The Global Nuer. Modes of transnational livelihoods

Christiane Falge
Dissertation Thesis | Doktorarbeit
submitted at | eingereicht an der
Philosophischen Fakultät I, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

OPAC

Date of Defense | Tag der Verteidigung
10.07.2006

Supervisors | Gutachter
Prof. Dr. Richard Rottenburg
Prof. Dr. Günther Schlee

German Summary - Deutsche Zusammenfassung

Im Zentrum der vorliegenden Studie steht der Globalisierungsprozess der Nuer und wie die Nuer in diesem Prozess ihre Lineage-Strukturen, die sich von Ostafrika aus durch die westliche Welt ziehen, nicht nur bewahrten, sondern sogar noch verstärkten. Ich werde mich in der Analyse dieses Prozesses auf die Rolle des Christentums konzentrieren, das in der Geschichte der Nuer einen besonderen Platz einnimmt und ihnen den Zugang zu einer bestimmten Form der Modernität gewährt. Die Fragestellungen, auf denen die Untersuchung basiert und auf die sich die neun folgenden Kapitel beziehen, lauten: In welcher Verbindung steht das Christentum mit dem Bedürfnis der Nuer, zu einer globalisierten Welt zu gehören? Welche Bedeutung hat Konversion für die Nuer und an welchem bestimmten Punkt tritt das Christentum in ihre Geschichte ein? Wie und warum wahren sie transnationale Identitäten und wie gestaltet sich ihr Verhältnis sowohl zu ihren Herkunftsländern als auch zu den USA? In welchem Verhältnis steht ihre strukturelle Verortung in den USA zu der Akzentuierung ihres Lineage-Systems?

Das erste Kapitel führt in die theoretische Orientierung der Dissertation ein und gibt sowohl Hintergrundinformationen über die räumliche Verteilung der Nuer in Dörfern, urbanen Zentren und in Flüchtlingscamps im Sudan, Äthiopien, Kenia und den USA als auch über die Bedingungen und Methoden der Feldforschung.

Im Zentrum der Arbeit steht eine Auseinandersetzung über die Begegnungen der Nuer mit Kolonialismus, Missionaren, Jahren des Bürgerkrieges und der Globalisierung und die durch diese Begegnungen geprägten alten und neuen sozialen Organisationen. Dabei wird argumentiert, dass die Verkettung von drei Dingen, und zwar 1. einem sich ändernden Lineage-System, 2. dem Christentum und 3. der Entstehung des Transnationalismus bei den Nuer zu dem Bedürfnis geführt haben, an westlichen Formen der Modernität teilzunehmen. Wichtig dabei ist jedoch, dass sie dies auf ihre eigene Art tun wollen. Die Betonung einer ‚Nuer-spezifischen’ Art der ‚Modernisierung’ bildet den roten Faden der Arbeit, der immer wieder auf die Schwachstellen einer auf universalen Meta-Narrativen beruhenden Modernisierungstheorie hinweist. Einen Beitrag zur Dekonstruktion der Modernisierungstheorie zu leisten, ist daher ein zentrales Anliegen der Dissertation. In der Beschreibung der sich globalisierenden Nuer wird sich einerseits von einer Sichtweise der die Globalisierungstheorie als radikal neuer Theorie distanziert, während andererseits dennoch argumentiert wird, dass der Transnationalismus die Migration auf bestimmte Weise verändert hat. Diese Veränderung stellt sich in einer Intensivierung der Migrationsprozesse und in der Tatsache, dass es sich bei den Migranten nun auch um untere Schichten wie die Nuer und nicht mehr nur um ‚Privilegierte’ handelt, dar. Migranten heben sich zunehmend durch einen Menschenrechtsdiskurs ab, der versucht, über eine Institutionalisierung die Marginalisierten in westliche Lebensstandards zu integrieren. Das Konzept des transnationalen Feldes bildet eine weitere theoretische Grundlage der Arbeit und grenzt sich sowohl von einem Container-Modell von Gesellschaft und Staat ab als auch von der unilinearen Herangehensweise konventioneller Migrationstheorien. Diese transnationale Herangehensweise möchte zeigen, dass Migranten, anstatt sich in einem Ankunftsland zu assimilieren und die Verbindungen zum Herkunftsland abzubrechen, gleichzeitig Verbindungen zu mehreren Staaten aufrechterhalten und sich mit ihnen identifizieren. Das Kapitel gibt auch einen Überblick über das Nuer-Christentum, welches sich im Gegensatz zu vielen Afrikanischen Pfingstler-Kirchen dadurch auszeichnet, dass die Mehrzahl der Nuer ihre ländlichen Lebensweisen nicht als ‚rückständig’ bezeichnen und dass sich die Beziehungen zwischen Christen und Nicht-Christen trotz gewisser Spannungen insgesamt durch gegenseitige Toleranz und der Verbindung zu einer gemeinsamen Vergangenheit auszeichnen. Ein wichtiger Aspekt dieser Verbindung stellt der Prophet Ngundeng Bong dar, dessen Prophezeiungen gleichermaßen von Christen und Nicht-Christen genutzt werden, um zentrale politische Ereignisse zu erklären. Diese Prophezeiungen, anhand derer die Nuer ihre Vergangenheit erklären, ihre Gegenwart versuchen zu verstehen und sich mit der Zukunft in Beziehung setzen, stellen den erzählerischen Rahmen dar, innerhalb dessen die Dissertation die transnationale Nuer Gesellschaft beschreibt.

The Global Nuer. Modes of transnational livelihoods - Dissertation Thesis

Kapitel II beginnt mit einem historischen Überblick über die Phasen der refugeeization („Verflüchtlingung“) und über die Militarisierung der Nuer in verschiedenen äthiopischen Flüchtlingslagern. Durch die Beschreibung der Flüchtlingslager und deren Funktion als Orte, an denen die Nuer Urbanität und größeren globalen Einflüssen ausgesetzt waren, können diese „Phasen“ und ihre verschiedenen Auswirkungen auf die Nuer voneinander abgegrenzt werden. Eine dieser „Phasen“ umfasst die traumatische Erfahrung der GAJAAK-Nuer. Ihr Gebiet wurde in den 1980er Jahren von der SPLA besetzt, und es blieb auch während des SPLA-GAJAAK-Krieges, der sich aus dieser Okkupation entwickelte, von 1985 bis 1987 besetzt. Es werden in diesem Kapitel die sowohl von der SPLA als auch von den GAJAAK-Nuer angewandten Kampfstrategien untersucht, wie z.B. die „göttliche Kriegsführung“ unter Einbindung von Nuer-Propheten (guk) und deren Auswirkung auf die soziale Ordnung der GAJAAK. Des Weiteren wird dargestellt, welche Folgen der Regierungswechsel in Äthiopien nach dem Sturz des Därg für die Nuer hatte, der eine Abwanderung von 300.000 Flüchtlingen in benachbarte Länder verursachte. Indem dargestellt wird, wie das Leben der Lokalbevölkerung und die lokalen Machtverhältnisse von größeren Machtstrukturen geprägt sind, werden die dramatischen Ausgänge, die diese Ereignisse auf das Leben der Menschen im südlichen Sudan genommen haben, analysiert. Dieser Regierungswechsel in Äthiopien hat indirekt die Befreiungsbewegung im Sudan beeinflusst, die mit dem Coup-Versuch dreier Kommandanten gegen John Garang angesichts der einsetzenden Nuer/Dinka-Spaltung ihren Anfang nahm und Fragmentierungsprozesse sowie Gruppen-Abgrenzung unter den Nuer umfasst. Daneben wird aufgezeigt, wie sich die Nuer in den Flüchtlingscamps der Fragmentierung ihrer Gesellschaft entgegenstellten, indem sie ihr Verwandtschaftssystem an diese Lebenslage anpassten und entfernte zu nahen Verwandten machten. Es wird argumentiert, dass Konflikte in den Flüchtlingslagern auch durch politische Interessen des äthiopischen Staates ausgelöst werden. Das Kapitel endet mit der Einführung eines Umsiedlungsprogramms für sudanesische Flüchtlinge in die USA in den frühen 1990er Jahren und damit aufkommenden Vorstellungen sowie prophetischen Voraussagen von Nuer-Flüchtlingen über die USA.

Anhand einer Definition von Gewalt als unvermeidlichem strukturellen Merkmal des Nuer-Lebens, welches zu höherer Systembindung führt, beschäftigt sich Kapitel III mit der alarmierenden Eskalation von Gewalt im Leben der Nuer und mit den verschiedenen Erklärungsmustern, die unterschiedliche soziale Kategorien der Nuer damit verknüpfen. Die Erklärung für Gewalt wiederum wird anhand von Erinnerungen, die die Nuer an den Kolonialismus und an den Bürgerkrieg haben, näher betrachtet.[1] Im weiteren Verlauf des Kapitels wird die Eskalation von Gewalt bei den Nuer aus einer historischen Perspektive betrachtet, indem gezeigt wird, wie der Staat versucht, Gewalt zu kontrollieren. Darüber hinaus werden die Funktionsweisen einer Reihe von Verwaltungssystemen dargestellt, die während der Kolonialzeit, aber auch während des Bürgerkriegs, Einfluss auf die politische Organisation der Nuer und insbesondere auf das Lineage-System hatten. Außerdem wird der Umgang mit verschiedenen lokalen und staatlichen Institutionen behandelt, wie die Nuer-Fehde, Konzepte von Verunreinigung oder das Rechtssystem. Durch eine historische Untersuchung dieser Institutionen und in Bezug auf unterschiedliche systemische Kontexte werden diese Institutionen mit der graduellen „Entbettung“ von Gewalt bei den Nuer in Beziehung gesetzt.[2] Durch die Präsentation verschiedener Fallstudien zu den Prozessen sozialen Wandels und zur Kriegsführung innerhalb der GAJAAK-Gesellschaft, wird versucht, die Integration von Gewalt in das alltägliche Leben nachzuweisen. Der Fokus der Betrachtungen liegt hierbei auf dem segmentären Lineage-System und auf den Prozessen der „segmentären Militarisierung“, die in den 1990ern zusammen mit den Phänomenen der „warlords“ und den „Märkten der Gewalt“ aufgetreten sind. Abschließend werden in diesem Kapitel die Dilemmata der älteren Generation, die einen Machtverlust gegenüber der jüngeren erlebt, im Kontext einer sich wandelnden Welt diskutiert. Dabei wird der Einfluss, den Krieg und Flüchtlingslager auf aufkommende Generationenkonflikte nehmen, untersucht und sich in diesem Zusammenhang verändernde Konzepte von Männlichkeit und Führerschaft sowie Geschlechterbeziehungen beschrieben.

The Global Nuer. Modes of transnational livelihoods - Dissertation Thesis


In Kapitel IV wird das Leben der Nuer-Flüchtlinge von heute, und der Einfluss, den das Flüchtlingsleben auf die Nuer-Gesellschaft als solche hat, näher betrachtet. Entgegen der Haltung vieler konventioneller Studien, in denen Flüchtlinge als hilflose Opfer betrachtet werden, wird aufgezeigt, dass es Menschen sind, die Handlungsvermögen (agency) und kulturelle Widerstandskraft besitzen. Dies wird in der Beschreibung dessen deutlich, wie die Nuer trotz des Mangels an Rindern im Lager weiterhin „Rinder-Hochzeiten“ praktizieren und in der Darstellung der Beziehung, in der diese Praktiken mit der Nuer-Identität stehen. Das Kapitel reiht sich in die Argumentationslinie der vorangegangenen ein, indem eine weitere Dekonstruktion der Meta-Narrative der Modernisierungstheorie erfolgt. Es wird argumentiert, dass mögliche Veränderungen, die durch Geld in einer Gesellschaft herbeigeführt werden könnten, durch die Betrachtung, wie die Gesellschaft Geld in ihre Transaktionssphären inkorporiert, erfasst werden kann. Dabei wird das spezifische Verfahren der Nuer-Flüchtlinge, Geld in ihre Transaktionssphäre zu inkorporieren anstatt ihre Transaktionssphäre dem Geld anzupassen, hervorgehoben. Mein Anliegen hierbei ist es, zu zeigen, wie selbst in einer Situation eines Flüchtlingslagers, in dem es nur sehr wenig Vieh gibt, die Nuer versuchen, ihre eigenen Transaktionssphären — solche in denen Rinder das Austauschmittel sind – separat aufrechterhalten. Die Analyse liefert Erkenntnisse darüber, wie Bedeutungen aus der Heimat — dort, wo die Nuer durch die Wirtschaftsform des Agropastoralismus autark lebten — in das Flüchtlingslager getragen werden, ein Ort, an dem sie auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Das Augenmerk wird hier auf die Anpassungsfähigkeit kultureller Bedeutungen gerichtet, indem auf die unterschiedlichen Transaktionssphären im Flüchtlingslager eingegangen wird. Diese Anpassungsfähigkeit wird auch durch den Vergleich von Heiratspraktiken der östlichen JIKANY, die nahe dem Lager leben und Zugang zu Rindern haben, mit den westlichen BENTIU, für die die Lager weit ab von ihren Dörfern liegen, untersucht. Während die eine Gruppe nur über Rindermetaphern agieren kann, können diejenigen, deren Dörfer sich in Lagernähe befinden, sowohl mit metaphorischen als auch mit echten Rindern bezahlen. Es wird hierbei zum einen untersucht, inwieweit diese Praktiken die Allianz-Konzepte unterstützen und Heiratsmuster stabilisieren, und zum anderen, wie diese Situation dennoch mit Wandlungsprozessen in Verbindung steht. Kapitel IV zeigt dabei, dass das Leben der Nuer in den Flüchtlingslagern sowohl Widerstandsfähigkeit und Kontinuität als auch Wandel aufweist.

Die Kapitel V und VI beziehen sich auf die lokale Besonderheit der Dreiphasen-Konversion der Nuer zum Christentum und bestimmter Einflüsse auf Vorstellungen vom Nuer-‚Selbst’, insbesondere in Bezug auf eine mögliche „Kapitulation“ der Konvertiten gegenüber einer kapitalistischen Hegemonie im Weberschen Sinne. Als Teil eines aktuellen Paradigmenwechsels in der Ethnologie im Zusammenhang mit dem Modernitätsbegriff wird hier ein globales Phänomen beschrieben, das mit einer lokalen Manifestation der Modernität im Zusammenhang steht. In diesen Kapiteln liegt daher der Fokus auf der lokalen Besonderheit des Nuer Christentums einerseits und auf dessen Einfluss auf ihre Globalisierung andererseits.

Kapitel V gibt einen geschichtlichen Überblick über die ersten zwei Phasen der Nuer-Konversion anhand einer Untersuchung des Kontakts äthiopischer Nuer mit Missionaren und der Verschiebungen christlicher Identitäten bis in die 1970er Jahre. Dieses Kapitel hebt das Handlungsvermögen (agency) der Konvertiten hervor, indem die christlichen Praktiken der Nuer während der Anwesenheit der weißen Missionare mit der Zeit danach verglichen werden. In seiner zweiten Phase, nach dem Verschwinden der Missionare, stellt das Christentum sowohl eine Verkörperung ihrer Kultur als auch eine moderne Bewegung dar. Des Weiteren wird sich in diesem Kapitel mit der Internalisierung der „zivilisiert-barbarisch“-Dichotomie, die von den Missionaren eingeführt worden ist, auseinandergesetzt. Gleichzeitig wird der Effekt, den die Eröffnung des Itang-Flüchtlingslagers 1983 auf die hohen Bekehrungsraten nach der Abreise der Missionare hatte, beleuchtet. Es werden lokale Diskurse über Konversion beschrieben und auf dessen Besonderheit im Falle der Nuer eingegangen. Diese beinhalten auch den Widerstand von Nicht-Christen, insbesondere der von den Nuer-Propheten gegen Christen. Es wird diskutiert, ob Nuer-Konvertiten auf radikale Weise mit ihrer Vergangenheit brechen oder ob sie Verbindungen mit ihr aufrechterhalten, und in welcher Beziehung christliche und nichtchristliche Sphären zueinander stehen. Anhand dieser Thematik wird ein Prozess beschrieben, in dem zunehmend in der zweiten Konversionsphase den religiösen Identitäten Lineage-Identitäten übergeordnet werden. Die Überordnung der christlichen Identität und die dadurch ausgelösten Machtkämpfe unter Christen sowie die zunehmende Institutionalisierung ihrer Kirche stellen eine Verbindung zu Kapitel IV her.

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Die dritte Phase der Konversion, die in Kapitel IV beschrieben wird, unterscheidet sich insofern von den ersten beiden Phasen, als sie sich in einer neuen Weltordnung, nämlich nach dem Ende des Kalten Krieges, vollzieht. Sie beschreibt einen Prozess, in dem die Nuer-Gesellschaft in die westliche Welt eintrat, ihr aber auch zugleich stärker ausgesetzt und von ihr penetriert wurde. Diese Phase löste im Zusammenhang mit globalen Kräften enorme Veränderungen bei den Nuer aus, die Implikationen für ihre politische Entwicklung und religiöse Landschaft mit sich führten. Der Effekt, den diese Kräfte auf die Nuer-Gesellschaft hatten, wird hier verdeutlicht, und es wird erklärt, warum die Migration der Nuer in die USA zu der Entstehung eines transnationalen Netzwerks führte. Es werden Einblicke in die Diskurse über die „Rückständigkeit“ der Nuer gegeben, die im Zusammenhang mit ihrer Öffnung gegenüber der Welt entstanden sind. Des Weiteren wird dem Bedeutungswandel des Christentums nach dem Ende des Kalten Krieges nachgegangen, indem der Fokus auf die enge Verbindung der US-Politik mit dem Einzug neuer, US-basierter protestantischer Kirchen in die postsozialistischen äthiopischen Flüchtlingslagern gerichtet wird. Dieser Bedeutungswandel macht das Christentum zu einer Ressource, um westliche Verbündete zu gewinnen. Dabei konzentriere ich mich auf das Bedürfnis christlicher Nuer, den Anschluss an Vorstellungen und Institutionen zu finden, die mit Fortschritt im westlichen Stil und mit der Entwicklung in der heutigen Welt assoziiert werden. Dafür werden Gründe erschlossen, die zu diesem Bedürfnis geführt haben. Nuer-Eliten und die von ihnen angewandten Mittel zum Aufholen mit der Welt spielen hierbei eine wichtige Rolle. In Bezug auf das Verlangen der Nuer, in ihrem Sinne modern zu werden, betrachtet dieses Kapitel die Diskurse über den Westen anhand einer Reflexion über Wissensquellen, Macht und über Gründe für die „Rückständigkeit“ der Nuer ebenso wie über Nuer-Konzepte der Modernität. Das Christentum in den 1990ern steht im Gegensatz zu der gegenseitigen Toleranz, die das Verhältnis zwischen Christen und Nichtchristen in früheren Phasen kennzeichnete, und es wird dargestellt, wie sich dies in der Betonung distinkter Identitäten und in der Verschärfung von Gruppengrenzen niederschlägt. Im letzten Teil dieses Kapitels werden die ersten Desillusionierungen mit dem Christentum angesprochen. 
Kapitel VII befasst sich mit einem der hervorstechendsten Aspekte der dritten Bekehrungsphase, nämlich mit dem Aufkommen eines segmentären Christentums. Unter Bezugnahme der anti-strukturfunktionalistischen Debatte der 1980er Jahre verbinde ich mein ethnographisches Material mit dieser Strömung, in der die Existenz der Nuer-Lineages und die Funktionalität des segmentären Lineage-Systems als Fiktionen abgetan wurden. Ich frage nach der Bedeutung und Signifikanz der Lineages im gegenwärtigen Kontext sozialen Aufruhrs und eskalierender Gewalt. Indem die Standpunkte zentraler Autoren wie Howell, Hutchinson und Douglas Johnson, die ebenfalls über die Nuer geschrieben haben, zusammengefasst werden, versuche ich meine eigenen Ergebnisse zu positionieren. Ich beziehe mich dabei auf Fragen nach dem Zusammenhang von Struktur und Individuum und nach dem Handlungsvermögen von Gruppen in der Nuer-Christentumspolitik. Anhand von Fallstudien über Kirchenversammlungen im Funyido-Flüchtlingslager werden Strategien der Allianzbildung innerhalb des segmentären Christentums diskutiert. Unter Anwendung von Schlees „Handlungstheorie“ (2004) auf meine Fallstudien befasse ich mich in diesem Kapitel 1. mit Strukturen, die Allianzen der religiösen Gemeinden zugrunde liegen; 2. mit Strategien der Exklusion und Inklusion bei der Gründung von Kirchen; sowie 3. mit wirtschaftlichen Gründen der Exklusion und Inklusion. Schließlich werden Spaltungsvorgänge innerhalb christlicher Gruppen im Flüchtlingslager mit ähnlichen Prozessen in den Dörfern verglichen.

In Kapitel VIII geht es um die Auswanderung der Nuer in die USA und ihren Anspruch, nicht mehr die Nuer ‚von früher’ zu sein. Dabei werden die Verbindungen zwischen Religion, der Schaffung eines transnationalen sozialen Feldes und dem Verlangen der Nuer, Teil „der Welt“ zu sein, beschrieben. Es wird dargestellt, wie Nuer-Migranten ihr Leben in einer Welt wahrnehmen, die sie sich bisher nur vorgestellt hatten, die aber einen wichtigen Bestandteil ihres „Modern-Seins“ bildete. Im Zentrum dieses Kapitels steht eine Analyse der Gründe für die zunehmende Bedeutung, die die urbanisierten Nuer in den USA ihren Lineages zusprechen, und die der Etablierung eines lineage-basierten transnationalen Feldes. In Anlehnung an Mitchells Argument (2001), den ‚Primordialismus von Ethnizität’ nicht als essentialisierte Identität, sondern als eine aus strukturellen Zwängen hervorgehende Konstruktion zu sehen, soll die Beziehung zwischen der Marginalisierung der Nuer in den USA und der Betonung ihres Lineage-Systems verdeutlicht werden. Anknüpfend an den Paradigmenwechsel in der Migrationstheorie beschreibt Kapitel VIII die simultane Inkorporation (Glick Schiller 2004) der Nuer in ihr transnationales soziales Feld. Dies wird anhand von transnationalen Brautpreisverteilungen und der Entstehung von Migrantenorganisationen empirisch veranschaulicht.

Die Darstellung ihrer Lebensweise in den USA knüpft an die Diskussionen über das ‚Modernsein’ der Nuer aus Kapitel VI an und verdeutlicht die Entbehrungen, die sie auf sich nehmen, und das Durchhaltevermögen, welches sie an den Tag legen, um ihrem Bedürfnis ‚mit der Welt aufzuholen’ nachzukommen. Nation-building ist ein zentraler Prozess, der aus diesem Bedürfnis hervorgeht und sich in Form von gleichzeitigen lineage-basierten Rücküberweisungen an die SPLA (Sudan Peoples’ Liberation Army), individuell basierten Rücküberweisungen in die Heimatregionen und Investitionen in ein „Heim“ und ein soziales Netzwerk in den USA darstellt. Auch in diesem Kapitel wird wieder die Handlungsfähigkeit der Nuer in Form eines sich in den USA einstellenden Werte-Konfliktes mit US-Amerikanern über verschiedene Konzepte von Wohlstand und Armut aufgezeigt. Trotz der übergreifenden Identifizierung mit dem Lineage Systems entstehen in den USA verschiedene Klassen von Nuer, die jeweils ältere oder neuere Formen sozialer Organisation unterstützen. Ähnlich der horizontalen Klassenkonflikte entstehen vertikale Generationenkonflikte zwischen der ersten und zweiten Generation, wobei letztere sich zunehmend als Afro-Amerikaner identifizieren, während erstere dieser Identifizierung über die Konstruktion einer urbanen Nuer-Identität Widerstand leistet. Das Kapitel VIII leitet schließlich in den Schlussteil, Kapitel IX, über.

The Global Nuer. Modes of transnational livelihoods - Dissertation Thesis


Kapitel IX beginnt mit einer Vignette über die Vorführung eines ‚Wunders’ durch den Leopardenfell Chef Wutnyang. Dieses Wunder findet auf einer von der Kirche organisierten Friedenskonferenz in Fangak, Sudan statt, an der Nuer-Migranten aus den westlichen Ländern mit urbanen und ländlichen Nuer aus dem Sudan, Kenia und Äthiopien zusammenkamen, um sich am Ende des Bürgerkrieges neu zu organisieren. Die Beschreibung dieser Konferenz am Ende der Dissertation bringt das Bestehen des transnationalen Feldes und die Partizipation der Nuer daran noch einmal auf den Punkt. Für die Gruppe der Nuer, die in der Dissertation beschrieben wurde, stellt Modernität eine wichtige Rahmenbedingung dar. Das nuerisierte Christentum mit seinen Lineage-Strukturen grenzt Formen der sozialen Organisation aus der Vergangenheit, wie dem Leopardenfellchef, dennoch nicht vollständig aus. Das Kapitel IX fasst zusammen, wie das segmentäre Lineage-System verschiedene Phasen der Nuer-Geschichte durchläuft und darauf reagiert. Durch ihre Erfahrungen in diesen verschiedenen Phasen haben die Nuer eine Form des christlichen Modernismus geschaffen, welcher nicht säkular und nicht individuell ist, sondern gleichzeitig sowohl von Lineages als auch von Religion geprägt wird – dem segmentären Christentum. Nach dem Fehlschlagen des Nationalismus, dem ‚Wegfegen’ des Sozialismus in den 1980ern und dem Fehlschlagen neoliberaler Weltbankprojekte im Afrika der 1990er Jahre ist das Christentum für die Nuer wie für viele andere Afrikaner eine mächtige Bewegung geworden, die insbesondere für die jüngeren Generationen Hoffnungen, Versprechungen und Gelegenheiten birgt, an einer globalisierten Welt teilzunehmen. Der Vergleich der Konversionsphasen zeigte dabei, dass verschiedenen Begegnungen mit Welt-Narrativen seit dem Kolonialismus zwar Bilder von Modernität formten, jedoch nicht zu einem universalen Modernisierungsprozess führten. Ebenso stellte sich heraus, dass die teilweise Akzeptanz der Nuer von kapitalistischen Lebenspraktiken keiner universalen Modernisierungslogik folgte, sondern sich auf die Wahrnehmung ihrer strukturellen Position innerhalb der Weltgesellschaft und die von den Missionaren eingeführten „zivilisiert/barbarisch“-Dichotomie gründeten. Die teilweise Annahme eines kapitalistischen Ethos führte zu starken Spannungen zwischen diesem Ethos und einem Lineage-System, welches Umverteilung einfordert. Die transnationalen Aktivitäten der Nuer haben verdeutlicht, dass es sich hier um eine Globalisierung von unten handelt, innerhalb derer Migranten sich für mehr Würde, Respekt und Gleichheit der Menschen in ihren Herkunftsländern einsetzen, sich mit Hilfe eines transnationalen Feldes gegen Rassismus und die Unverlässlichkeit der US Ökonomie schützen, und sie an grenzübergreifendem Nationalismus teilnehmen lässt. Die unterschiedlichen Fallstudien über das Lineage-System in den Camps und den USA haben schließlich auch ergeben, dass homo oeconomicus Hand in Hand mit homo socoologus handelt und beide gleichermaßen in Entscheidungen über Allianzbildung involviert sind – sowohl ökonomisches Interesse, Status und Struktur das Ergebnis einer Allianz beeinflussen.

Die Zusammenfassung endet mit dem Aufzeigen von zukünftigen Forschungsmöglichkeiten, die das Spannungsverhältnis der Christen zwischen einem kapitalistischen Ethos und der Lineage auf der einen Seite und dem Teilnahmeanspruch von Nicht-Christen an neuen Formen sozialer Organisation bei gleichzeitiger Erhaltung alter Formen weiterführend untersuchen könnten.



[1] Ich verwende „Erinnerung“ in diesem Zusammenhang in einem ethnologischen Sinne. S. hierzu Steward 2004, Pine et al. 2004 sowie Antze/Lambek 1996.

[2] Mit systemischen Kontexten sind der äthiopische und der sudanesische Staat sowie die SPLA gemeint.

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