Altai – Distinktion, Identität und Freizeit in einer wiedererstarkenden Tourismusregion

Die Republik Altai (im Südwesten Sibiriens) wird ein zunehmend beliebteres Urlaubsziel. 2007 lagen die Touristenzahlen bei 800.000 in dieser Republik (die 200.000 Einwohner hat). Viele Touristen kommen aus den städtischen Zentren Südwestsibiriens. Um zu verstehen, warum und wie diese Entwicklung zustande kommt, möchte ich meine Forschung nicht auf das Territorium der Republik Altai begrenzen, sondern mich vielmehr mit der Vorstellung und Umsetzung von Konsumformen in denjenigen Ballungsgebieten beschäftigen, aus denen die meisten Altai-Touristen kommen. Durch diese Herangehensweise lässt sich ermitteln, in welchem Umfang die Begegnung mit den Touristen zur Etablierung neuer Konsumformen unter den Altaibewohnern beiträgt bzw. diese überhaupt erst ermöglicht. Ferner liefert diese Herangehensweise Hinweise darauf, ob sich Fähigkeiten, Phantasie und Selbst- bzw. Kollektivwahrnehmung verändern. Somit fungiert die Erforschung des Tourismusbooms im Altai als ein ethnographisch-heuristisches Werkzeug, um die wachsende Diversifizierung von Lebensstilen in Südwestsibirien, ihre Mechanismen, Inspirationen und Grenzen zu untersuchen.

Da das Statistik-Kommittee der Republik Altai bisher Tourismus nicht als Gewerbe ausweist, haben wir lediglich die Gesamtzahl der einreisenden Touristen und sehr wenig Informationen zur Tourismusinfrastruktur überhaupt. Auf Grundlage der von mir 2004-2005 erhobenen Daten schlage ich eine vorläufige Unterscheidung von drei Hauptgruppen von Besuchern der Republik Altai vor. Die erste Gruppe, die meiner Meinung nach seit 2000 am schnellsten gewachsen ist, sind Konsumenten von „Mainstream“-Freizeitaktivitäten. Sie sind vor allem an der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, am ausgelassenen Feiern und an Erholung (chorošo otdochnut’) interessiert; gelegentlich verspüren sie auch den Wunsch nach einer Begegnung mit dem Exotischen, Anderen. Die zweite Gruppe sind Outdoor-Enthusiasten, die von der natürlichen Schönheit der Republik Altai angezogen werden und die sich mit Bergsteigen, Rafting und Segelfliegen beschäftigen. Die dritte Gruppe umfasst Menschen, die auf der Suche nach spirituellen Werten sind, darunter Anhänger von Nicolas Roerich, Ole Nydahl, Tengrismus-Interessierte und Umweltaktivisten. Viele derjenigen, die zu den beiden letzteren Gruppen zählen, kamen schon lange vor der wirtschaftlichen Konsolidierung der 2000er Jahre in das Altaigebiet. Obwohl auch ihre Zahl wächst, geschieht dies langsamer und ohne solch eine starke Verbindung zum wirtschaftlichen Aufschwung in Russland, wie sie im Bezug auf die erste Gruppe beobachtet werden kann.

Das Wachstum der Tourismusindustrie schafft eine willkommene Gelegenheit, das steigende Einkommen in den Ballungsgebieten Russlands in wirtschaftlich und sozial marginalisierte Gebiete umzuverteilen. Allerdings habe ich während meiner Dissertationsforschung den Eindruck gewonnen, dass die Mehrheit der Tourismusunternehmen Personen bzw. Firmen gehören, welche außerhalb der Republik Altai ansässig sind, manche davon sogar in St. Petersburg oder Moskau. Auch die angestellten Saisonarbeiter stammen nicht immer aus der Republik Altai. Sehr häufig trifft man auf Menschen aus Barnaul oder Bijsk (Städte in einer an die Republik Altai angrenzenden Region); diese finden sich sowohl in Schlüsselpositionen als auch in geringer qualifizierten Tätigkeiten der Tourismusindustrie. Tourismusunternehmen belegen häufig exklusive Standorte an attraktiven Orten, welche bislang gemeinschaftlich genutzt wurden und frei zugänglich waren (z. B. am Ufer des Flusses Katun'). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Entwicklung der Tourismusindustrie nicht nur Hoffnungen, sondern auch Spannungen zwischen den Bewohnern der Republik, Tourismusunternehmern, Angestellten und Touristen schürt.

Der Tourismus wird gerade zu einem Alltagsphänomen in der heutigen Republik Altai, so dass wir aus ethnologischen Untersuchungen in anderen Tourismusgebieten schlussfolgern können, dass die Dynamik in absehbarer Zeit eine tiefe Wirkung auf alle Lebensbereiche der Republik Altai haben wird.

Dieses Projekt ist Teil des Forschungsprogramms „Bedingungen und Limitierungen der Pluralität von Lebensstilen in Sibirien“ des Sibirienzentrums des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung. Auf der theoretischen Ebene wird es sich mit Fragen zum Themenfeld Lebensstil, Konsum und Freizeit auseinandersetzen.

Zur Redakteursansicht