Political Orientations and Repertoires of Identification: State and Identity Formation in Northern Somalia

Markus V. Hoehne
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Date of Defense | Tag der Verteidigung
15.07.2011

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Richard Rottenburg

OPAC

German summary | Deutsche Zusammenfassung

In dieser Arbeit setze ich mich mit Dynamiken von Staats- und Identitätsbildung in Somaliland und Puntland auseinander. Beide staatsähnliche Gebilde entstanden in den 1990er Jahren in Nordwest- bzw. Nordostsomalia. Das „Staatsgebiet“ beider Gebilde umfasst zusammen ein gutes Drittel des Territoriums der 1991 zerfallenen Somalischen (Demokratischen) Republik. Somaliland und Puntland wurden Anfang der 2000er Jahre so stabil und friedlich, dass man dort längere Feldforschungsaufenthalte durchführen konnte.

Den Ausgangspunkt meiner Arbeit bilden folgende Grundannahmen: Erstens sind Dynamiken von Staats- und Identitätsbildung generell miteinander verbunden. Zweitens wird Staatlichkeit selten von ihrer Nichtexistenz her gedacht, bzw. kann kaum in Kontexten untersucht werden, die nicht wesentlich staatlich geprägt sind. Die Situation in Nordsomalia, nach Bürgerkrieg und Zerfall des etablierten Leviathans und mit zwei im Entstehen begriffenen staatsähnlichen Gebilden, bietet die Möglichkeit, Staats- und Identitätsbildungsprozesse in einer Phase zu beobachten und zu analysieren, die in vielen anderen Kontexten lange vorbei (oder noch nicht wieder eingetreten) ist. Besonders interessant an den Entwicklungen in Nordsomalia ist, dass die Anhänger Somalilands und Puntlands miteinander im Konflikt liegen über – wie ich in dieser Arbeit argumentiere – die politische Zukunft Somalias. Die damit verbundenen Fragen sind: Soll Somalia in den Grenzen von 1990 (vor dem Staatszerfall und der Sezession Somalilands 1991) wiedererstehen, oder sollen sich Somaliland und Somalia dauerhaft trennen? Diese Situation ist die Ausgangsbasis für die Bildung politischer Identitäten, auf deren Charakteristika ich weiter unten noch genauer eingehen werde. Diese Identitäten definieren sich nicht über patrilineare Abstammung oder andere Formen sozialer Zugehörigkeit (auch wenn besonders Klanzugehörigkeit, aber auch gemeinsame historische Erfahrungen, eine große Rolle spielen), sondern über politische Orientierung. Sie sind ausschlaggebend für die Konfliktdynamiken in der Region. Somaliländer ist die Selbstbezeichnung derjenigen, die für die Anerkennung eines unabhängigen Somalilands eintreten. Die Träger der puntländischen Ordnung sind Somali Nationalisten, die auf ein vereinigtes und starkes Somalia in den alten Grenzen hoffen. Die Abspaltung Somalilands wird von ihnen nicht toleriert. Eine genaue Analyse dieser Entwicklungen führt zu Einsichten, die über den regionalen Kontext hinaus auch für allgemeine Diskussionen in der politischen Ethnologie und der Politikwissenschaft interessant sind.

Die Dissertation ist in vier Teile und zehn Kapitel gegliedert. Teil I umfasst die konzeptionellen und theoretischen Ausführungen. Kapitel 1 skizziert meine Annäherung ans Feld, die für mich prägende Literatur in den Somali Studies und meine Methoden. Kapitel 2 diskutiert die dieser Arbeit zu Grunde liegende Literatur zu Staats- und Identitätsbildung. Darauf komme ich im weiteren Verlauf dieser Zusammenfassung noch ausführlicher zu sprechen. Teil II umfasst die Hintergrundkapitel 3 und 4. Diese führen in die geographischen, ökologischen, sozialen und historischen Bedingungen der Somalihalbinsel ein. Sie sind einerseits als Hilfe für Nichtspezialisten gedacht. Andererseits dienen gerade die Ausführungen zu den in der älteren Literatur beschriebenen sozialen und historischen Gegebenheiten in Kapitel 4 dazu, Kontinuitäten und Brüche zwischen „früher“ und „heute“ festzustellen. Teil III beschreibt Dynamiken der Staatsbildung „von unten“. Er geht auf die Entstehung von Somaliland und Puntland in den 1990er und frühen 2000er Jahren ein (Kapitel 5). Dann befasst er sich mit der Rolle traditioneller Autoritäten als den wichtigsten nichtstaatlichen politischen Institutionen und deren Rolle(n) in den Staatsbildungsprozessen in und zwischen Somaliland und Puntland (Kapitel 6). Teil IV schließlich stellt die Formierung politischer Identitäten in den Vordergrund. Dazu wird in Kapitel 7 auf die Zusammenhänge von Gewalterfahrungen, Traumatisierung und Identitätsbildung eingegangen. Es zeigt sich, dass nach dem Bürgerkrieg die Erfahrungen und die daraus abgeleiteten politischen Orientierungen und Identifizierungen der Menschen in Nordsomalia ganz unterschiedlich sind. Es gibt ein dominantes Traumanarrativ, das die Existenz eines unabhängigen Somalilands legitimiert. Dieses Narrativ stützt auch die zum Staat gehörige nationale Identität als Somaliländer. Es gibt aber auch „Gegennarrative“, welche die Existenz Somalilands delegitimieren und betonen, dass das wirkliche Trauma der Verlust eines einheitlichen und starken Staates Somalia und die Schwächung des somalischen Nationalismus sind. Zudem verweisen Brüche in der Biographie eines Hauptinformanten darauf, dass große Unterschiede zwischen individuellen Traumaerfahrungen und dominanten Traumanarrativen bestehen können, die eine Integration in den Nach- Bürgerkriegskontext erschweren. Kapitel 8 schließt an das Muster von Erzählung und Gegenerzählung an und zeigt, wie beide Seiten – die Befürworter eines unabhängigen Somalilands und seine Gegner – somalische Geschichte durch Umdeutungen und Auslassungen so präsentieren, dass es ihren jeweils entgegen gesetzten Positionen entspricht. Kapitel 9 zeigt, wie sich in den umstrittenen Grenzgebieten zwischen Somaliland und Puntland die Eskalation von Gewalt und die Bildung politischer Identitäten gegenseitig bedingen und vorantreiben. Kapitel 10 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Im Folgenden erläutere ich einige grundlegende Überlegungen zu Staats- und Identitätsbildung und zeige die Relevanz meiner Feldstudien in diesem Zusammenhang auf. Der moderne Staat entwickelte sich in Europa und Nordamerika seit der frühen Neuzeit (17. Jahrhundert). Das Modell wurde im Zuge von Kolonialismus und Dekolonisierung globalisiert, wie in Kapitel 2 Dargestellt. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es mit Ausnahme des Südpols kein Territorium auf der Welt mehr, das nicht offiziell unter die Jurisdiktion eines Staates fällt (Benjamin 1988). Identitätsbildungsprozesse haben sich oft auf den Staat als Orientierungspunkt bezogen, und/oder wurden von staatlichen Instanzen beeinflusst. Staatlichkeit wurde zum „Zielpunkt“ erklärt von aufstrebenden Nationalisten, die sich und ihre Anhänger in einer politischen Ordnung vereint wissen wollten (Eriksen 1993: 97-120; Jecquin-Berdal 2002: 2-3).[1] Andererseits wirkt sich Staatlichkeit verbunden mit Nationenbildung auch auf die Wahrnehmung, das Selbstverständnis und die Identität von Staatsbürgern aus.[2] Der Staat und die Zugehörigkeit zu einem Staat wird als Normalfall angenommen (Doornbos 1994; Bourdieu 1999; Wimmer und Glick Schiller 2002); Nichtstaatlichkeit wird pathologisiert (Migdal und Schlichte 2005; Hagmann und Hoehne 2009).

In der Ethnologie wurden Staat oder Staatlichkeit lange Zeit nicht als Forschungsobjekte angesehen. Radcliffe-Brown (1962 [1940]: xxiii) nannte den Staat eine Fiktion der Philosophen. Er argumentierte: „What does exist is an organization, i.e. a collection of individual human beings connected by a complex system of relations […].There is no such thing as the power of the State“ (ibid.). Diese klaren Worte mögen jüngere politische Ethnologen Mitte des 20. Jahrhunderts, von denen viele in der britischen Sozialanthropologie akademisch sozialisiert worden waren, davon abgehalten haben, dem Staat als Forschungsobjekt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Erst ab den 1990er Jahren gelangte der Staat als Thema in den ethnologischen Mainstream (Trouillot 2001: 126). Hansen and Stepputat (2001) sprachen von „states of imagination“, womit sie darauf verwiesen, dass einfache Menschen bzw. soziale Gruppen gängige und sehr wirksame Vorstellungen von Staaten haben, die es ethnologisch zu hinterfragen gilt. Gar nicht so weit weg von der eben zitierten Position Radcliffe-Browns argumentierten sie, dass man den Staat ethnographisch aufbrechen müsste „into the multitude of discrete operations, procedures and representations in which it appears in the everyday life of ordinary people“ (Hansen und Stepputat 2001: 14). In ähnlicher Weise forderten Krohn- Hansen und Nustad (2005: 12): „A modern state must be understood as produced by a broad and continuously shifting field of power relationships, everyday practices and formations of meaning.”

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