Vom Bleiben in Zeiten globaler Mobilität: Räume und Spielräume der Lebensgestaltung junger indigener Frauen im russischen Norden

Wie kann man sich in einem Zeitalter des globalen Ideals der Mobilität erklären, dass es einige Menschen gibt, die es vorziehen, "zu Hause" zu bleiben? Über Kulturen und Gesellschaften in Bewegung, über Landflucht, Reisetourismus und verschiedene andere Arten von Mobilität und Migration gibt es mittlerweile sehr viel Literatur. Dem Bleiben und Phänomenen der Nicht-Migration dagegen hat sich die Forschung bisher kaum gewidmet.

Das Projekt konzentriert sich auf Menschen im russischen Norden, genauer, auf Bewohner im Inneren der Halbinsel Kamčatka, insbesondere auf die indigene Gruppe der Evenen und unter ihnen v.a. die jungen Frauen. Die Evenen repräsentieren ein zahlenmäßig kleines, aber außerordentlich weit über den russischen Nordosten verstreutes Volk. Bis in die frühe Sowjetzeit hinein stützte sich ihre Subsistenz auf eine Verbindung aus Jagd, Fischfang und Rentierhaltung, was eine nomadische Lebensweise erforderte. Während der Schwerpunkt des Alltagslebens evenischer Männer heute nach wie vor überwiegend in Wald und Tundra liegt, leben evenische Frauen zum größten Teil in Dörfern. Junge Eveninnen zeigen trotz schwieriger lokaler Arbeitsmarktlage keine Neigung, die Dörfer zu verlassen. Warum ist das so, während in zahlreichen anderen Gebieten der Welt junge Leute aus wirtschaftlich schwachen Regionen abwandern, um sich in Städten eine eigenständige Existenz aufzubauen?

In dem Projekt geht es darum, die Spielräume der Lebensgestaltung junger indigener Frauen im russischen Norden in Abhängigkeit von ihrer Verortung in den räumlichen Sphären von Wald bzw. Tundra, Dorf und Stadt auszuloten. Untersucht werden zu diesem Zweck drei Bereiche aus dem Alltagsleben junger Eveninnen:

  1. die praktische wie auch symbolische Bedeutung von Wald bzw. Tundra, Dorf und Stadt als physische Räume,
  2. die Möglichkeiten des Lebenserwerbs sowie Strategien und Praktiken des Haushaltens und Konsumierens, d.h. wirtschaftliche Bedingungen in diesen drei räumlichen Sphären und
  3. die sozialen Beziehungen, mit denen junge Eveninnen innerhalb der verschiedenen Sphären jeweils umzugehen haben.



Die Untersuchung orientiert sich an der Frage, inwieweit sich mit diesen Bereichen Faktoren verknüpfen, die die Frauen zum Bleiben in den Dörfern veranlassen und sie von einem Leben in Wald bzw. Tundra oder der Stadt abhalten.

Auf theoretischer Ebene werden fünf konzeptuelle Bereiche zusammengebracht: "Lebensgestaltung", "Resilienz", "Agency" oder "Individuelle Entscheidungs- und Handlungsfreiheit", "sozialer Status" und "Migration":

Der Begriff "Lebensgestaltung" wird in Abgrenzung von "Lebensplanung" und ähnlichen Begriffen verwendet. Das Planen oder Entwerfen der langfristigen Zukunft hat in der westlich-europäischen Welt auf gesellschaftlicher und auch individueller Ebene einen hohen Stellenwert. Es ist aber kein natürliches Anliegen aller Menschen und entspricht auch keineswegs einer allgemeinen Notwendigkeit. Für manche Menschen hat die Bewältigung des bevorstehenden Morgens und vielmehr noch des gegenwärtigen Alltags Priorität. Dieser vergleichsweise enge zeitliche Horizont bringt entsprechende Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Freiheiten und Einschränkungen der Lebensgestaltung mit sich.

In Zusammenhang mit dem Begriff "Lebensgestaltung" wird der Begriff "Resilienz" gebraucht. Resilientes Verhalten kann sowohl Widerstand als auch Anpassung bedeuten. Dazwischen liegt ein breites Spektrum an Haltungen, die sich auf flexible Strategien des Sich-Durchlavierens stützen, mit dem Ziel, trotz widriger Umstände so gut es geht zurecht zu kommen, ohne sich in risikoreiche Konflikte zu stürzen, aber auch ohne die eigenen Interessen ganz aufzugeben. Solches Sich-Durchlavieren bildet den Grundton im gegenwärtigen Leben eines Großteils der indigenen Menschen im russischen Norden. So ist Resilienz ein charakteristischer Aspekt ihrer Lebensgestaltung.

Als drittes wird das Konzept von "Agency" oder "individueller Entscheidungs- und Handlungsfreiheit" herangezogen. Dahinter steht die Überlegung, dass die Lebensgestaltung indigener Menschen im russischen Norden durchaus mehr umfasst als Strategien des schieren Überlebens und der Befriedigung elementarer Bedürfnisse. Immerhin werden auch Freiräume des persönlichen Entscheidens und Handelns im Wunsch nach einem als "würdig" und "schön" empfundenen Leben gesucht und genutzt. Obgleich gerade die Situation indigener Frauen in dieser Hinsicht stark eingeschränkt erscheint, gilt es doch zu betonen, dass sie immer wieder vor einer Wahl zwischen verschiedenen Optionen stehen.

„Sozialer Status“ stellt ein viertes, für die Arbeit relevantes Konzept dar. Der soziale Status eines Menschen kann stark restriktive Wirkung auf seine Lebensgestaltung haben, z.B. in Hinblick auf die Entscheidung darüber, wo der Schwerpunkt seines Alltagslebens liegen soll. Das Verhältnis zwischen sozialem Status und lokaler Verortung ist allerdings kein einseitig gerichtetes, sondern hat den Charakter einer wechselseitigen Beziehung, wobei sich nicht ohne weiteres sagen lässt, welche der beiden Seiten dominiert. So ist nicht klar, ob indigene Menschen im Bystrinskij-Bezirk in den Dörfern leben, weil ihr sozialer Status sie dahingehend beeinflusst, oder ob ihr sozialer Status dadurch bedingt ist, dass sie in den Dörfern leben. Eines haben Beobachtungen jedenfalls erwiesen: Weder ein Leben in Wald bzw. Tundra, noch ein Leben im Dorf oder auch in der Stadt gewährt jungen Eveninnen eine uneingeschränkt vorteilhafte soziale Position. Der soziale Status kann also kein Faktor sein, der sie eindeutig diese oder jene räumliche Sphäre bevorzugen lässt. Zu ihrem Wunsch, in den Dörfern zu bleiben, tragen offenbar andere Faktoren stärker oder jedenfalls zusätzlich bei.

Dies führt zum fünften konzeptuellen Bereich, in den die Arbeit fällt, nämlich zur Migrationsforschung. Ausgehend von einem Beispiel der Nicht-Migration ergründet die Arbeit die Notwendigkeit, sich nicht nur mit den klassischen pull and push- oder Druck- und Sogfaktoren zu befassen, die zur Bewegung von ländlichen in städtische Gebiete führen, und die in der Migrationsliteratur vornehmlich thematisiert werden, sondern auch die entgegengesetzt wirkenden Kräfte zu betrachten, die Menschen zum Bleiben an bestimmten Orten und zum Fernbleiben von anderen Orten veranlassen. Diese Faktoren werden in der Arbeit als "Halte- und Abhaltefaktoren" bezeichnet.

Die Argumentation der Arbeit spitzt sich auf das Phänomen von Ortsbindung zu, das als ein zwar nicht allein entscheidender, aber doch wichtiger Grund für die Nicht-Migration der jungen Frauen identifiziert wird. Die Ortsbindung junger Eveninnen aus dem Bystrinskij-Bezirk ist zu einem wesentlichen Teil durch soziale, d.h. in erster Linie verwandtschaftliche Bindungen bedingt. Diese Bindungen haben einen stark emotionalen Charakter, was sie auf besondere Weise wirkungsvoll werden und zur Resilienz der jungen Frauen beitragen lässt. Die Einbindung in verwandtschaftliche Beziehungen ist v.a. in den Dörfern wirksam, wo die Fäden verwandtschaftlicher Netze zusammenlaufen.


References

ALTMAN, Irwin, and Setha M. LOW (eds.). 1992. Place attachment. New York: Plenum Press.
ARANGO, Joaquin. 2010[2000]. „Explaining migration: a critical view.“ In VERTOVEC, Steven (ed.), Migration. Bd. 1: Theories. London: Routledge. pp. 97-114.
ARDENER, Shirley. 1993. „Ground rules and social maps for women: an introduction.“ In ARDENER, Shirley (ed.), Women and space: ground rules and social maps. Oxford; Providence: Berg. pp. 1-30.
GIDDENS, Anthony. 1986[1984]. The constitution of society: outline of the Theory of Structuration. Cambridge: Polity Press.
HABECK, Joachim Otto. 2008. Conditions and limitations of life-style pluralism in Siberia: a research programme. Halle a.d. Saale: Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung. [= Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung, Working Paper 104]
KING, Alexander. 2004. „Social security in Kamchatka: rural and urban comparisons.“ In HANN, Chris (ed.), The postsocialist agrarian question. Münster: LIT. pp. 391-418.
LEE, Everett S. 1966. A theory of migration. Demography 3(1): 47-57.
Spain, Daphne. 1998[1992]. Gendered spaces. Chapel Hill; London: University of North Carolina Press.

Zur Redakteursansicht