Der öffentliche Kulturbetrieb in Sibirien: Kulturhäuser in der Region Novosibirsk

In meinem Forschungsprojekt untersuche ich das Kulturhaus (dom kul'tury), eine Institution, welche in Sibirien, der ehemaligen UdSSR und vielen anderen post-sozialistischen Staaten existierte und weiterhin existiert. Ich befasse mich mit der sozialen Bedeutung dieser Institution für ihre jeweilige Kommune, ihren Funktionen und alltäglichen Arbeitsbedingungen. Auch interessieren mich die künftigen Perspektiven der Institution Kulturhaus im Kontext aktueller Kulturpolitik im heutigen Russland.

Kulturhäuser sind bisher selten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung gewesen, obwohl sie eine zentrale Position im kommunalen Leben innehatten. Sie dienten als Orte kultureller Erbauung und Aufklärung (prosveščenie) ebenso wie der Selbstpräsentation der Gemeinde bzw. der Belegschaft eines Betriebes. An vielen Orten dienen sie auch weiterhin diesem Zweck. Freizeitaktivitäten, welche im Kulturhaus geprobt und aufgeführt werden, werden im Allgemeinen mit positiven Assoziationen verbunden: ästhetischer Genuss und Freude, Solidarität und Gemeinschaft sowie die feierliche Stimmung besonderer Ereignisse (im Gegensatz zu der Eintönigkeit des Alltags).

Allerdings repräsentieren die Aktivitäten des Kulturhauses nicht nur Unterhaltung, sondern auch das Bemühen, das in die Vervollkommnung des Selbst als Mitglied der Gemeinschaft fließt. Die zu sozialistischen Zeiten sehr explizit betriebene Bildungs- und Zivilisierungsmission des Kulturhauses existiert auch weiterhin, wenn auch in einer subtileren Form. Das Kulturhaus ist ein Ort, wo staatliche Vorgaben im Bereich der Bildungs-, Kultur- und Jugendpolitik umgesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist die gegenwärtige Rückbesinnung auf die patriotische Erziehung (patriotičeskoe vospitanie). Somit ist das Kulturhaus an der Bildung, Durchsetzung und Aufrechterhaltung kollektiver Identitäten und eines Gemeinschaftssinns in vielfältiger Weise beteiligt. Auch ethnische Identitäten werden im Kulturhaus in folklorisierter, politisch korrekter Weise zur Schau gestellt. Die sozialen und politischen Motivationen hinter der Folklorisierung von Ethnizität und die Mechanismen, durch welche sie erfolgt, verdienen es, intensiver erforscht zu werden.

Auf der Basis dieser Beobachtungen habe ich folgende Forschungsfragen formuliert:

  • Welchen Platz hat das Kulturhaus im Gefüge der kommunalen Bildungseinrichtungen? Welches Spektrum von Freizeitaktivitäten deckt es für die lokale Bevölkerung ab?
  • Wie sehen die Angestellten des Kulturhauses die Beziehung zwischen Erholung und Bildung im Tätigkeitsprofil ihrer Institution, und welche Meinungen und Wünsche äußern die Besucher/innen in dieser Hinsicht?
  • Welche Faktoren beeinflussen den Umfang, die Intensität und die Qualität der Arbeit, den allgemeinen Erfolg (oder Misserfolg) des Kulturhauses und die Anerkennung seiner Rolle seitens der Lokalbevölkerung?
  • In welchem Maße und auf welche Arten repräsentiert das Kulturhaus das “öffentliche Gesicht” der Gemeinde, und welchen Beitrag leistet es somit zum Zusammenhalt der Gemeinde?
  • Welche Segmente der Bevölkerung bleiben von der Arbeit des Kulturhauses unberührt bzw. unbeeindruckt, und weshalb? Gibt es soziale Gruppen, welche implizit oder explizit das vom Kulturhaus propagierte Kulturkonzept ablehnen, und wenn ja, aus welchen Gründen?


Meine Feldforschungen zur Situation von Kulturhäusern fanden im Frühjahr 2006 in Kolyvan', einer Kleinstadt unweit von Novosibirsk, und im Frühjahr 2007 in Novosibirsk selbst statt. Meine Studie ist Teil des vergleichenden Forschungsprojekts „Die soziale Bedeutung des Kulturhauses“, welche von Wissenschaftler/innen des Sibirienzentrums und ihren wissenschaftlichen Assistent/innen durchgeführt wurde (Feldforschungen an fünf Orten im Frühjahr 2006). Ein Sammelband mit den Ergebnissen der komparativen Studie erscheint 2011. Auf der Basis meiner eigenen Forschungen bereite ich zur Zeit eine Monographie vor.

Ich beabsichtige, die Forschungsergebnisse mit den folgenden sozialwissenschaftlichen Themenfeldern zu verknüpfen:

  1. Selbstdarstellung, Repräsentation und Performanz (durch Untersuchungen, wie im Kulturhaus als einem öffentlichen Raum die Auffassung von Selbst, kollektiver Identität und Gemeinschaftszusammenhalt ausgedrückt, behauptet und verhandelt werden);
  2. die Soziologie der Freizeit in urbanen/ländlichen Gemeinschaften in Sibirien (durch Untersuchungen, wie Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und sozialer Hintergründe ihre Freizeit verbringen, wie sie verschiedene Aktivitäten für sich „entdecken“, und wie einflussreich solche Aktivitäten in der Ausdrucksweise bestimmter Lebensstile sind);
  3. die Rolle kultureller Institutionen und ihrer Angestellten in der Bildungs- und Jugendpolitik (durch Untersuchungen, wie genau sich die Angestellten des Kulturhauses an dem staatlich verordneten Projekt der patriotischen Erziehung beteiligen);
  4. allgemeine Auffassungen von “Kultur” und ihren räumlichen Aspekten (durch Untersuchungen, wie Menschen die Begriffe kul’tura und tsivilizatsiia mit verschiedenen Lokalitäten, Orten und Regionen in Beziehung setzen). Dies ist die Fortführung eines früheren Forschungsprojektes mit dem Titel 'Cultured' places in an 'uncultured' landscape (2003-2005), dessen Ergebnisse in folgenden Veröffentlichungen dargestellt sind:


Habeck, J. O. 2005. ‘Gender and Kul’tura at the Siberian and Northern Russian Frontier’. In: Haukanes, Haldis & Frances Pine (eds): Generations, Kinship and Care: gendered provisions of social security in Central Eastern Europe, pp. 189-206. Bergen: University of Bergen, Centre for Women’s and Gender Research.

Habeck, J. O. 2006. “Gender, ‘kul’tura’, severnye prostory" [Gender - Kultur - nördliche Weiten]. Etnografičeskoe obozrenie 2006 (4): 59-68

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