Political Orientations and Repertoires of Identification: State and Identity Formation in Northern Somalia

Markus V. Hoehne
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Wie schon angedeutet interessiert mich an der Situation in Nordsomalia, wie Menschen sich in der Abwesenheit von Staatlichkeit bzw. in einem Kontext von langsam wieder entstehender Staatlichkeit orientieren. Natürlich kann man fragen, was denn an der Situation in Somaliland und Puntland anders ist als in bestimmten Gebieten Malis, des Kongo, des Sudan oder anderer (auch asiatischer und europäischer) Staaten, in denen der Staat oft, wenn überhaupt, nur als marginaler Akteur auftritt. Es gibt, wie Clapham (2001) und Bellagamba und Klute (2008) betonen, eine Vielzahl unterschiedlich gearteter Akteure neben dem Staat. In vielen Fällen agieren diese sogar mit größerer Legitimität und effektiver als staatliche Instanzen. Der Unterschied zur Lage in Nordsomalia ist allerdings, dass dort Anfang der 1990er Jahre der Staat nicht nur schwach war oder keine effektive Herrschaftsgewalt jenseits der Hauptstadt hatte, sondern komplett implodiert war. Es gab schlicht keine staatlichen Instanzen mehr, weder im Zentrum noch in der Peripherie. Was den Somalis blieb, war die Idee vom Staat. Es gelang in Somaliland und Puntland, dieser Idee in mühsamer Kleinarbeit – durch Staatsbildung „von unten“, wie in den Kapiteln 5 und 6 beschrieben – wieder eine feste Form zu geben. Seit Anfang der 2000er Jahre kann man von existierender (de-facto-)Staatlichkeit in den Zentren beider politischer Gebilde sprechen. Pegg (1998: 4) definiert de-facto-Staaten als Gebilde, die relativ stabil und politisch effektiv sind, in den Augen der Bevölkerungsmehrheit Legitimität genießen, und Menschen in einem klar definierten Gebiet staatliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Des Weiteren bemühen sie sich um internationale Anerkennung und haben die Fähigkeit, Anforderungen souveräner Staatlichkeit zu Erfüllen. Allerdings werden sie nicht international anerkannt und funktionieren deshalb außerhalb der international legitimen politischen Ordnung. Diese Merkmale treffen auf Somaliland seit Ende der 1990er Jahre zu. Puntland kann allerdings nicht als de-facto-Staat bezeichnet werden, da es keine internationale Anerkennung sucht. Es ist eine regionale Administration, die in Abwesenheit einer somalischen Regierung grundlegende Rechte des Staates Somalia in seinem Gebiet (Nordostsomalia) wahrt. Puntland sieht sich als zukünftigen Föderalstaat in einer noch zu errichtenden Bundesrepublik Somalia.

Die existierenden staatlichen Institutionen in Somaliland und Puntland müssen sich Anfang des 21. Jahrhunderts, wie in anderen Kontexten schwacher Staatlichkeit auch, mit den Kräften neben dem Staat arrangieren. Dies sind vornehmlich traditionelle Autoritäten, zum Teil aber auch noch (oder wieder) bewaffnete Klanmilizen (siehe Kapitel 6 und 9). Aber um diesen Punkt abzurunden: Anfang der 1990er Jahre gab es nicht einmal diese schwachen staatlichen Institutionen in der Region. Dies ist der Grund, warum Nordsomalia eines der wenigen zeitgenössischen „Testgebiete“ für grundlegende Prozesse von Staats- und Identitätsbildung ist.

Im Hinblick auf Identitätsbildung gehe ich von dem „konstruktivistischen Konsens“ aus, dass Realität sozial konstruiert ist (Berger und Luckmann 1987 [1966]). Barth (1969) betonte, dass Identitäten entlang sozialer Grenzen konstruiert werden. Immer dann, wenn es nötig ist, Differenzen nach außen aufzuzeigen, werden die Eigenschaften der eigenen Gruppe betont, die sich von denen anderer Gruppen unterscheiden. In Barths damaliger Sichtweise, die er später (1994) zum Teil revidierte, kam dem kulturellen Inhalt von Identitäten – wie substantiell die Eigenschaften wirklich waren – kaum Bedeutung zu. Entscheidend war, wie Unterschiede repräsentiert wurden. In der deutschen Ethnologie griffen Schlee (2002b, 2004, 2006) und Elwert (2002) die Barthsche Perspektive auf und betonten die Oberflächlichkeit aber Wirksamkeit von Identitätskonstruktionen. Schlee (2002b: 8) warb explizit für einen Ansatz in der Identitätsforschung, der sichtbare Marker und die Rationalitäten von Identifikationsprozessen ins Zentrum stellte. Er wollte Obeflächlichkeit in einem soziologischen Sinne verstanden wissen, „referring to the social ego, the surface, or the interface with others“ (ibid.). Entsprechend entwarf er Taxonomien von Identifizierungen und betonte, dass bestimmte Identifizierungen miteinander verbunden werden können, wie z.B. Nationalität und Religion, während andere Identifizierungen sich gegenseitig ausschließen, wie z.B. muslimisch und katholisch sein (Schlee 2006: 54-57). Elwert (2002) erweiterte die Perspektive um den Begriff des „code switching“ im Bereich von Identitäten. Er arbeitet heraus, dass Akteure sich je nach Kontext auf verschiedenen Ebenen, wie Religion, Sprache, Nationalität, identifizieren können. Trotz aller Flexibilität müssen Identitäten aber immer auch plausibel sein und von anderen – den sozialen
„Gegenspielern“ – akzeptiert werden können, um zu funktionieren (Eriksen 1993: 18; Schlee 2004).[3]

Diese Bemerkungen verweisen auf die komplexen Beziehungen und möglichen Spannungen zwischen individuellen und kollektiven Identitäten. Individuelle Identität bezieht sich auf die (subjektiv gefühlte) Kohärenz des eigenen Selbst, das sich in widersprüchlichen Situationen und über die Zeit „treu bleibt“. Kollektive Identität betrifft mehrere Personen und die Idee ihrer Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten (Jenkins 1996; Sökefeld 1999; Luhrmann 2001; Snow 2001; Rummens 2003). Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten können von „innen“ heraus konstruiert und erfahren werden, oder von „außen“ aufgezwungen werden (Jenkins 1996: 22-23). Individuelle wie auch kollektive Identitäten sind sozial in dem Sinn, dass sie nur in der Beziehung zu anderen Menschen und Gruppen vorhanden sind (Wagner 1999: 45; Jenkins 1996: 19-25). In der Isolation gibt es keine Identität. Zudem sind individuelle und kollektive Identitäten aufeinander bezogen und stehen in komplexer Wechselwirkung zueinander. Kollektive Dynamiken beeinflussen die Individuen innerhalb einer Gruppe; umgekehrt setzen sich Gruppenidentitäten aus dem gemeinsamen „Bodensatz“ individueller Identitäten zusammen. Allgemein und treffend formulieren Berger und Luckmann (1987 [1966]:195): „identity is a phenomenon that emerges from the dialectic between individual and society.“ In dieser Dissertation arbeite ich an der Unterscheidung aber auch dem Zusammengehen von individueller und kollektiver Identität. Die analytische Trennung erscheint mir sinnvoll, da sie hilft, persönliche Positionen von Gruppenorientierungen zu unterscheiden und auf der Mikroebene das Handeln individueller Akteure nachzuzeichnen.

Der Fokus auf die individuelle Ebene und die Motivationen, die Menschen zu bestimmten Identifizierungen veranlassen, macht es möglich, verbleibende Grauzonen der konstruktivistischen Identitätsforschung auszuleuchten. Erstens ist es sehr schwer, empirisch festzustellen, was auf kollektiver Ebene Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten innerhalb einer Gruppe und Unterschiede zu einer anderen Gruppe wirklich ausmacht (Wagner 1999: 45). Das wiederum berührt die Machtfrage in Identifikationsprozessen:

„Who has the power to represent a particular identity in a particular way, in order to ascribe it a particular meaning and achieve a specific inclusiveness, excluding thereby other meanings and positions? And: Who has the power to represent a particular people on the basis of claims to a particular identity? (Sökefeld 2008: 19)“

Jenkins stellte zuvor schon in ähnlicher Weise fest, dass Identität immer auch die Frage mit einbezieht: „whose definition of the situation counts“ (Jenkins 1996: 23, Kursivsetzung des Autors).

Ein zweites Problem der gegenwärtigen Identitätsforschung ist, dass die Rolle von Emotionen in Identifizierungsprozessen kaum beachtet wird und schwer zu analysieren ist. Dies hat Schlee (2002b: 23) zwar betont, aber selbst nicht weiter verfolgt. Identifizierung hat nicht nur mit Kalkül, Virtuosität und den strukturellen Bedingungen (Was ist in den Augen anderer akzeptabel? Worauf kann man sich überzeugend beziehen?) zu tun. Es spielen immer auch Stolz, Furcht, Zorn, Sympathien und andere gefühlsbezogene Faktoren eine Rolle. Es ist bisher immer noch unklar, was in Gruppen wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl ausmacht (Wagner 1999: 64).[4]

Zuletzt ist es zwar möglich, Identitäten als innerhalb von bestimmten Rahmenbedingungen konstruiert zu erforschen. Es ist aber ungleich schwieriger, festzustellen, wo Flexibilität aufhört und, zumindest für die Akteure, das Ende der Konstruierbarkeit von Identitäten erreicht ist. Das Ende der Konstruierbarkeit hat nicht immer etwas mit Plausibilität oder ökonomischer Rationalität zu tun. In meiner Feldforschung habe ich Menschen getroffen, die hartnäckig bestimmte Positionen vertreten haben, welche ihre Identität wesentlich geprägt haben, welche ihnen aber im alltäglichen Leben viele Schwierigkeiten bereitet haben. Es hätte in diesen Fällen durchaus plausible Möglichkeiten gegeben, durch eine leichte Verschiebung der politischen Orientierung das Leben angenehmer und vielleicht sogar ökonomisch erfolgreicher zu gestalten. Die Frage ist also: Warum verstehen bestimmte Menschen oder Gruppen bestimmte Aspekte ihre individuellen oder kollektiven Identitäten als unverrückbar? Wann kommt also eine primordiale Auffassung der Akteure ins Spiel, und wie wirkt diese sich auf Identifikationsprozesse und damit verbundene, z.B. politische, Dynamiken in einem Feldforschungsgebiet aus?

Mein Ansatz hinsichtlich dieser Probleme ist, individuelle Akteure, ihre Motivationen und ihr soziales Umfeld so gut wie möglich zu erfassen. Interessant sind immer die Brüche in der individuellen oder kollektiven Selbst- und Fremddarstellung. Damit sind die Fragen verbunden, an welchen Stellen Selbst- und/oder Fremdidentifikationen nicht mehr „funktionieren“, bzw., wo sie umstritten sind. In meiner Arbeit nähere ich mich der Entstehung von Zusammengehörigkeitsgefühl durch das Nachzeichnen der Entstehung einer „imagined community“ (Anderson 2006 [1983]) in Zentralsomaliland (Kapitel 5). Dabei spielen gemeinsame Erfahrungen und gelebter Alltag eine wesentliche Rolle. Dieses Thema setzt sich in Kapitel 7 fort, in dem die Produktion eines dominanten Trauma-Narratives als Grundlage der entstehenden Somaliländer Identität hervorgehoben wird. Dies ist jedoch „national“ gesehen nur eine Teilidentität. Sie trifft auf Menschen mit einem bestimmten Erfahrungshorizont zu. Diese Menschen leben meist in Zentralsomaliland und gehören der Abstammungsgruppe der Isaaq an. Andere Menschen in Somaliland haben einen deutlich anders gearteten Erfahrungshorizont. Dies führt zur Frage nach Machtungleichgewichten in den lokalen Identifikationsprozessen, der ich aber nur indirekt nachgehe. Von der somaliländischen Regierung in Hargeysa, der Hauptstadt Somalilands, werden alle Bewohner des früheren Britischen Protektorats von Somaliland als Teil der 1991 neu gegründeten politischen Gemeinschaft angesehen. Viele Menschen in den östlichen Regionen Somalilands, die den Klans Dhulbahante und Warsangeli angehören, widersetzten sich dieser Vereinnahmung. Auf nachbarschaftlicher Ebene und durch Heirat und Freundschaft sind sie den verschiedenen Issaq Klans verbunden. Sie wollen Somaliland jedoch nicht als unabhängigen Staat unterstützen, sondern sind am Wiederaufbau Somalias interessiert. Sie fühlen sich politisch zudem von der Übermacht der Isaaq in Somaliland bedroht. Die in Kapitel 8 aufgezeigten Positionen und Gegenpositionen der Anhänger Somalilands und der Befürworter eines vereinigten Somalias werden also nicht nur von dem kulturellen Kontext, dem individuellen Kalkül und der Virtuosität der Akteure, sondern auch von lokalen Machtungleichgewichten und Sicherheitsbedenken beeinflusst.

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