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Die Abteilung ‚Recht & Ethnologie‘


Ziel der im Jahr 2012 gegründeten Abteilung „Recht & Ethnologie“ ist es, , die Disziplinen Recht und Ethnologie zusammenzuführen. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine fundierte interdisziplinäre Forschung, die sich sowohl auf juristische als auch auf ethnologische Ansätze stützt, sich bei einer steigenden Zahl hochaktueller Themen als großer Vorteil erweisen kann.

Rechtliche und kulturelle Verflechtungen in einer zunehmend vernetzten Welt

Wir leben in einer Zeit, in der die Gesellschaften auf der ganzen Welt – freiwillig oder nicht – immer stärker miteinander vernetzt sind, nicht zuletzt dank des rasanten technologischen Fortschritts.

Ein wichtiger Aspekt dieser globalen Vernetzung ist, wie sich normative Systeme und kulturelle Traditionen überschneiden und beeinflussen. Dadurch entstehen immer komplexere und dichtere Beziehungen zwischen diesen, die der näheren Untersuchung bedürfen. In den vergangenen Jahrzehnten sind zahlreiche völkerrechtliche Instrumente entwickelt worden, um die Wechselbeziehungen zwischen souveränen Staaten in vielen Bereichen zu regeln. Jenseits dessen wirft die wachsende Verflechtung jedoch auch neue Rechtsfragen auf einer schwieriger zu analysierenden Ebene auf, nämlich mit Blick auf die facettenreiche Realität der unterschiedlichsten normativen Systeme – seien sie religiös, ethnisch oder in irgendeiner anderen Hinsicht „kulturell“. Derartige normative Systeme treffen häufig in für die Akteur*innen unbekannten Kontexten und ohne deren erforderlichen Kenntnisse des jeweils anderen Wertesystems aufeinander, weshalb oft ein gleichwertiger Austausch schwierig ist.

Ein politisches Konzept, auf das häufig Bezug genommen wird, um solche Kollisionen unterschiedlicher Wertesysteme zu adressieren, sind die Menschenrechte und der Schutz der Grundfreiheiten. Viele (Rechts-)Ethnolog*innen stehen den universalistischen Annahmen, die dem Konzept der Menschenrechte zugrunde liegen, kritisch gegenüber. Diese kritische Haltung hat zweierlei Gründe. Zum einen wurden bis vor kurzem vermeintlich „universelle“ Menschenrechtsinstrumente hauptsächlich von Ländern des globalen Nordens ausgehandelt, die sich in der Nachkriegszeit untereinander auf die Definition und Auslegung der Menschenrechte verständigt haben. Zum anderen begegnen Ethnolog*innen im Rahmen ihrer Feldforschung alternativen Wertesystemen. Diese stehen nicht unbedingt mit der vorherrschenden Auffassung von Menschenrechten im Einklang, ermöglichen es aber unter bestimmten Umständen, den beteiligten Personen einen gleichwertigen (wenn nicht sogar nachhaltigeren) Schutz zu bieten.

Diese Wertesysteme prägen das Gemeinschaftsleben in vielen Teilen der Welt, und jedes für sich stellt eine Ordnung verbindlicher Normen dar. Durch die allgegenwärtige Globalisierung der Welt sind diese Ordnungen und Wertesysteme heute stärker miteinander verquickt als je zuvor. Deshalb gilt es, praktikable Lösungen zu finden und gegebenenfalls empiriebasiert zu entwickeln, um Missverständnissen, Spannungen oder sogar offenen Konflikten adäquat begegnen zu können.

Eine neue Grundlage für tiefgreifende interdisziplinäre Forschung

Das in den beiden Disziplinen Rechtswissenschaft und Ethnologie enthaltene Potenzial, sich gegenseitig zu stimulieren und zu bereichern, ist groß. Eine der maßgeblichen Stärken der Ethnologie besteht darin, dass sie Menschen und/oder Gemeinschaften insbesondere dann eine Stimme verleiht, wenn es um die von ihnen erlebten Lebenswirklichkeiten geht. Aufgrund der im Feld erworbenen Nähe zu Akteur*innen verfügen Ethnolog*innen über wertvolles Wissen über normative Ordnungen, Wertesysteme und menschliche Interaktionen, wodurch sie in der Lage sind, zu rechtlichen Lösungen konfligierender Situationen beizutragen. Durch die hierdurch gewonnene Perspektivenvielfalt kann ein stärkeres Bewusstsein und eine größere Sensibilität gegenüber diesen Personengruppen und Individuen ermöglicht werden.

Eine ethnologische Expertise, die sich des formellen Rechts bewusst ist und dessen Konditionierung berücksichtigt, findet in aller Regel ein deutlich aufmerksameres Gehör bei Jurist*innen und politischen Entscheidungsträger*innen. Hierdurch kann sie eine größere gesamtgesellschaftliche Wirkung erzielen, was erfahrungsgemäß wiederum positive Resonanzen auf ethnologische Expertise generiert. Eine Ausgangshypothese für mehrere von der Abteilung unterstützte Projekte lautet daher, dass eine tiefgreifende ethnologische Forschung, die sich zugleich tiefgründiger mit dem formellen Recht auseinandersetzt, eine erhebliche Wirkkraft entfaltet und somit die Bedeutsamkeit der Sozial- und Kulturanthropologie erhöht.

Recht und Ethnologie zusammenbringen: eine höchst anspruchsvolle Aufgabe

Die Abteilung unterstützt Wissenschaftler*innen darin, zu erforschen, inwieweit die Integration von Recht und Ethnologie es ermöglicht, Forschungsgebiete mit einer höheren Tiefenschärfe zu erfassen. Die Vorhaben der in der Abteilung tätigen Wissenschaftler*innen fördern den Blick über den disziplinären Tellerrand hinaus. So können sich Ethnolog*innen, die zu Rechtsfragen forschen und, umgekehrt, Jurist*innen, die sich der Methoden und Theorien der Ethnologie annehmen, in jedem Falle voneinander inspirieren lassen. Eine solche Interaktion ist durchaus herausfordernd und sollte keineswegs unterschätzt werden. Wissenschaftler*innen mit einer formalen Ausbildung in beiden Disziplinen sind die Ausnahme. Dies bedeutet, dass diese Herangehensweise von den Beteiligten abfordert, sich aus ihren wissenschaftlich sozialisierten Komfortzonen hinauszubegeben.

Für Ethnolog*innen, die sich mit dem Rechtlichen befassen, kann die Schwierigkeit darin bestehen, eine Verbindung zu jenen (formellen) Rechtsquellen und ‑instrumenten zu identifizieren, beschreiben und herzustellen, die für die von ihnen untersuchten Fragen relevant sind. Einige dieser Instrumente sind zudem im Laufe der Zeit in die Jahre gekommen, auch wenn sie noch Teil des geltenden formellen Rechts sind; andere, wie bestimmte internationale Konventionen, haben vor allem einen symbolischen Wert, sind demgemäß nicht unmittelbar anwendbar. Ethnolog*innen haben sich demzufolge auch mit Ansätzen der Rechtspraxis vertraut zu machen, um in einen allseits gewinnbringenden Austausch einzutreten, was wiederum Akzeptanz der eigenen Herangehensweise einbringt.

Rechtswissenschaftler*innen eröffnet die Übernahme des offenen, induktiven und empirischen Ansatzes der Ethnologie, welcher dem vorgegebenen Referenzrahmen nicht das gleiche Gewicht beimisst, neue Einblicke. Die erkenntnistheoretische Haltung der Ethnologie unterscheidet sich nämlich grundlegend von der der Rechtswissenschaften: Das Hauptziel besteht darin, zu verstehen, nicht zu bewerten oder zu verurteilen. Die Ethnologie ist eine von Natur aus kritische Disziplin. Die Abteilung ist bestrebt, diesen kritischen Impuls mit einer unvoreingenommener Wertschätzung der Arbeit der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaften zu verbinden, um sicherzustellen, dass diese Kritik auf einem soliden Verständnis sowohl der empirischen Daten als auch des betreffenden Rechtssystems beruht. Der rechtswissenschaftliche Ansatz ist per definitionem normativ und als solcher deduktiv. Kritische rechtswissenschaftliche Arbeit nimmt das geltende Recht, dessen Logik und historische Entwicklung zum Ausgangspunkt und zeigt mit Blick auf bestimmte Fälle die Limitationen seiner Anwendung auf. In diesem Sinne gehören zu den zentralen Aufgaben der Abteilung nicht nur die Forschung, sondern auch die Erstellung von Materialien für Richter*innen, Rechtspraktiker*innen und Wissenschaftler*innen (siehe z. B. das CUREDI-Datenbankprojekt) sowie Schulungen für Richter sowohl in Deutschland als auch im Ausland im Rahmen des Europäischen Netzwerks für die Aus- und Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten.

Eine Vielzahl von Themen

Die Annahme, dass angesichts der zunehmenden gegenseitigen Abhängigkeiten, die im heutigen globalen Umfeld vorherrschen, der reibungslose Ablauf angemessener Schutz- und Konfliktlösungsmechanismen – für Länder, Bevölkerungsgruppen, Gemeinschaften und nicht zuletzt für Einzelpersonen – oberste Priorität habe, wird auf den Prüfstand gestellt.

Dies zeigt sich in den bearbeiteten Forschungsthemen der Abteilung wie etwa dem Schutz der individuellen Würde obdachloser Menschen in städtischen Umgebungen; de facto-Familiensituationen, die rechtlich nicht anerkannt sind (Leihmutterschaft; sogenannten „hinkende“ Rechtsverhältnisse im internationalen Privatrecht, die das Recht herausfordern; Geschlechtsumwandlungen, die keine formelle Rechtswirkung haben, usw.); die Gewährleistung einer kulturell inklusiven Anwendung des Rechts im weiten Bereich der schuldrechtlichen Beziehungen zwischen Privatpersonen; die Wahrnehmung und Reaktion außerhalb Europas auf europäische Initiativen zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten; das generationenübergreifende Gedächtnis von Gemeinschaften, die extreme Gewalt oder sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlebt haben, und die auch nach mehreren Jahrzehnten noch immer auf die formelle Anerkennung ihres Leids sowie rechtliche und gesellschaftliche Wiedergutmachung hoffen.

Dies sind nur Beispiele, eine genauere Beschreibung sowohl einzelner als auch gemeinsamer Projekte,  sowie kürzlich abgeschlossener Projekte finden Sie auf den folgenden Seiten.

Forschungsförderung: verschiedene Formate

Die Interdisziplinarität der Forschung ist seit der Gründung der Abteilung ein wesentliches Merkmal. Wissenschaftler*innen aus aller Welt haben auf unterschiedliche Art und Weise dazu beigetragen und von der Unterstützung der Abteilung profitiert, unter anderem in Form von Promotionsprojekten und Doktorand*innenausbildung, Postdoc-Projekten, Aufenthalten unterschiedlicher Dauer von Gastwissenschaftler*innen, einschließlich Stipendiat*innen die ihre Dissertationen am Institut fertigstellen (sog. Writing-up fellowships). Weiter ist eine Vielzahl von Projekten zu nennen, die von externen Drittmittelgeber*innen finanziert wurden und werden, wie etwa dem Europäischen Forschungsrat (VULNER), der VolkswagenStiftung (Labour Governance in the Shipping Industry: An Anthropological Study of the ILO Maritime Labour Convention, 2006; Environmental Rights in Cultural Context) und dem Emmy Noether-Programm (The Bureaucratization of Islam and its Socio-Legal Dimensions in Southeast Asia). In geographischer Hinsicht liegt der Fokus dieser Projekte hauptsächlich auf dem europäischen Raum. Dort lassen sich die spezifischen rechtlichen Schwierigkeiten, die mit der Anpassung immer unterschiedlicherer Wertesysteme an das staatliche Recht einhergehen, auf vielfältige Art und Weise beobachten. Der Fokus auf Europa soll das Forschungsfeld aber nicht einschränken; vielmehr ermöglicht er es der Abteilung, sich zu spezialisieren und Fachwissen zu entwickeln, das über die akademische Welt hinaus anerkannt und angewendet wird.

Ein fortlaufendes Projekt


Nach etwas mehr als einem Jahrzehnt kontinuierlicher Bemühungen kann die Abteilung beeindruckende Erfolge vorzeigen, wie aus den einzelnen Profilen hervorgeht, die auf den folgenden Seiten ausführlicher vorgestellt werden. Dabei handelt es sich einerseits um messbare Ergebnisse wie Publikationen, wissenschaftliche Auszeichnungen und Professuren, andererseits um weniger sichtbare – aber keinesfalls weniger bedeutende – Leistungen wie tiefergehende Überlegungen, die Erschließung neuer Perspektiven oder Ansätze, die ohne Rückgriff auf eine intrinsisch interdisziplinäre wissenschaftliche Praxis nicht möglich gewesen wären (siehe z. B. das Oxford Handbook of Law and Anthropology; das Sonderheft des German Law Journal). Ein solches Projekt kann jedoch nie als abgeschlossen betrachtet werden. Die Abteilung ist bestrebt, die nächste Generation von Ethnolog*innen und Rechtswissenschaftler*innen auszubilden, damit sie dieses Experiment der intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Recht und Ethnologie fortsetzen können.

Dies sind nur Beispiele, eine genauere Beschreibung sowohl einzelner als auch gemeinsamer Projekte sowie kürzlich abgeschlossener Projekte finden Sie weiter hinten in diesem Dokument.

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