Dissertation Thesis

Markus Rudolf
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Das erste Kapitel stellt die Geschichte der Casamance und des Konfliktes vor. Dabei werden die sozialen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und geographischen Gegebenheiten der Region erläutert, aufgrund derer die Casamance innerhalb Senegals eine Sonderstellung innehat. An der Peripherie der jeweiligen Entitäten gelegen, war die Region der historische Schnittpunkt unterschiedlicher religiöser und politischer Gesellschaftsprojekte. Der Konflikt steht in Zusammenhang mit diesen Rahmenbedingungen und lässt sich nur unter Berücksichtigung aller politischen, wirtschaftlichen, geographischen, und sozialstrukturellen Faktoren verstehen. Außerdem zeigt ein Vergleich mit Fallbeispielen aus Konflikten in Nachbarländern interessante Abweichungen in Bezug auf Dauer, Gewaltqualität und Gewaltausmaß des Konflikts auf. Diese Abweichungen werfen Fragen bezüglich allgemeiner aktueller Konflikttheorien und deren Schlüssigkeit auf. Das Fallbeispiel des Casamancekonfliktes bietet ideale Bedingungen, diesen Fragen nachzugehen.

Doch vorab werden die theoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Untersuchung geklärt (Kapitel 2). Das sozial-anthropologische Vorgehen ist durch den wissenschaftlichen Diskurs, die Person des Forschers und praktische Grenzen im Feld beschränkt. Eine sozialwissenschaftliche Analyse kann keinen Zugang zu objektiven Fakten jenseits der sozialen Repräsentationen dieser Fakten bieten. Deswegen werden die den Handlungen zugrunde liegenden Rationalitäten der Akteure empirisch erforscht. Die Darstellung der Handlungsoptionen in dieser Arbeit ist in zweierlei Hinsicht stark von einem globalisierten Modell moderner Rationalität beeinflusst: einerseits müssen sich die Akteure selbst innerhalb dieses Modells positionieren, andererseits wird der Forscher von den Akteuren als Vertreter einer diesem Modell zugrundeliegenden Denkweise eingestuft. Dies führt zu praktischen Einschränkungen der erforschbaren sozialen Realität, die sich mit der Position des Forschers (wirtschaftlich, juristisch, politisch) noch verstärken.

Die Untersuchungsergebnisse müssen deshalb trotz methodischer Vorkehrungen gegen Verzerrungen - etwa durch Kreuzperspektive, Schneeballprinzip, Langzeitanalysen, wiederholter Tiefeninterviews, Überprüfung der Ergebnisse durch teilnehmende Beobachtung, beziehungsweise Diversifizierung der Untersuchungen durch unabhängige Assistenten - immer vor dem Hintergrund der Einschränkungen gesehen werden, die unausweichlich mit der Person des Autoren, seines Alters, Geschlechtes, Herkunft und weiteren Vorprägungen verbunden sind.

Um die Frage zu klären wie sich die Systeme verselbstständigen und die Lebenswelt der Akteure kolonialisieren konnten, bedarf es einer Analyse der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit auf Seiten der Akteure. Darauf aufbauend werden die Handlungsoptionen deutlich, die einerseits Systeme bedingen und andererseits durch diese bedingt werden. Die Frage wie sich Systeme bilden und entwickeln wird dabei aus einer evolutionstheoretischen Perspektive anhand einer Pfadanalyse beleuchtet. Aus diesem Blickwinkel treten Faktoren wie Zufall, Varianz und Selektion durch Umwelteinflüsse in den Vordergrund. Das heißt, Systeme werden als von den Intentionen der Träger unabhänge, operativ geschlossene, autarke Gebilde erfassbar, deren Ausformung nichtsdestotrotz durch Rückkoppelungsschleifen Umwelteinflüssen (z.B. durch andere Systeme) unterworfen sind. Theoretisch versucht die Untersuchung also erstens den beschriebenen Gewaltmarkt als selbstreferentielles System (Systemtheorie Luhmanns) zu begreifen; und zweitens versucht die Arbeit die Möglichkeit verselbstständigte Handlungssysteme wieder in die Lebenswelt der Akteure einzuholen anband der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) zu bewerten. Dabei wird postuliert, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in einem idealtypischen (nach Habermas machtfreien) Dialog das bestehende Gewaltmarkt System als suboptimal bewerten und ändern würde.

Dazu werden die lokalen Kategorisierungskriterien und –mechanismen sozialanthropologisch untersucht, die einer Differenzierung sozialer Gruppen vorangestellt sind (Kapitel 3). Die Gruppenidentifikationen und -Abgrenzungsmechanismen, sowie die unterschiedlichen Identifikationsgrenzen und -merkmale sind prinzipiell vor allem kontext- und situationsspezifisch und damit flexibel (vgl. Schlee 2010). Im Prozess der Nationenbildung wird ein bestimmtes Schema der Identifikation und eine bestimmte Wertigkeit von Identifikationen durchzusetzen versucht, die diese Flexibilität allerdings zunehmend einschränken. Die Untersuchung zeigt, wie sich der senegalesische Staat politisch und wirtschaftlich an von modernen westlichen Staaten vorgegebenen Modellen orientiert. Allerdings gelingt es dem Staat nicht die nationale Identität über die anderen Identitäten zu stellen. Das heißt die Loyalität des Einzelnen gegenüber dem Staat ist oft durch konkurrierende Ansprüche in Frage gestellt. Unterschiedliche Gruppen bestehen gegenüber dem Staat auf ihrer Souveränität und stehen damit im Widerspruch zu dem von diesem propagierten Modell. Das heißt, es gelingt dem senegalesischen Staat im Endeffekt nicht alle Bürger gleichermaßen zu integrieren und den Prozess der Nationenbildung voranzutreiben.

Dieses Problem zeigt sich konkret in der Auseinandersetzung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und der Staatsmacht (Kapitel 4). Anhand der Analyse der Identifikationsmechanismen lässt sich zeigen, wo die Konfliktlinien verlaufen, aus welchen sozialen Gruppen sich die Rebellen rekrutieren, und in welchem Verhältnis die Zivilbevölkerung zur Rebellion steht. Historisch lässt sich aufzeigen, wie die Integration der Casamance in den Senegal auf vielen Ebenen einen Sonderweg nahm. Auf diese Umstände bezog sich ein Diskurs der Eigenständigkeit, der auf Grund der mangelnden Integration und subjektiv erlebter Ausgrenzung an Bedeutung erwuchs. Die erlebte Diskriminierung homogenisierte die Bewohner der Casamance und führte zur Ausformung einer Casamançais-Identität; die wiederum vom Staat als Angriff auf die nationale Einheit aufgefasst und verfolgt wurde. Dadurch schloss sich der Kreis. Die subjektive Erfahrung wurde in einem Bürgerkrieg zur institutionalisierten Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe. Die für den Senegal außergewöhnlich hohe kulturelle Vielfalt, d.h. die soziale, sprachliche, politische und religiöse Diversität der Casamance wurde durch trotzdem bestehende Gemeinsamkeiten der einzelnen Gruppierungen überlagert.

Diese Gemeinsamkeiten sind soziostruktureller, politischer, wirtschaftlicher, geschichtlicher, und kultureller Art (Kapitel 5). Vielen Gruppen in der Casamance ist eine flache soziale Hierarchie und eine weitgehende Autonomie einzelner Gruppen gemeinsam. Diese sind politisch nur lose verknüpft, oft sind sie sich feindschaftlich verbunden. Eine anerkannte Zentralgewalt ist selten, die lokal soziale Ordnung stand und steht vielmehr früher und heute im Gegensatz zu zentral ausgerichteten Staatsformen. Die Wirtschaftsformen sind dieser sozialen Struktur angepasst, bzw. geschuldet. Autonome landwirtschaftliche Familieneinheiten bewirtschaften gemeinsam diese Familieneinheiten konstituierenden Flächen in verstreuten Siedlungen. Historisch wurden diese Besonderheiten durch einen Zustand erhöhter Unsicherheit durch Raub- und Eroberungszüge dieser peripheren Region geformt und verstärkt. Diese Gemeinsamkeiten manifestieren sich sichtbar in zahlreichen lokal als traditionell bezeichneten Aktivitäten, deren Zahl, Qualität und Relevanz als offensichtliches Zeichen der Casamançais-Identität erlebt und benannt wird.

Das bekannteste Beispiel einer solchen Aktivität ist das Initiationsfest der Diola. Die Diola werden als Hauptinitiatoren und Träger der Unabhängigkeitsbewegung gesehen und als solche oftmals von staatlicher Seite diskriminiert. Das einst von Ethnologen als dem Untergang geweihte Tradition bezeichnete Bukutfest ist alles andere als ausgestorben. Es stellt heute für Senegalesen eines der wichtigsten Identitätsmerkmale der Diola. Die Diola selbst sehen sich durch dieses und andere Traditionen bestimmt und abgegrenzt. De facto stehen viele Merkmale, die im Bukutfest als typisch für Diola dargestellt und vermittelt werden in Zusammenhang mit Art und Ausmaß des Konfliktes. Verbundenheitsgefühl, und eine daraus folgende Solidarität untereinander, die Konditionierung der Mitglieder auf Wehrhaftigkeit, Verschwiegenheit und Zusammenhalt bei äußerer Bedrohung, sowie die Rolle der Geheimgesellschaft bei den Mechanismen der Mobilisierung, der Umsetzung des Widerstandes und der konkreten Organisation der Männer, die Rolle der Frauen, Ältesten, und spirituellen Kräfte beim Kampf sind sowohl für die Initiationsgemeinschaft, wie für die MFDC charakteristisch.

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