Migration and Conflict. The Integration of Burkinabe Migrants Displaced from Côte d’Ivoire
Andrea Riester
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Date of Defense | Tag der Verteidigung
28.01.2011
Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Günther Schlee
Prof. Dr. Richard Rottenburg
German summary | Deutsche Zusammenfassung
Diese Dissertation befasst sich mit der sozialen Integration burkinischer Migranten, die im Nachbarland Côte d’Ivoire[1] gelebt und gearbeitet hatten, 2002 im Zuge des Bürgerkrieges von dort vertrieben wurden und infolgedessen nach Burkina Faso zurückgekehrt sind. Im offiziellen Diskurs der burkinischen Regierung werden diese Vertriebenen als „rapatriés“, d.h. als ins Vaterland Zurückgeführte, bezeichnet. Die vorliegende Arbeit, die sich in der ethnologischen Transnationalismusforschung verortet, analysiert Prozesse der Interaktion der Vertriebenen mit der lokalen Bevölkerung sowie mit Vertretern der öffentlichen Verwaltung und die sich dabei aufbauenden Spannungen in der Kleinstadt Batié, einem Ort von rund 4.000 Einwohnern im Südwesten Burkina Fasos. Seit Gründung des Ortes in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Batié durch den kontinuierlichen Zuzug von Migranten aus anderen Teilen der Region gekennzeichnet, wodurch eine bemerkenswert friedliche multiethnische und multireligiöse Gesellschaft entstanden ist: Über 18 verschiedene ethnische Gruppen leben dort zusammen und interagieren auf vielfältige Weise.
Seit Beginn des 21. Jahrhundert hat sich der soziale Wandel im Südwesten Burkina Fasos beschleunigt: Einerseits haben Dezentralisierungsmaßnahmen die Anzahl der in der Regel auswärtigen Staatsbediensteten vor Ort stark erhöht und den Einfluss lokaler Politiker vergrößert, andererseits bringt die Ausweitung kapitalistischer Produktionsweisen zum Anbau landwirtschaftlicher Exportprodukte die lokale Subsistenzwirtschaft immer stärker in Bedrängnis, da der Zugang zu Anbauflächen erschwert und verteuert wird. In Batié verschärfte sich dieser Prozess seit dem Jahr 2002 durch die Ankunft und Neuansiedlung mehrerer hundert aus der Côte d’Ivoire Vertriebener. Während der ersten Monate erfuhren die Vertriebenen sowohl große Solidarität als auch direkte Unterstützung durch Freunde und Familien. Die Stadtverwaltung versorgte sie mit dem Lebensnotwendigen und stellte ihnen Baugelände zur Verfügung, auf dem sie sich neue Hütten bauen konnten. Bereits fünf Jahre später hatte sich jedoch der Blick auf die Vertriebenen gewandelt: Nun galten sie nicht mehr als bemitleidenswerte Opfer des Bürgerkrieges, sondern als gierige Kapitalisten, die vermeintlich im großen Stil Anbauflächen aufkaufen und dabei die traditionellen Landnutzungsrechte missachten. Die Verhandlungen zwischen den Vertriebenen und der lokalen Bevölkerung über den Zugang zu landwirtschaftlichen Anbauflächen waren in der Tat konfliktreich, zumal nationale und internationale Entwicklungsakteure die Migranten im Zusammenhang mit der internationalen Debatte über das Potential von Migration für die Entwicklung der Herkunftsländer als besonders vielversprechende, unternehmerisch handelnde Zielgruppe für ihre Entwicklungsprojekte entdeckt hatten, förderten und auf diese Weise die lokalen Konflikte noch verschärften. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung (2007/08) war aus dem Begriff „rapatrié“ ein Schimpfwort geworden, und ethnische Spannungen traten immer deutlicher zutage.
Die vorliegende Dissertation besteht aus sieben Kapiteln. Im ersten Kapitel wird der theoretische Rahmen der Arbeit und ihr Beitrag zur Theorieentwicklung erläutert. Ausgangspunkt hierfür ist die schlichte Feststellung, dass dort, wo Migration stattfindet, immer auch Integrationsprozesse ablaufen. Diese können jedoch unterschiedlich erfolgreich sein und hängen von den strukturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Aufnahmelandes sowie von den Ressourcen ab, die Migranten und Nicht-Migranten jeweils zur Verfügung stehen. Integration wird hier nicht als eindeutiger Ziel- und Endpunkt der Zuwanderung in eine klar definierbare Gesellschaft, sondern als fortdauernder Prozess innerhalb eines sich ständig wandelnden Umfeldes verstanden. Zunächst werden in Kapitel 1 zwei Arten von Integration betrachtet: Es wird unterschieden zwischen einerseits systemischer Integration als politischem Projekt zum Erhalt von (häufig fiktiver) nationaler Homogenität, sowie andererseits sozialer Integration, unter der Prozesse sozialer Interaktion auf lokaler Ebene verstanden werden. Besonders hervorzuheben ist dabei ein Interaktionsprozess, den Michel Callon (1986) „enrolment“ nennt, was im Deutschen mit „Rollenfestlegung“ wiedergegeben werden kann, und im Folgenden näher erläutert wird.
Im Globalen Norden spiegelt sich das politische Projekt der Integration hauptsächlich in den Debatten um Multikulturalismus versus Assimilation wider. In jüngster Zeit haben allerdings auch aufgrund der deutlich hervorgetretenen Schwierigkeiten mit diesen Ansätzen neuere Konzepte, wie etwa Diversität (Berger 2002; Faist 2009; Vertovec und Wessendort 2005), an Bedeutung gewonnen. Im Gegensatz dazu wird Migration in und zwischen westafrikanischen Ländern meist unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur wirtschaftlichen Entwicklung der Herkunftsländer diskutiert (z.B. durch die Geld- oder Know-How-Transfers der Migranten) oder aber bezüglich des dadurch verursachten Schadens (z.B. durch die Abwanderung von Hochqualifizierten), nicht jedoch in Bezug auf Integration von Migranten. Der Grund hierfür liegt in einem anderen Verständnis von Staatlichkeit in diesen Ländern im Vergleich zu denen des Globalen Norden: Erstens ist ethnische und religiöse Diversität eines der Hauptmerkmale afrikanischer Nationalstaaten, was die Betonung von Homogenität als Hauptbedingung von Integration in diesem Kontext geradezu absurd erscheinen lässt, zweitens ist in diesen Staaten, die sich meist als Herkunftsländer von Migranten verstehen, wirtschaftliche Entwicklung – und nicht Integration! – das oberste politische Ziel. Daher bilden Entwicklungspolitik und die damit einhergehenden Formen des Regierungshandelns (nach Foucault (1991) als „governmentality“ bezeichnet) den Rahmen, in dem sich die Interaktion zwischen Migranten und Nicht-Migranten in Westafrika abspielt. Debatten über Autochthonie insbesondere in Bezug auf ihre Auswirkungen auf Landrechte, regionale Freizügigkeit von Migranten innerhalb der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) sowie humanitäre Hilfe für Flüchtlinge sind nur drei Beispiele für die unterschiedlichen Arten, in denen Migration in Westafrika zum politischen Projekt wird. Politiken in diesen Bereichen beeinflussen zwangsläufig auch die soziale Integration von Migranten, die in vielfältiger Weise auf lokaler Ebene abläuft und als Interaktion zwischen Migranten, Nicht-Migranten und der öffentlichen Verwaltung verstanden werden kann. Dies gilt zwar auch für soziale Integration im Globalen Norden, jedoch ermöglicht erst eine eingehende Analyse der Süd-Süd-Migration, wie sie in dieser Dissertation vorgenommen wird, die interaktiven Aspekte stärker in den Mittelpunkt der Migrationsforschung zu rücken. Anhand des Beispiels von Batié kann man also einen unbefangenen Blick auf Prozesse der sozialen Integration werfen, der nicht durch ideologische Grabenkämpfe vorgeprägt ist.
Im zweiten Kapitel wird das ethnographische Material in seinen historischen Kontext eingebettet. Migration findet in Westafrika bereits seit vorkolonialer Zeit statt. Die Region ist aufgrund ihrer klimatischen Bedingungen schon immer ein Gebiet, dessen Bewohner außerordentlich mobil sind und ihre Wirtschaftsweise dem jahreszeitlichen Wechsel anpassen, etwa als Pastoralisten oder Wanderfeldbauern. Auch die Interaktion zwischen unterschiedlichen Gruppen führt zu Migration in Form von Handel, Heirat, Sklaverei oder Krieg. Während einige Gruppen sich auf bestimmte Wirtschaftsweisen spezialisierten und somit symbiotisch mit anderen Gruppen koexistieren und Handel treiben konnten, führte die Unterwerfung akephaler Gruppen durch stratifizierte Gruppen, die aufgrund straffer militärischer Organisation überlegen waren, zu vielfältigen Bevölkerungsbewegungen in Form von Vertreibung und Versklavung. All diese Migrationsformen wurden durch das Kolonialsystem noch verstärkt, insbesondere durch die Einführung von Plantagenwirtschaft, Transportinfrastruktur, Zwangsarbeit zur Erreichung dieser Projekte sowie einer Kopfsteuer, um dieselben zu finanzieren. Dadurch wurden die Menschen in Westafrika in Lohnarbeit integriert und ein Migrationssystem zwischen den Küstengebieten im Süden und der Sahelregion im Norden zementiert. Auch die Rekrutierung von Soldaten für die französische Kolonialarmee, für die sogenannten Tirailleurs Sénégalais, trug zur Verstärkung von Migration innerhalb Westafrikas und auf andere Kontinente bei, etwa in die französische Kolonie Indochina.
Darüber hinaus ist der Kolonialismus für die Festschreibung ethnischer Identitäten verantwortlich, die heutzutage vielerorts in Afrika als Waffen im Kampf um Ressourcen und Macht dienen. Das Gebiet des heutigen Burkina Faso wird dominiert durch die dort zahlenmäßig größte ethnische Gruppe, die Mossi, welche durch die Bildung von Königtümern und die Unterwerfung benachbarter Gruppen auch früh von den französischen Kolonialherren als wichtige Kooperationspartner angesehen wurden. Hingegen erwarben sich die akephalen Bevölkerungsgruppen, wie die Lobi, Dagara und Birifor im Südwesten, durch ihren erbitterten Widerstand gegen die Kolonialherrschaft den Ruf, rückständig und traditionsverhaftet zu sein. Trotz diesen Rufes nahmen und nehmen auch sie aktiv an regionaler Migration teil, um Geld verdienen zu können. In Kapitel 2 wird jedoch gezeigt, dass die Behandlung von Migranten, und damit deren Integrationsprozesse, stark davon abhängt, welche Ideologie die jeweilige Landesregierung verfolgt, so dass Migranten entweder als Quelle wirtschaftlichen Erfolges oder aber als Last für das Gemeinwesen dargestellt werden. Aus der individuellen Perspektive der Migranten und ihrer Familien hingegen gilt Migration immer als eine Möglichkeit, den eigenen Lebensstandard zu verbessern oder sich den wechselnden politischen und sozialen Umständen anzupassen.
Die folgenden vier empirischen Kapitel untersuchen Repräsentationen und Interaktionen von Migranten und Nicht-Migranten am Beispiel Batiés. Kapitel 3 gibt einen Überblick über die vorliegenden relevanten statistischen Informationen zu Burkina Faso, welche leider sehr unvollständig sind. Daher wurde im Rahmen der Feldforschung 2007/08 ein Mikrozensus durchgeführt, bei dem 200 Haushaltsvorstände in Batié befragt wurden. Dabei wurden ein alter und ein neu entstandener Sektor der Stadt miteinander verglichen, um auf diese Weise einen Eindruck von der ethnischen und religiösen Vielfalt sowie von der Migrationsgeschichte und den Migrationsmustern in dieser Gegend Burkina Fasos zu erhalten. Außerdem erlaubte der Mikrozensus, das sozioökonomische Profil der selbsterklärten rapatriés mit dem der lokalen Bevölkerung zu vergleichen. Zentrale Ergebnisse waren dabei unter anderem die enorme ethnische Vielfalt Batiés und die Erkenntnis, dass keine ethnische Gruppe dort eine Mehrheit bildet. Das Profil aller befragten Haushaltsvorstände, welche zu 91% männlich waren, erwies sich als städtischer geprägt als die Vergleichswerte für ganz Burkina Faso. Nur 39,5% der Befragten waren Subsistenzbauern, im Gegensatz zu rund 90% der Menschen in Burkina Faso insgesamt. Ebenso hatten immerhin 35,5% der Befragten eine abgeschlossene Grundschulbildung, im Gegensatz zu 20,1% in Burkina Faso insgesamt. Die selbsterklärten rapatriés unterschieden sich auch deutlich von den anderen Haushaltsvorständen: 95% von ihnen hatten keinerlei Schulbildung, und 65% lebten von Subsistenzwirtschaft. Während die westafrikanischen Gesellschaften aufgrund der oben beschriebenen historischen Entwicklung extrem mobil sind, erstaunt doch das Ausmaß und die Dauer der Mobilität, wobei die rapatriés sogar noch deutlich mehr Zeit im Ausland verbracht hatten, als der Rest der Befragten: 17½ Jahre im Vergleich zu 12½ Jahren im Durchschnitt. 83% aller Haushaltsvorstände hatten Migrationserfahrung in dem Sinne, dass sie bereits länger als ein Jahr an einem anderen als ihrem Herkunftsort gelebt und gearbeitet hatten, wobei Côte d’Ivoire das wichtigste Migrationsziel darstellte. Die Mehrheit der Befragten war aufgrund der Aussichten auf Arbeit und der Möglichkeit, sich selbst und ihre Familie besser versorgen zu können, nach Batié gekommen.
Die ethnische Vielfalt Batiés ist in den letzten hundert Jahren, seit der kolonialen Eroberung, fast kontinuierlich gestiegen. Mit Beginn der Krise in der Côte d’Ivoire, die durch die sogenannten „Ereignisse von Tabou“[2] 1999 markiert wurde, bei denen rund 60 Migranten getötet und über 15.000 vertrieben wurden, stieg die Anzahl der Neuankömmlinge in Südwesten Burkina Fasos und somit auch in Batié exponentiell an. Jedoch blieb die Zahl der selbsterklärten rapatriés in diesem Mikrozensus deutlich hinter den Erwartungen zurück. Dies deutet darauf hin, dass bei der Verwendung der Selbstbezeichnung „rapatrié“ ökonomische Vorteile, etwa des Zugangs zu staatlicher Unterstützung, gegen soziale Nachteile, etwa durch Vorurteile gegenüber rapatriés, abgewogen werden müssen, die im Rahmen dieser quantitativen Erhebung nicht darstellbar waren, sondern über qualitative Methoden erhoben werden mussten.
Daher analysiert das vierte Kapitel lokale Kategorien von Migranten und Nicht-Migranten, indem Lebensgeschichten präsentiert werden. Aus emischer Perpektive gibt es in Batié fünf Gruppen von Migranten und Nicht-Migranten, nämlich: 1) rapatriés, 2) interne Migranten, 3) Rückkehrer, 4) Autochthone und 5) Beamte. Die Kategorien 4 und 5 werden lokal als Nicht-Migranten interpretiert. Dies zeigt, wie wichtig es ist, die lokale Perspektive in die Untersuchung einzubeziehen. Denn obwohl sie als Nicht-Migranten gelten, sind die beiden Gruppen durch Migration geprägt: Als „autochthon“ gelten in Westafrika im Allgemeinen diejenigen, die ein bestimmtes Gebiet als erste besiedelt und damit Verfügungsgewalt darüber erworben haben (vgl. Lentz 1994). Ebenso kommen Beamte üblicherweise aus anderen Regionen des Landes, jedoch wird ihre Abordnung, die im Allgemeinen zeitlich begrenzt und meist reversibel ist, nicht als Migration im herkömmlichen Sinne verstanden. Die Einteilung der Bevölkerung in diese fünf Kategorien ist jedoch alles andere als eindeutig, da sich Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung häufig nicht decken und die Heterogenität innerhalb der Kategorien sehr hoch ist. Dies eröffnet einzelnen Individuen die Möglichkeit, die Kategorien zu ihrem Zweck zu instrumentalisieren und je nach Bedarf zwischen einzelnen Kategorien zu wechseln. Die in Kapitel 4 präsentierten Auszüge aus Lebensgeschichten zeigen, dass sich die betreffenden Personen häufig nicht mit der ihnen zugeschriebenen Kategorie identifizieren bzw. danach streben, als etwas anderes anerkannt zu werden, z.B. als autochthon. Die Selbstdarstellungen zeigen auch, dass Ethnizität in diesem Kontext beileibe nicht der wichtigste Identitätsmarker für Migranten ist, was in der früheren Transnationalismusforschung häufig vorausgesetzt wurde. Es ist daher ein erklärtes Ziel von Kapitel 4, die Situation in Batié nicht mehr durch die „ethnische Linse“ (Glick Schiller et al. 2006) zu betrachten, sondern stattdessen unterschiedliche Gruppen von Migranten und Nicht-Migranten zu präsentieren, ohne ihre Identitäten zu essentialisieren (vgl. Malkki 1995). Das Kapitel lenkt die Aufmerksamkeit auf Formen der sozialen Integration, die jenseits von ethnischer Identifizierung liegen, sowie auf die Interaktion zwischen Migranten, Nicht-Migranten und der öffentlichen Verwaltung. Erstere werden in Kapitel 5 vertieft untersucht, letztere in Kapitel 6.
Natürlich kann ethnische Identifizierung eine wichtige Rolle spielen und die Grundlage für Gruppenbildungsprozesse darstellen. Jedoch können auch andere Identitätsmarker diese Rolle übernehmen, wie etwa Religionszugehörigkeit oder Beruf. Die Marker können auch kombiniert werden, wie das Beispiel eines Vereins christlicher Mossi zeigt, das so vom internen Migranten Jaques Zongo in Abschnitt 4.2 erwähnt wird. Ethnische Identifizierung ist in Burkina Faso insofern von Bedeutung, als damit bestimmten Gruppen eine kollektive Geschichte sowie religiöse, berufliche und verhaltensmäßige Stereotypen zugeschrieben werden, was die Interaktion der Mitglieder unterschiedlicher ethnischer Gruppen beeinflusst. Gegenstand von Kapitel 5 sind neben ethnischer Identifizierung jedoch auch weitere mögliche Pfade sozialer Integration in Batié. Dort wird soziale Integration durch eine Reihe anderer Dinge beeinflusst, wie z.B. räumliche Nähe, etwa im Fall von Nachbarn, die im selben Stadtviertel oder Gehöft wohnen, oder gemeinsam verbrachte Freizeit, etwa in Kneipen, die das lokale Hirsebier (dolo) ausschenken. Außerdem bestehen transnationale Familienverbindungen, die zur simultanen Inkorporation (Glick Schiller et al. 1992) der Menschen in zwei Gesellschaften beitragen, was wiederum ihre Sichtweise auf ihre eigene ethnische und nationale Identifikation beeinflusst. Des Weiteren haben die burkinische Regierung und die dort vertretenen Entwicklungsagenturen zwei Modelle zur sozialen Integration der rapatriés angeboten. Diese Modelle werden mit Hilfe des Konzepts des „enrolment“, d.h. der Rollenfestlegung, von Michel Callon (1986) analysiert, mit dem es gelingt, die Ambivalenz zu erklären, die die lokale Bevölkerung gegenüber den rapatriés empfindet. Da die beiden von der Regierung angebotenen Modelle gegensätzlich sind, trugen sie dazu bei, das universell existierende Misstrauen gegenüber Neuankömmlingen lokal zu verschärfen. Rapatriés wurden nämlich entweder auf die Rolle der zu unterstützenden Opfer oder aber der in Entwicklungsprozesse einzubeziehenden Unternehmer festgelegt, was ihnen in beiden Fällen den Neid der lokalen Bevölkerung eintrug, die sich von der Regierung vernachlässigt fühlte.
Dies trug auch dazu bei, dass sich Konflikte auf lokaler Ebene verschärften. In Kapitel 6 wird erläutert, wie Landbesitz und -nutzungsrechte in Burkina Faso seit Jahrzehnten im Fokus der Entwicklungspolitik stehen. Bis vor wenigen Jahren war allerdings der Südwesten des Landes nicht Ziel diesbezüglicher Entwicklungsmaßnahmen, die den Anbau von landwirtschaftlichen Exportprodukten fördern sollen. Da die Expansion von deren Anbau in anderen Landesteilen, die an die nötige Exportinfrastruktur, wie Straßen und Eisenbahnstrecken, angebunden sind, ihre natürlichen Grenzen erreicht hat, rückt mittlerweile auch der Südwesten als neue Entwicklungsregion ins Blickfeld. Dies äußert sich beispielsweise in der zunehmenden Privatisierung und Monetarisierung von Anbauflächen, welche zeitlich mit der Massenankunft der Vertriebenen aus der Côte d’Ivoire zusammenfällt. Viele der Vertriebenen, die während ihrer Zeit in der Côte d’Ivoire keine Kontakte mehr zu ihren Familien in Burkina Faso gepflegt hatten und vielleicht ohne den Krieg gar nicht zurückgekehrt wären, ließen sich nach ihrer Rückkehr im Südwesten des Landes nieder, da dort noch keine Landknappheit und außerdem günstigere klimatische Anbaubedingungen herrschen als in anderen Teilen des Landes. Dies wiederum führte zu einer verstärkten Verknappung der Landressourcen im Südwesten, was Veränderungen des Zugangs zu Land bzw. dessen Landnutzungsrechten bewirkte.
Derartige Prozesse lassen sich gut an Verhandlungen zwischen Migranten, Nicht-Migranten und staatlichen Entwicklungsakteuren ablesen, von denen vier Beispiele in Kapitel 6 vorgestellt und analysiert werden. Das erste ist die Niederlassung von rapatriés in einem neuen Stadtviertel von Batié namens Bayiri Nooma („Das Vaterland ist gut“). Dabei zeichnete sich ein Streit zwischen einer kleinen Gruppe von Migranten, die sich von ihrem gemeinsamen Aufenthaltsort San Pedro in der Côte d’Ivoire kannten, und der Stadtverwaltung von Batié ab. Letztere nahm an, die rapatriés seien eine homogene Gruppe, was diese jedoch mitnichten sind. Die Verhandlungen über den Zugang zu Bauland zwischen dem Bürgermeister, dem Stadtrat und einem Sprecher der Gruppe aus San Pedro prägten das Bild aller rapatriés in Batié. Diese galten fortan als Mossi, die sich vermeintlich in einem eigenen Stadtviertel vom Rest der Bevölkerung von Batié abzugrenzen versuchten, was in der Feldforschung so nicht bestätigt werden konnte. Im zweiten Beispiel wird das code-switching (Rottenburg 2009[2002]) deutlich, dessen sich die burkinische Verwaltung in Batié bedient, um ihre Entwicklungsziele zu verfolgen. Im Zuge eines Projekts zur Förderung moderner Bewässerungs- und Anbaumethoden wird in Batié indirekt auch die Macht traditioneller Erdherren[3] gestärkt, die über den Zugang zu Land entscheiden und in diesem Projekt eine Rolle bei der Verteilung subventionierter Motorpumpen spielen, obwohl der burkinische Staat in anderen Zusammenhängen die Macht ebenjener Erdherren beklagt und abschaffen möchte. Das dritte Beispiel zeigt, dass auch die öffentliche Verwaltung in Batié keine homogene Einheit ist, sondern aus einer Reihe unterschiedlicher Institutionen mit potentiell konfliktiven Interessen besteht. Während die Ansiedlung einiger rapatriés in einem Naturschutzgebiet in der Nähe von Batié, dem Wald von Koulbi, beispielsweise durch den Provinzzweig des Forstministeriums scharf verurteilt und deren erneute Vertreibung angekündigt wurde, legitimierte das Bildungsministerium hingegen die Ansiedlung, indem es eine Schule in dem neu entstandenen rapatrié-Dorf bauen ließ. Das letzte Beispiel wiederum illustriert Hannerz’ Konzept der kulturellen Komplexität (Hannerz 1992), indem es das Gewirr von Kommunikationskanälen deutlich macht, die aus den Sphären von Staat, Markt und Alltagsleben fließen und sich teilweise kreuzen. Während die öffentliche Verwaltung den Anbau von Gemüse in Batié fördern und somit die Nahrungsmittelvielfalt erhöhen möchte und daher genaue Vorstellungen von der Nutzung des Stausees, der daran angrenzenden Schleuse und des zugehörigen Bewässerungskanals hat, verfolgen die lokale Bevölkerung und die rapatriés andere Ziele, etwa, sich und ihre Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Diese Ziele werden nicht in der gleichen Weise deutlich gemacht und laufen den Zielen der öffentlichen Verwaltung häufig zuwider.