Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia

Dereje Feyissa
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Ethnic Groups and Conflict. The Case of Anywaa-Nuer Relations in the Gambela Region, Ethiopia

Von einer diachronischen Perspektive aus betrachtet hat sich jedoch der Identitätsdiskurs der Anywaa von einem assimilationistischen zu einem primordialistischen Modus der ethnischen Rekrutierung bewegt, während die Nuer den gegensätzlichen Transformationsprozess durchlaufen haben, und zwar von einer ursprünglichen Ideologie der ethnischen Reinheit hin zu einem komplexen Assimilationismus. Die Bedingungen unter denen der Wandel der Identitätsdiskurse stattfindet werden hinsichtlich der unterschiedlichen Interaktionsrahmen spezifiziert. Die Ethnogenese der Anywaa hat sich wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer relativen Isolation und/oder schwächeren Nachbarn vollzogen, bei den Nuer geschah dies bei einer hohen Dichte sozialer Interaktion des Konkurrenztypus mit ihren Nachbarn. Dazu gehörten auch bestimmte Faktoren. Veränderungen in ihrer materiellen Existenz (von einer pastoralen zu einer agrarischen Lebenswelt), ein Glaubenssystem, das Territorialität erzeugt (ein strafender Gott gegenüber der Mutter Erde), ein Reproduktionsregime, das auf der Mangelwirtschaft basiert (ein Brautpreissystem auf Grundlage seltener Perlen) und ein Herrschaftsmodus, der die Menschen an bestimmte Territorien bindet, haben einen partikularistischen Identitätsdiskurs hervorgebracht, eine interne Dynamik, die durch die Beschaffenheit des Interaktionsrahmens verstärkt wurde (territoriale und kulturelle Übergriffe durch die Nuer). Die Herausbildung einer ethnischen Identität bei den Nuer ist durch einen interethnischen Interaktionsrahmen, der durch Wettbewerb gekennzeichnet ist, beeinflusst worden, größtenteils im Zusammenhang mit gegenseitigen Überfällen zwischen ihnen und ihren Nachbarn, den Dinka, im Südsudan. Dies hat wahrscheinlich ein gewisses demographisches Vorurteil bei der Gruppenbildung hervorgebracht (Politik der Anzahl), daher kommt es zu einer Flexibilität bei der ethnischen Rekrutierung (kulturelle Definition der Mitgliedschaft), die auf Mobilität basiert und weniger auf einem historischen Gefühl der Verwurzelung an einem Ort. Als Nachbarn seit Mitte des 19.Jhd. steht die Interaktion zwischen den Anywaa und den Nuer teilweise für eine Kollidierung von partikularistischen und universalistischen Identitätsdiskursen. Diese Spannungen werden teils durch asymmetrische lokale Machtverhältnisse hervorgebracht und teils durch Konflikte gelöst. Die innere Funktionsweise der Kulturform der Nuer zielt auf die Auflösung anderer ethnischer Grenzen ab und das Ergebnis ist ihre territoriale und demographische Ausdehnung, was dem Primordialismus der Anywaa die Eigenschaft einer reaktiven Ethnizität hinzufügt. Außerdem wird dieses Niveau der kulturellen Opposition durch Gegenströmungen in Wirtschaft und Politik verstärkt. Das Zusammenspiel dieser Gegenströmungen hat den heutigen Konflikt und die Eskalation der Gewalt zwischen Anywaa und Nuer ausgelöst. Im folgenden werde ich diese Gegenströmungen, ihr Zusammenspiel und die Interessen, die sie im sozialen Kampf hervorgebracht haben, kurz zusammenfassen.

Die kulturellen Faktoren hängen mit dem Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Identitätsdiskursen und den damit verbundenen Praktiken zusammen, die von der oben beschriebenen gegensätzlichen Konzeptualisierung ethnischer Identität ausgehen. Für die Anywaa ist Identität sowohl hinsichtlich Ethnizität als auch Lokalität territorialisiert und dies ist die Grundlage für den Austausch zwischen den Gruppen. Die Lebenswelt der Nuer (pastoral) und der darin eingebettete Identitätsdiskurs ist mobil. Im Gegensatz zu den Dörfern der Anywaa könnten die lokalen Gemeinschaften der Nuer in ein neues Territorium mit neuen Mitgliedern verpflanzt werden, die vollen Anspruch auf Mitgliedschaft erheben könnten. Bis zu einem gewissen Ausmaß spielen daher die Anywaa und die Nuer ein unterschiedliches „Sprachenspiel“ bei ihrer Konzeptualisierung einer ethnischen Gruppe, um Wittgensteins Begriff zu verwenden. Der Unterschied hängt teilweise mit den Bedingungen ihrer materiellen Existenz zusammen und der Lebenswelt, die jede hervorbringt. Die soziale und territoriale Mobilität der Nuer wird teilweise von der wirtschaftlichen Notwendigkeit, von einer ungleichen Verteilung natürlicher Ressourcen (besonders Trockenzeitweiden) diktiert, die die pastorale Wirtschaft unterstützen. Die meisten dieser wichtigen natürlichen Ressourcen finden sich in den von den Anywaa bewohnten Gebieten. Die erste Begegnung zwischen den Nuer und den Anywaa führte zu einer Eroberung eines großen Teils der Anywaa-Territorien durch die Nuer. Die Anywaa haben versucht, die verlorenen Territorien wiederzuerlangen. Zwar waren sie mit ihrem „irredentistischen“ Plänen nicht erfolgreich, doch ihr Widerstand bewirkte eine Neuorientierung der Nuer-Strategien beim Zugriff auf Ressourcen von gewalttätigen zu friedlichen Mitteln, was dem symbiotischen Austausch zwischen Hirten und Bauern anderswo in der Welt sehr ähnlich war. Dieser Austausch enthielt jedoch eine gewisse Asymmetrie, welche die Nuer bevorzugt. Flexibilität bei der ethnischen Rekrutierung, wirtschaftliche Schlagkraft (Viehreichtum) und zahlenmäßige Überlegenheit zusammengenommen, haben die Nuer in die Lage versetzt, sich kontinuierlich auf Kosten der Anywaa auszudehnen. Diese Ausdehnung erfolgte größtenteils durch Mikroprozesse, d.h. die Instrumentalisierung interethnischer Ehen und Freundschaftsnetzwerke. Normalerweise heiratet ein Nuermann eine Anywaafrau. Dies ist anfangs von Vorteil für beide Partner. Für die Nuer ist es „billiger“ eine Anywaa zu heiraten, deren Brautpreis niedriger ist. Für die agrarischen Anywaa sichert die Ehe einen ununterbrochenen Viehreichtum. Die Nuer erwarten zusätzliche Gewinne von einem solchen Austausch. Verbindungen durch die Heirat werden als legitimierender Diskurs zur Errichtung von Siedlungen auf Anywaa-Territorium benutzt. Diese Siedlungen dienen nach und nach als Nukleus für mehr Einwanderer und bald sind diese den Anywaa zahlenmäßig überlegen. Letztere können daraufhin entweder Teil der Verwandtschaftsstrukturen und Politik der Nuer werden oder das Dorf verlassen, um ihre Lebensweise aufrecht zu erhalten.

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