten, werden aus dem Dorf geschickt, um als reifere Menschen zurückzukehren.

Eine andere Möglichkeit zur Erlangung eines erwachsenen Status bietet der Islam (Kapitel 12). Neben den lokalen Formen der religiösen Praxis haben sich in den letzten zwei Dekaden neue Strömungen verbreitet, die lokale Vorstellungen ergänzen oder diesen gegenüberstehen. Während die neuen Strömungen jungen Menschen eine zentrale Stellung beimessen, ist die Ansicht, dass Religiosität mit dem Alter kommt, immer noch weit verbreitet. Im Islam wird Reife früher erreicht (etwa mit dem 12. Lebensjahr bei Jungen und mit dem 9. bei Mädchen). Damit einhergehend fordern neue Bewegungen junge Menschen zu verantwortungsbewusstem und politischem Handeln auf. Das Jüngste Gericht ist nicht mehr ein Ereignis in weiter Ferne, sondern Gottes Strafe kann überall und jederzeit treffen und verlangt daher eine aktive Auseinandersetzung mit Religion in jungen Jahren – so warnen eine Reihe islamistischer Videos. Viele junge Menschen entdecken den Koran für sich neu als eine Alternative zu den unübersichtlichen, korrupten, staatlichen Gesetzen und sehen im Islam die Lösung für ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme.

Während also neue islamische Bewegungen von jungen Menschen verantwortungsbewusstes Handeln fordern, wird das Bild des „neuen Muslims“ parallel zum ewigen (Jugend-)Status im Paradies konstruiert. Ein guter Muslim setzt seine Kapazitäten im Sinne des Islams ein (hier unterscheiden sich die Ansichten darüber wie der „reine“ Islam im Konkreten auszusehen hat), und dies impliziert Aktionismus und wird mit einem Jugendstatus ähnlich wie er von benachteiligten Jugendlichen in dieser Welt erträumt wird, im Paradies belohnt.

Im Fazit kann gesagt werden, dass Jugendliche sowohl Ursache als auch Ergebnis von Konflikten sind. Jugendliche können also Auslöser von Konflikten sein, dadurch dass Domestizierung abgelehnt und entgegengewirkt wird, und sie sind ein Ergebnis struktureller und autoritärer Domestizierungsprozessen. Jugend ist nicht eine biologische Größe, sondern eine soziale, kulturelle und politische Größe. Diese ist umso größer, je geringer die Ressourcen sind, und kehrt sich um, wenn Jugend selbst zum Vermarktungsfaktor wird. Das tadschikische Beispiel hat gezeigt, dass Jugendkonzepte entwickelt und mit jungen Menschen ausgehandelt werden müssen, damit diese sie akzeptieren. Vorreiter (vanguard) Konzepte sind attraktiv für junge Menschen, solange der Elitestatus besteht, und verlieren ihre Bedeutung, wenn sie zu Massenorganisationen werden. Damit ist Jugend nicht als biologische Kategorie ein Risikofaktor, vielmehr gibt es einzelne Gruppen von jungen Menschen, die sich im Namen einer benachteiligten sozialen, kulturellen und demographischen Gruppe politisch einsetzen und zur Risikoquelle werden können.

„Jugend“ bedeutet sowohl einer sozialen, kulturellen oder politischen Kategorie zugeschrieben zu werden als auch die Internalisierung von Werten, die Jugend zugeschrieben werden, um individuelle Interessen oder Gruppeninteressen zu verfolgen. Jugend im tadschikischen Kontext ist eng mit Vorstellungen von Arbeit verbunden. Daher wird Arbeitslosigkeit weniger als Problem fehlender Arbeit aufgefasst, sondern als fehlende Möglichkeit, Status zu erlangen. Daraus folgt, dass „Jugend“ verlassen und wiedererlangt werden kann je nach Situation und sozialem Status.

Im Zusammenhang mit der Frage nach Gruppengröße komme ich zu der Schlussfolgerung, dass „Jugend“ eine variable Größe ist, die dann zum Risikofaktor werden kann, wenn politische Konzepte zur Restrukturierung der Jugendlichen erfolgreich sind, wenn lokale Vorstellungen Jugendlichen die Aufgabe zuweisen, Gewalt anzuwenden (z.B. Militär oder Ehrkodex) und die Verwendung von Gewalt nur bedingt kontrollierbar ist, und wenn ein soziokulturelles Jugendkonzept, das eine vanguard Identität verspricht, zum Massenkonzept geworden ist und durch alternative ideologische Konzepte herausgefordert wird. In diesem Sinne ist das youth bulge Konzept in der Ethnologie sinnvoll, wenn es auf soziale, kulturelle, politische und demographische Größen bezogen wird und diese Größen in Beziehung zu einzelnen vanguard-Gruppen gesetzt werden, die im Namen einer sozialen, kulturellen oder politischen Kategorie agieren.


[1] Der Begriff „youth bulge“ stammt von einer demographischen Sicht auf Bevölkerung und meint eine Bevölkerung mit einem hohen Anteil Jugendlicher. Welches Alter dabei „Jugendliche“ einschließt, variiert je nach Autor zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr. Während der Begriff an und für sich nur auf ein demographisches Phänomen hinweist, wird er in der Regel gebraucht, um Jugend als destabilisierender Risikofaktor zu beschreiben.

[2] Solange Mädchen studieren, werden sie seitens der Politik unter dem kollektiven Begriff "javonon" (Jugendliche) miteinbezogen.

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