Dissertation Thesis

Markus Rudolf
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
16.12.2013

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Jacqueline Knörr

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

Senegal ist vor allem als Musterdemokratie Westafrikas berühmt. Die Tatsache, dass seit dreißig Jahren im Süden des Landes ein Konflikt stattfindet ist dagegen weitgehend unbekannt. Dabei ist der Konflikt um die Unabhängigkeit der Casamance inzwischen zum am längsten anhaltenden bewaffneten Konflikt Afrikas aufgestiegen. Die MFDC (Mouvement des Forces Démocratiques de la Casamance) auf der einen Seite kämpft einen Guerillakrieg niederer Intensität gegen die senegalesische Armee auf der anderen Seite. Die MFDC fordert aus historischen, sozio-kulturellen, wirtschaftlichen, und politischen Gründen eine Sezession der Casamance. Der senegalesische Zentralstaat wiederum lehnt jede Art von Unabhängigkeitsanspruch ab; er pocht auf die nationale Integrität und wirft den Rebellen vor die ethnische Vielfalt Senegals zu bedrohen. Die Zivilbevölkerung findet sich dabei zwischen Minenfeldern und Schützengräben in einem Dauerzustand von Unsicherheit wieder. Der Konflikt strahlt außerdem in die Nachbarländer Gambia und Guinea-Bissau aus und wiederkehrende Flüchtlingsströme ergießen sich über die Grenzen.

Alle Bemühungen, den Konflikt beizulegen, scheiterten bisher. Die Gewalt brandet ganz im Gegenteil regelmäßig wieder auf. Zudem zersplittert sich die MFDC zunehmend. Diese Situation wird lokal als ‘ni guerre ni paix’ (weder Krieg noch Frieden) bezeichnet. Die Arbeit versucht die Frage nach den Ursachen und Bedingungen sowohl der Dauer des Konflikts als auch des Scheitern aller Friedensbemühungen zu klären. Die Analyse zeigt, dass eine Vielzahl von sich wechselseitig verstärkenden Faktoren zu einem System von Gewalt und Friedensvermittlung geführt hat, in dem sich die Systemelemente gegenseitig bedingen und stabilisieren. Dieser stabile Gewaltmarkt hat sich verselbstständigt und kolonialisiert die unmittelbaren Handlungszusammenhänge der Akteure.

Die vorliegende Arbeit analysiert die Frage von Konflikt und Integration in dieser Situation. Wie und warum etabliert sich ein solcher Zustand in der Schwebe zwischen Krieg und Frieden? Welche lokalen Mechanismen der Konfliktbewältigung lassen sich trotz zahlreicher gescheiterter Bemühungen beobachten? Die Analyse zeichnet das Bild von Akteuren - Soldaten, Rebellen, Zivilisten, ebenso wie Politiker, und Mediatoren – die in einem Teufelskreis gefangenen sind. Um diesen vielschichtigen Teufelskreis zu entflechten werden die daran beteiligten Gruppen, die wiederauftretenden Feindseligkeiten, deren Ursachen und Erscheinungsformen analysiert, sowie die gescheiterten Friedensvermittlungen untersucht. Es ist festzustellen, dass es den Akteuren trotz des Scheiterns offizieller Friedensverhandlungen gelingt, zu einem gewissen Ausmaß einen inoffiziellen Verhandlungsspielraum zu erhalten. Denn die Tatsache, dass die Gewalt auf einem niedrigen Niveau verharrt, wird auf existierende aber unauffällige Mediationsmechanismen zurückgeführt.

Durch diese Mediationsmechanismen gelingt es der Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit Opfer von Gewalt zu werden zu mindern. Aufgrund der azephalen Struktur dieser traditionellen Mediationsmechanismen ist aber deren Reichweite und Verbindlichkeit weitgehend beschränkt. Den zivilen Akteuren ist es zwar möglich einen gewissen Gleichgewichtszustand zwischen Krieg und Frieden zu erhalten, nicht aber den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen. Sowohl das Beharren auf Gewalt, wie auch wiederholte Vermittlungsbemühungen sind Ausdruck rationaler Verhaltensweisen, die den Akteuren zur Erreichung ihrer Ziele dienen. Dabei sind beide Verhaltensweisen nicht widersprüchlich, vielmehr fördern sie sich gegenseitig. Gewaltakteure und Friedensvermittler sichern sich gegenseitig ihr wirtschaftliches Auskommen. Ein Gewaltmarkt ‘market of violence’ bedingt und ergänzt einen Friedensmarkt ‘market of peace’, der lokal als ‘marché de la paix’ bezeichnet wird - und umgekehrt.

Die Untersuchung zeigt, wie nicht nur Gewalt an sich, sondern ebenso das Androhen derselben, oder auch eine unterlassene gewaltsame Handlung, als Mittel zur Ressourcengewinnung genutzt werden kann. Dabei zeigt die Analyse, dass sich der Mehrwert eines solchen Gewaltmarktes vor allem in der Beziehung bestimmter Gruppen zum Nationalstaat bestimmt. Um diese komplexe Situation zu verstehen nimmt die Analyse Gruppenidentifikationsprozesse, Gruppenabgrenzungslinien, Konfigurationen des Konfliktes, und Mechanismen der Vermittlung (Mediation) ins Visier. In den Jahren 2007-2009 wurde die Forschung in insgesamt ca. 18 Monaten im Senegal, Gambia, und Guinea­ Bissau durchgeführt. In einer multilokalen und transnationalen Vorgehensweise wurden vor allem die sogenannte ‘Basse Casamance’, die heutige ‘Region Ziguinchor’ und angrenzende Regionen in den Nachbarländern untersucht.

Die Forschungsfragen, anhand derer die angeführte Problematik erörtert werden, sind dabei folgende: 1) Welche Mechanismen der Exklusion und Inklusion lassen sich bei sozialen Gruppen während des Konfliktes beobachten? 2) Welche Mechanismen der Vermittlung (Mediation) und der Konfliktbewältigung (Management) gibt es? Diese Fragen sind eingebettet in die weitergehenden Bemühungen das Verhältnis zwischen Integration und Konflikt zu verstehen. Die Forschung zielt im Besonderen darauf ab einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über Agency und Struktur zu leisten. Diese Debatte dreht sich um die Frage inwieweit die soziale Wirklichkeit ein Produkt freier Entscheidungen sozialer Akteure ist oder inwieweit ein Produkt selbstreferentieller interdependenter Systeme. Dabei wird die Behauptung in Frage gestellt, dass die Systemperspektive und die Akteurperspektive sich gegenseitig ausschließen.

Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass Luhmanns Idee autopoetischer Systeme und Habermas Theorie des kommunikativen Handelns verbunden werden können. Eine solche Kombination beider Theorien bietet den theoretischen Rahmen für die empirische Untersuchung der Frage, inwieweit dreißig Jahre Krieg in der Casamance das Ergebnis – von Systemzwängen, oder Akteurentscheidungen sind - beziehungsweise in welchem Verhältnis beide Faktoren zueinander stehen. Die empirische Untersuchung beider Faktoren lässt zudem Rückschlüsse darüber zu, ob sich die oftmals unversöhnlich gegenüberstehenden Theorien nicht doch gegenseitig ergänzen - und ob nicht ein kombiniertes Modell der sozialen Wirklichkeit zum besseren Verständnis der Dialektik zwischen Struktur und Akteur vonnöten ist.

Das erste Kapitel stellt die Geschichte der Casamance und des Konfliktes vor. Dabei werden die sozialen, religiösen, wirtschaftlichen, politischen und geographischen Gegebenheiten der Region erläutert, aufgrund derer die Casamance innerhalb Senegals eine Sonderstellung innehat. An der Peripherie der jeweiligen Entitäten gelegen, war die Region der historische Schnittpunkt unterschiedlicher religiöser und politischer Gesellschaftsprojekte. Der Konflikt steht in Zusammenhang mit diesen Rahmenbedingungen und lässt sich nur unter Berücksichtigung aller politischen, wirtschaftlichen, geographischen, und sozialstrukturellen Faktoren verstehen. Außerdem zeigt ein Vergleich mit Fallbeispielen aus Konflikten in Nachbarländern interessante Abweichungen in Bezug auf Dauer, Gewaltqualität und Gewaltausmaß des Konflikts auf. Diese Abweichungen werfen Fragen bezüglich allgemeiner aktueller Konflikttheorien und deren Schlüssigkeit auf. Das Fallbeispiel des Casamancekonfliktes bietet ideale Bedingungen, diesen Fragen nachzugehen.

Doch vorab werden die theoretischen und methodologischen Voraussetzungen der Untersuchung geklärt (Kapitel 2). Das sozial-anthropologische Vorgehen ist durch den wissenschaftlichen Diskurs, die Person des Forschers und praktische Grenzen im Feld beschränkt. Eine sozialwissenschaftliche Analyse kann keinen Zugang zu objektiven Fakten jenseits der sozialen Repräsentationen dieser Fakten bieten. Deswegen werden die den Handlungen zugrunde liegenden Rationalitäten der Akteure empirisch erforscht. Die Darstellung der Handlungsoptionen in dieser Arbeit ist in zweierlei Hinsicht stark von einem globalisierten Modell moderner Rationalität beeinflusst: einerseits müssen sich die Akteure selbst innerhalb dieses Modells positionieren, andererseits wird der Forscher von den Akteuren als Vertreter einer diesem Modell zugrundeliegenden Denkweise eingestuft. Dies führt zu praktischen Einschränkungen der erforschbaren sozialen Realität, die sich mit der Position des Forschers (wirtschaftlich, juristisch, politisch) noch verstärken.

Die Untersuchungsergebnisse müssen deshalb trotz methodischer Vorkehrungen gegen Verzerrungen - etwa durch Kreuzperspektive, Schneeballprinzip, Langzeitanalysen, wiederholter Tiefeninterviews, Überprüfung der Ergebnisse durch teilnehmende Beobachtung, beziehungsweise Diversifizierung der Untersuchungen durch unabhängige Assistenten - immer vor dem Hintergrund der Einschränkungen gesehen werden, die unausweichlich mit der Person des Autoren, seines Alters, Geschlechtes, Herkunft und weiteren Vorprägungen verbunden sind.

Um die Frage zu klären wie sich die Systeme verselbstständigen und die Lebenswelt der Akteure kolonialisieren konnten, bedarf es einer Analyse der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit auf Seiten der Akteure. Darauf aufbauend werden die Handlungsoptionen deutlich, die einerseits Systeme bedingen und andererseits durch diese bedingt werden. Die Frage wie sich Systeme bilden und entwickeln wird dabei aus einer evolutionstheoretischen Perspektive anhand einer Pfadanalyse beleuchtet. Aus diesem Blickwinkel treten Faktoren wie Zufall, Varianz und Selektion durch Umwelteinflüsse in den Vordergrund. Das heißt, Systeme werden als von den Intentionen der Träger unabhänge, operativ geschlossene, autarke Gebilde erfassbar, deren Ausformung nichtsdestotrotz durch Rückkoppelungsschleifen Umwelteinflüssen (z.B. durch andere Systeme) unterworfen sind. Theoretisch versucht die Untersuchung also erstens den beschriebenen Gewaltmarkt als selbstreferentielles System (Systemtheorie Luhmanns) zu begreifen; und zweitens versucht die Arbeit die Möglichkeit verselbstständigte Handlungssysteme wieder in die Lebenswelt der Akteure einzuholen anband der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) zu bewerten. Dabei wird postuliert, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in einem idealtypischen (nach Habermas machtfreien) Dialog das bestehende Gewaltmarkt System als suboptimal bewerten und ändern würde.

Dazu werden die lokalen Kategorisierungskriterien und –mechanismen sozialanthropologisch untersucht, die einer Differenzierung sozialer Gruppen vorangestellt sind (Kapitel 3). Die Gruppenidentifikationen und -Abgrenzungsmechanismen, sowie die unterschiedlichen Identifikationsgrenzen und -merkmale sind prinzipiell vor allem kontext- und situationsspezifisch und damit flexibel (vgl. Schlee 2010). Im Prozess der Nationenbildung wird ein bestimmtes Schema der Identifikation und eine bestimmte Wertigkeit von Identifikationen durchzusetzen versucht, die diese Flexibilität allerdings zunehmend einschränken. Die Untersuchung zeigt, wie sich der senegalesische Staat politisch und wirtschaftlich an von modernen westlichen Staaten vorgegebenen Modellen orientiert. Allerdings gelingt es dem Staat nicht die nationale Identität über die anderen Identitäten zu stellen. Das heißt die Loyalität des Einzelnen gegenüber dem Staat ist oft durch konkurrierende Ansprüche in Frage gestellt. Unterschiedliche Gruppen bestehen gegenüber dem Staat auf ihrer Souveränität und stehen damit im Widerspruch zu dem von diesem propagierten Modell. Das heißt, es gelingt dem senegalesischen Staat im Endeffekt nicht alle Bürger gleichermaßen zu integrieren und den Prozess der Nationenbildung voranzutreiben.

Dieses Problem zeigt sich konkret in der Auseinandersetzung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und der Staatsmacht (Kapitel 4). Anhand der Analyse der Identifikationsmechanismen lässt sich zeigen, wo die Konfliktlinien verlaufen, aus welchen sozialen Gruppen sich die Rebellen rekrutieren, und in welchem Verhältnis die Zivilbevölkerung zur Rebellion steht. Historisch lässt sich aufzeigen, wie die Integration der Casamance in den Senegal auf vielen Ebenen einen Sonderweg nahm. Auf diese Umstände bezog sich ein Diskurs der Eigenständigkeit, der auf Grund der mangelnden Integration und subjektiv erlebter Ausgrenzung an Bedeutung erwuchs. Die erlebte Diskriminierung homogenisierte die Bewohner der Casamance und führte zur Ausformung einer Casamançais-Identität; die wiederum vom Staat als Angriff auf die nationale Einheit aufgefasst und verfolgt wurde. Dadurch schloss sich der Kreis. Die subjektive Erfahrung wurde in einem Bürgerkrieg zur institutionalisierten Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe. Die für den Senegal außergewöhnlich hohe kulturelle Vielfalt, d.h. die soziale, sprachliche, politische und religiöse Diversität der Casamance wurde durch trotzdem bestehende Gemeinsamkeiten der einzelnen Gruppierungen überlagert.

Diese Gemeinsamkeiten sind soziostruktureller, politischer, wirtschaftlicher, geschichtlicher, und kultureller Art (Kapitel 5). Vielen Gruppen in der Casamance ist eine flache soziale Hierarchie und eine weitgehende Autonomie einzelner Gruppen gemeinsam. Diese sind politisch nur lose verknüpft, oft sind sie sich feindschaftlich verbunden. Eine anerkannte Zentralgewalt ist selten, die lokal soziale Ordnung stand und steht vielmehr früher und heute im Gegensatz zu zentral ausgerichteten Staatsformen. Die Wirtschaftsformen sind dieser sozialen Struktur angepasst, bzw. geschuldet. Autonome landwirtschaftliche Familieneinheiten bewirtschaften gemeinsam diese Familieneinheiten konstituierenden Flächen in verstreuten Siedlungen. Historisch wurden diese Besonderheiten durch einen Zustand erhöhter Unsicherheit durch Raub- und Eroberungszüge dieser peripheren Region geformt und verstärkt. Diese Gemeinsamkeiten manifestieren sich sichtbar in zahlreichen lokal als traditionell bezeichneten Aktivitäten, deren Zahl, Qualität und Relevanz als offensichtliches Zeichen der Casamançais-Identität erlebt und benannt wird.

Das bekannteste Beispiel einer solchen Aktivität ist das Initiationsfest der Diola. Die Diola werden als Hauptinitiatoren und Träger der Unabhängigkeitsbewegung gesehen und als solche oftmals von staatlicher Seite diskriminiert. Das einst von Ethnologen als dem Untergang geweihte Tradition bezeichnete Bukutfest ist alles andere als ausgestorben. Es stellt heute für Senegalesen eines der wichtigsten Identitätsmerkmale der Diola. Die Diola selbst sehen sich durch dieses und andere Traditionen bestimmt und abgegrenzt. De facto stehen viele Merkmale, die im Bukutfest als typisch für Diola dargestellt und vermittelt werden in Zusammenhang mit Art und Ausmaß des Konfliktes. Verbundenheitsgefühl, und eine daraus folgende Solidarität untereinander, die Konditionierung der Mitglieder auf Wehrhaftigkeit, Verschwiegenheit und Zusammenhalt bei äußerer Bedrohung, sowie die Rolle der Geheimgesellschaft bei den Mechanismen der Mobilisierung, der Umsetzung des Widerstandes und der konkreten Organisation der Männer, die Rolle der Frauen, Ältesten, und spirituellen Kräfte beim Kampf sind sowohl für die Initiationsgemeinschaft, wie für die MFDC charakteristisch.

Auch die Dauer des Konfliktes und die Qualität der Friedensbemühungen lassen sich mit den spezifisch lokalen sozio-strukturellen Gegebenheiten in Verbindung setzen (Kapitel 6). In der dezentralen, heterarchischen (nebeneinander statt übereinander geordnet) Gesellschaftsordnung der autochthonen Gruppen in der Casamance, wird nur die ‘Concession’ (Haushaltsgemeinschaft die ein Stück Land gemeinsam bewirtschaftet) als einzig legitime Autorität anerkannt. Die Untersuchung zeigt, dass u.a. im Konfliktfall alle darüber hinausgehenden Entscheidungen situativ, flexibel und individuell ausgehandelt werden müssen. Der Konflikt verharrt auf einem Niveau niedriger Intensität, obwohl mit einer Militarisierung in den 90ern Öl ins Feuer gegossen wurde, weil situative und dezentrale Strukturen weiterhin den Kontakt aller Beteiligten ermöglichen. Außerdem setzen diese Strukturen einen normativen, sozial kontrollierten Rahmen. Frauen und Kinder sind im Unterschied zu Konflikten in der Nachbarschaft nicht an Kampfhandlungen beteiligt. Das Ausmaß der Gewalt ist vergleichsweise klein und Schreckensmeldungen, wie Massaker und Verstümmelungen selten.

Aufgrund dieser Bedingungen hat sich ein Gewaltmarkt (Elwert 1999) etabliert, der lokal als ‘Marché de la Paix’ bezeichnet wird. Dieser Gewaltmarkt bestimmt die Handlungslogik der Akteure. Sowohl die Gewaltunternehmer, wie die Vermittler agieren innerhalb der Logik eines Systems, das sich auf Gewalt, Gewaltandrohung und Gewaltvermeidung gründet. Die gegen den Staat gerichtete Unabhängigkeitsbewegung bestimmt sich durch Forderungen an den Staat. D.h. der Staat wendet eine Taktik von ‘Teile und Herrsche’ an, die die Existenz einiger Splittergruppen nicht nur verursacht hat, sondern diese Gruppen auch noch am Leben erhält, ohne dass sie kontrollierbar sind. Friedensvermittler und internationale Organisationen schreiben sich auf die Fahnen die Bedrohung von Land und Leuten ändern zu wollen, ermöglichen sich aber zugleich damit selbst ein Auskommen; in zweiter Linie liefern sie außerdem den Kampfpartien ihre Daseinsberechtigung. Diverse Gruppen profitieren außerdem von der weitgehenden Unsicherheit in der Region (Militärs, Rebellen, Kriminelle), indem sie außerlegale Aktivitäten betreiben. D.h. alle sichern sich in der jetzigen Situation in gewisser Weise gegenseitig ihr Auskommen.

Die letztgenannten Faktoren erhalten den Konflikt am Laufen haben ihn aber nicht verursacht. Die illegalen Aktivitäten z.B. scheinen noch nicht einmal ausreichend profitabel, bzw. in einem solchem Ausmaß auf den Konflikt angewiesen zu sein, dass sie diesen am Laufen halten. Der Konflikt lässt sich eher auf eine große Anzahl sich wechselseitig verstärkender Faktoren zurückführen, die wiederum durch den Konflikt verstärkt und ins Bewusstsein der Akteure gekommen ist. Der Staat und die internationale Gemeinschaft können dem nichts entgegensetzten, da auf makropolitischer Ebene keine Konfliktlösungen gefunden werden. Die Anzahl der Vermittlungsversuche ist ebenso beeindruckend wie ihre Folgenlosigkeit. Die offiziellen Friedensvermittlungen können also nur indirekt dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Konflikt auf einem niedrigen Niveau der Gewalt verbleibt: Indem sie zum Auskommen von Teilen der MFDC Kräfte beitragen, können sie deren Motivation Gewalt anzuwenden um ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu sichern wenigstens zeit- und teilweise senken.

Eine Vermittlung zwischen gegensätzlichen Interessen findet nur auf einem dezentralen Niveau statt. Bis zu einem gewissen Maße gelingt es den Akteuren Konfliktbewältigung zu betreiben, Regeln zur Konfliktaustragung zu gestalten und zeitlich sowie örtlich begrenzte Verbindlichkeiten zu schaffen. Dieselben sozialen Mechanismen, die diese Konfliktbewältigung ermöglichen, führen andererseits aber auch dazu, dass keine allgemeinen verbindlichen Konfliktregelungen geschaffen werden können. Den Akteuren gelingt es zwar eine Gewaltspirale wie in anderen Gewaltmärkten zu durchbrechen, aber nicht darüber hinausgehend die Gewalt zu beenden. Eine institutionalisierte, allgemein verbindliche Form der Konfliktlösung, mit einem anerkannten und von allen Seiten respektierten Gewaltmonopol ausgestattet, konnte weder beobachtet werden, noch zeichnet sich eine solche Lösung ab. Institutionalisiert ist in diesem Sinne nur die Liminalität in der sich die Casamance befindet. Wird diese als eigenständiges Phänomen verstanden, kann die aktuelle Situation als stabiler Zustand, der eigenen Regeln folgt, die sich wiederum nicht nur vom Verhältnis der Peripherie zum Zentrum ableiten lassen, erkannt werden.

Zusammengefasst kann das Fallbeispiel Casamance wegen der Besonderheiten, die dieser Konflikt im Vergleich mit anderen Beispielen in der Region und überregional aufweist, Hinweise zur Präzisierung allgemeiner Konflikttheorie geben (Kapitel 7). In der Analyse zeigt sich, dass theoretische Konzepte unterschiedlicher Konflikttheorien – ‘new wars’, ‘failed states’, ‘feasibility thesis’, u.a.- dienlich zum besseren Verständnis sind, wenn die Zusammenhänge, in denen diese Theorien stehen, berücksichtigt werden. D.h. dass einige Generalisierungen abgelehnt bzw. moduliert werden müssen, weil sie im Einzelfall unzutreffend sind. Das heißt aber auch, dass ein Ansatz, der unterschiedliche Versatzstücke der Konflikttheorien kombiniert - und etwa zusätzlich Ideen über ‘protracted conflicts’, ‘collective beliefs’, ‘deprivation’, ‘cultural context’ u.a. mit berücksichtigt - dem Beobachter ein ausreichendes Instrumentarium zur Analyse von Konflikten an die Hand gibt. Eine pfad-abhängige Analyse anhand eines prozessualen Modells, das Mikro-, Meso-, und Makroebenen mit einbezieht, kann die Ursachen, Dauer und Art des Casamancekonfliktes besser verständlich machen.

Die Forschungsfrage inwieweit die Konfliktsituation auf Zwänge innerhalb von Systemen, die von Akteurentscheidungen abgekoppelt sind, oder auf eine freie Entscheidungsfindung der Akteure, die kommunikativ verhandelt wurde, zurückzuführen ist, kommt zu folgendem Ergebnis: Einerseits lassen sich deutlich Strukturen beobachten, die analytisch nur mit autopoietischen, also systeminternen und auf sich selbst bezogenen, Zwängen begründet werden können - etwa dem ‘Marché de la Paix’. Andererseits können ebenso erfolgreiche Versuche seitens der Akteure beobachtet werden, Einfluss auf diese abgekoppelten Systeme zu nehmen. Auf lokaler Ebene nutzen die Akteure die gegebenen, historisch gewachsenen und regional spezifischen Strukturen um Handlungsspielräume außerhalb des ‘Marché de la Paix’ zu erhalten und individuelle Nachteile (etwa als Opfer von Gewalt) zu vermeiden. Beide Faktoren - (System)Struktur und Agency - lassen sich also empirisch als den Casamancekonflikt in hohem Maße formend nachweisen. Außerdem zeigt die Beobachtung, dass beide Faktoren sich gegenseitig beeinflussen und bedingen. Die aktuelle Situation in der Casamance wird erst in einer Perspektive, die sowohl die Aktionen Einzelner wie auch überindividuelle Systemzwänge berücksichtigt, als Wechselspiel beider verständlich.

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