Political Orientations and Repertoires of Identification: State and Identity Formation in Northern Somalia

Markus V. Hoehne
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Direkten Bezug auf die Rolle von Emotionen in Identifikationsprozessen nehme ich in den Kapiteln 7 und 8. Hier wird, wie gerade schon angesprochen, aufgezeigt, wie traumatische Erfahrungen in der Zeit des Bürgerkrieges und Staatszerfalls Individuen und Gruppen zu bestimmten Identifikationen veranlasst haben. Allerdings verdeutlicht gerade die Biographie Mohamed Laba Qumacs, der einer meiner Hauptinformanten und ein guter Freund war, wie scheinbar klare Identifikationsmuster gebrochen werden und traumatische Erfahrungen nicht nur Zusammengehörigkeit, sondern auch Entfremdung produzieren können.

Die Frage, welche Identifizierungen als unverrückbar angenommen werden und wo sich das Ende der Konstruierbarkeit in lokalen Identifizierungsprozessen zeigt, wird im Zusammenhang mit der eskalierenden Gewalt in den umstrittenen Grenzgebieten zwischen Somaliland und Puntland behandelt. In den Kapiteln 5 und 6 wird besonders die politische Situation in den Regionen Sool und Sanaag sowie im südlichen Togdheer bzw. in der Region Cayn dargestellt.[5] Die dort wohnenden „Grenzländer“ können sich sowohl Somaliland als auch Puntland zurechnen. Sie oder ihre Vorfahren waren Teil des Britischen Protektorats. Dieses koloniale Gebilde umfasste das Gebiet, in dessen Grenzen sich die Republik Somaliland 1991 für unabhängig erklärte. Die Grenzländer können aber auch ihre patrilineare Abstammung von dem legendären Ahnen Harti betonen, was sie als Bürger Puntlands definiert. Puntland wurde 1998 als Administration aller Harti (und noch einiger kleinerer Mitglieder der Darood Klanfamilie) gegründet.[6] Sie können also opportunistisch zwischen territorialer und genealogischer Zugehörigkeit entscheiden und versuchen, durch politische Teilnahme in Somaliland und Puntland „doppelten Gewinn“ einzufahren. Dieses „Doppelspiel“ hat allerdings seinen Preis. Bis Anfang der 2000er Jahre waren die umstrittenen Grenzgebiete zwischen Somaliland und Puntland effektiv nicht staatlich kontrolliert. Die Menschen dort unterstanden der Autorität ihrer traditionellen Autoritäten. Diese sorgten, je nach eigenem Vermögen, für Ruhe und Ordnung und, in manchen Fällen, für moderate Entwicklung. Konflikte wurden oft gewaltsam ausgetragen. Tötungen konnten jahrelange Blutrachezyklen nach sich ziehen. Insgesamt blieb der Level der Gewalt allerdings niedrig. Zwischen 2000 und 2003 begannen die Regierungen in Hargeysa und Garoowe, ihre politischen „Fühler“ in das umstrittene Gebiet auszustrecken. Sie etablierten lokale Rumpfverwaltungen, die mit Mitgliedern der lokalen Klans besetzt wurden. Dies brachte einzelnen Personen und ihren erweiterten Familien moderate Gewinne ein, sorgte aber auch für neues Konfliktpotenzial im lokalen Kontext. Aus pastoralnomadischen wurden zunehmend politische Konflikte. Der Level von Gewalt stieg.

Kapitel 9 stellt die weiteren Ereignisse den umstrittenen Grenzgebieten ab 2004 dar. Diese liefen gerade in der Region Sool zunehmend auf militärische Konfrontationen zwischen Somaliland und Puntland hinaus. Darüberhinaus kommt es in Sool und im Süden Togdheers/Cayns seit 2010 zu Zusammenstößen zwischen lokalen Klanmilizen und der somaliländischen Armee. Besonders die Situation in diesen Gegenden, die vornehmlich von Dhulbahante bewohnt werden, zeigt, dass es eine Grenze des Opportunismus und der Konstruierbarkeit von Identitäten gibt, zumindest auf der Ebene der einfachen Bevölkerung. Die Menschen dort lassen sich nicht zur Aufgabe ihrer politischen Vision von der Wiedererrichtung eines vereinten Somalias bewegen. Dafür nehmen sie notfalls auch extreme wirtschaftliche Marginalisierung und die Militarisierung ihrer Klanterritorien auf sich. Je mehr die Gewalt eskalierte, desto mehr verhärteten sich auch die Fronten zwischen den von den Menschen betonten politischen Identitäten.

Im Schlusskapitel (Kapitel 10) streiche ich die Rolle von Emotionen in Staats- und Identitätsbildungsprozessen heraus. Staaten allgemein haben emotionale Qualitäten. Sie müssen jenseits ihres institutionellen und politischen Charakters auch verstanden werden als „ensemble of affective orientations, images, and expectations imprinted in the minds of the subjects“ (Young 1994: 33). Ich verweise zudem auf die Zufälligkeiten und Unwägbarkeiten von Staatsbildungsprozessen. Somaliland, aber auch Puntland, entwickelten sich entgegen der Vorhersage, dass es ihren Unterstützern nur um das Abgreifen externer Ressourcen ginge. Nach zwei Jahrzehnten (Somaliland) bzw. etwas mehr als einer Dekade (Puntland) stehen sie in vielerlei Hinsicht besser da als der Süden, dem immer noch die internationale Aufmerksamkeit gilt. Doch waren die internen Staats- und Identitätsbildungsprozesse nicht einheitlich. Somaliland existiert nicht wirklich in den umstrittenen Grenzregionen. Auch Puntland ist dort nur wenig präsent. Die Grenzregionen können mit Ferguson und Whitehead (2000 [1992]) als „tribal zones“ verstanden werden, in denen sich Staatsbildung vollzieht und die im Zuge staatlicher Expansion von politischen Peripherien zu politischen Zentren werden. Dies geht, zum Leidwesen der lokalen Bevölkerung, mit der Militarisierung dieser Grenzregionen einher.

Natürlich ist eine Perspektive auf Staats- und Identitätsbildung, die ausschließlich den lokalen Kontext beachtet, nicht ausreichend. Ich bette deshalb meine Darstellungen der lokalen und regionalen Dynamiken an verschiedenen Stellen in den größeren Kontext somalischer und internationaler Politik und anderer Entwicklungen ein. Der Aufstieg und Fall des Präsidenten Maxamed Siyaad Barres (1969-1991), der direkt in den Bürgerkrieg und Staatszerfall führte, war eng mit dem Kalten Krieg verbunden war (siehe Kapitel 4). Ebenso sind die politischen Entwicklungen in dem Feldforschungsgebiet und der weiteren Region seit 1990 mit der von Präsident Bush senior verkündeten „Neuen Weltordnung“ unmittelbar nach dem Ende der Ost-West Konfrontation und dem seit 2001 eskalierenden internationalen Kampf gegen den Terrorismus verbunden. Somalia war in den zwei Jahrzehnten seit 1991 mehrfach Ziel von internationalen Militärinterventionen. Diese hatten das Mandat, Frieden und Staatlichkeit im Land wieder herzustellen, bzw. Bedrohungen des Friedens in der Region zu eliminieren. Faktisch haben die Interventionen aber, wie ich in meinen Schlussfolgerungen argumentiere, Frieden und Staatsbildung in Somalia verhindert. Besonders Somaliland, aber auch Puntland, haben indirekt von dem andauernden Staatszerfall Somalias profitiert. Die Menschen dort mussten sich auf die Wiederherstellung einer eigenen friedlichen politischen Ordnung konzentrieren abseits des internationalen Somaliafokus, der im Wesentlichen auf Mogadishu und den Süden gerichtet war. Diese gelang erstaunlich gut, wie die Entwicklungen in Somaliland in den 1990er Jahren, aber auch die in mancher Hinsicht parallelen Entwicklungen in Puntland ab 1998 zeigen. Immer wieder hat Äthiopien, das in Südsomalia bisher eine weitgehend destruktive Rolle gespielt hat, die Rivalen Somaliland und Puntland davon abgehalten, sich in einen lang anhaltenden Krieg gegeneinander zu begeben. Die Diaspora hat seit Anfang der 1990er Jahre den
Aufbau einer friedlichen politischen Ordnung in Somaliland und Puntland unterstützt.[7] Geldrücksendungen und, ab 2000, zunehmend größere wirtschaftliche Investitionen von Somalis aus Europa, Nordamerika und der arabischen Halbinsel haben zum Überleben vieler Menschen in Nordsomalia sowie zu einem moderaten wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen.

Kapitel 10 schlägt zudem die Konzepte von Mimesis und Mimikry vor, um Annäherungen und Ähnlichkeiten, sowie Imitationen im Zusammenhang mit den Staats- und Identitätsbildungsprozessen in Somaliland und Puntland zu analysieren. Diese Mimesis umfasst dabei die möglichst detailgetreue Imitation eines vorhandenen Gegenstandes oder einer vorhandenen Institution. Ziel ist es, durch die Kopie von etwas, das schon funktioniert, von den Vorteilen des existierenden Gegenstandes oder der existierenden Institution zu profitieren. Mimikry bezieht sich hingegen auf die Imitation in der Absicht, den Signalempfänger zu „betrügen“.[8] Zunächst imitierte Somaliland das globalisierte Konzept moderner Staatlichkeit so gut wie möglich, um sich vom zerfallenden Rest Somalias abzugrenzen. Allerdings waren einige Akteure in Somaliland (viele Nicht-Isaaq, aber auch einige Isaaq) nicht von der Richtigkeit der Abspaltung überzeugt. Sie akzeptierten sie nur, weil sie dachten, Somaliland würde nicht lange existieren und bald in einem wieder friedlichen, vereinten Somalia aufgehen. Puntland imitierte im Zuge seines Staatsaufbaus den politischen Prozess, der in Somaliland schon Anfang der 1990er Jahre stattgefunden hatte. Traditionelle Autoritäten ebneten den Weg für eine Regierungsbildung und standen jederzeit bereit, um an Konfliktverhandlungen zwischen verfeindeten Gruppen teilzunehmen. Ein klarer Aspekt von Mimikry seitens Puntlands wird hinsichtlich der Konflikt- und Identitätsdynamiken zwischen beiden staatsähnlichen Gebilden in Nordsomalia deutlich. In der Auseinandersetzung mit Somaliland über die Kontrolle der Regionen Sool und Sanaag sowie Gebiete im südlichen Togdheer/Cayn geriert sich Puntland als Staat auf derselben politischen Ebene wie Somaliland. Damit wird nach außen, in Richtung internationale Gemeinschaft, signalisiert, dass sich in Nordsomalia zwei ähnliche politische Gebilde um Territorium streiten. Dies verschleiert die Tatsache, dass Somaliland dieses Territorium beansprucht, da es sich als eigenen Staat in den Grenzen des früheren Britischen Protektorats ansieht, während Puntland nur eine regionale Administration ist, die ihren Anspruch auf die umstrittenen Grenzgebiete genealogisch begründet, aber keinen Anspruch auf unabhängige Staatlichkeit erhebt. Dieser Konflikt dient Puntland dazu, das Bild Somalilands als stabiler de-facto-Staat zu erschüttern und somit den Anspruch der Regierung in Hargeysa auf internationale Anerkennung Somalilands zu unterminieren:

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