Küstendörfer: Wirtschaft, Infrastruktur, Gemeinschaft und Tourismus (am Beispiel der Tersker Küste, Region Murmansk)

Das Forschungsprojekt untersucht die Veränderungen der Lebensstile in den Dörfern an der Tersker Küste am Weißen Meer im Nordwesten Russlands. Veränderungen in den folgenden Bereichen werden analysiert: Arten des Reisens; Infrastruktur; Fischereiwirtschaft und -verordnungen; Tourismusentwicklung.

Die Menschen, die an der Tersker Küste leben, werden traditionell Pomoren genannt und als eine regionale Untergruppe der russischen Bevölkerung betrachtet. Die Tersker Küste unterscheidet sich wirtschaftlich von anderen Regionen Russlands: Die Fischerei ist seit jeher die Hauptbeschäftigung und Einnahmequelle in diesem Gebiet.

In den letzten zwanzig Jahren haben die Dörfer an der Tersker Küste einen bedeutsamen Wandel erlebt, was die Arten des Reisens betrifft, die sowohl für die ortsansässigen Bewohnerinnen und Bewohner als auch für die verschiedenen Besuchergruppen zur Verfügung stehen.

1. Die Beförderung entlang der Küste verlief früher hauptsächlich per Flugzeug und auf dem Wasser. Durch die Verschlechterung des Flugverkehrs als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und durch den Bau einer Küstenstraße in den 1990er Jahren, durch die einige Dörfer infrastrukturell erschlossen wurden, veränderten sich die Arten der Beförderung grundlegend. Ein Ergebnis war, dass einige Dörfer besser erreichbar wurden, während sich für andere genau das Gegenteil ergab. In meiner Untersuchung möchte ich den Wirkungen nachgehen, die diese Faktoren auf die Bevölkerungsdynamik und die sozioökonomische Situation in den Dörfern haben. Insbesondere werde ich mich darauf konzentrieren, inwiefern Abweichungen in der Erreichbarkeit lokale Unterschiede hinsichtlich wirtschaftlicher Strategien, Identitätsfragen und Einstellungen zu natürlichen Ressourcen in den Dörfern hervorgebracht haben.

2. Die Tersker Küste stellt ein ländliches Gebiet in der ansonsten stark städtisch geprägten Region Murmansk dar. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen viele Menschen infolge des Zerfalls des Kolchosensystems aus den Dörfern in die Städte. Ende der 1980er Jahre und auch in den frühen 1990er Jahren begannen diese Menschen zurückzukehren, weil sie ihr Rentenalter erreicht hatten und sich wieder in ihrem ländlichen Heimatgebiet niederlassen wollten. Außerdem konnten sich viele von ihnen eine Reise in den Süden des Staates [z.B. die Urlaubsgebiete am Schwarzen Meer] aufgrund von wirtschaftlichen Härten nicht mehr leisten und waren so gezwungen, ihre Erholungsgepflogenheiten zu verändern. In dieser Hinsicht konzentriert sich die Untersuchung auf den Wandel lokaler Identitäten und der Funktion von sozialen Netzwerken in den Dörfern als Auswirkungen der Migration von der Stadt aufs Land.

Neuere technologische und infrastrukturelle Veränderungen wie die Verbreitung der Kommunikation per Internet und der Straßenbau haben die Dörfer vielfältig beeinflusst. Erstens besucht eine wachsende Zahl von (zumeist aus den Städten kommenden) Nicht-Einheimischen die Tersker Küste. Ich möchte die Faktoren untersuchen, die die Menschen zu einem Besuch der Dörfer an der Küste veranlassen, sowie die Folgen, die solch eine saisonale Zuwanderung auf die lokalen Verhältnisse hat. Mein Interesse gilt sowohl den tatsächlichen / physischen Räumen, die die Menschen von woanders an der Küste erleben als auch den virtuellen / internetbasierten Räumen, die infolge der Besuche entstehen können. In diesem Zusammenhang steht die Analyse von Webseiten, Blogs, Foren und anderen Online Communities, die Menschen nach ihren Küstenbesuchen gegründet haben.

Die Kommunikation per Internet ist gerade für die jüngere Generation, die aus den Dörfern in die Städte gezogen ist, zu einem Medium geworden, über das sie eine Verbindung zu ihren Herkunftsorten herstellen bzw. aufrechterhalten können. Beispielsweise entstehen virtuelle Gemeinschaften von Leuten, die aus demselben Dorf stammen. Um einen tieferen Einblick in diese Art der Beschäftigung mit dem Raum [und seiner Geschichte] zu gewinnen, möchte ich eine Webseite über die Tersker Küste erstellen, die Unterseiten zu einzelnen Dörfern beinhaltet. Ich plane, die Interaktionen von Leuten untereinander und mit dieser Seite zu beobachten und das Wechselspiel von Identitäten mittels dieses Kommunikationsmediums zu ergründen. Die Leute werden ermutigt, ihre Photographien und Beschreibungen ihrer Heimatdörfer zu veröffentlichen sowie Neuigkeiten und Meinungen zu lokalen Fragen auszutauschen.

Die gegenwärtige Entwicklung von ökologischem und kulturellem Tourismus in Russland hat die Entstehung von neuen Betätigungen in den Dörfern an der Tersker Küste befördert. Beispielsweise bieten die Leute den Gästen Unterkunft, Transport und Orientierung. Solche Betätigungen haben spezielle Auswirkungen auf die örtlichen Verhältnisse: sie haben zu Spannungen zwischen der Dorfbevölkerung und den Behörden, insbesondere der Kolchosverwaltung, geführt und kontroverse Meinungen über den Verlust und die Bewahrung von örtlicher Kultur und Traditionen hervorgebracht. Ich möchte deshalb die Auswirkungen der Tourismusförderung in diesem Gebiet untersuchen und die Diskurse, Praxen und Repräsentationen erforschen, welche damit einhergehen.

Es gibt noch manche weiteren Faktoren, die zu einer Differenzierung von Lebensstilen an der Tersker Küste geführt haben. Beispielsweise wirken sich Reformen in der Fischereigesetzgebung und in der allgemeinen Nutzung natürlicher Ressourcen auf das Leben der Menschen aus, besonders in der Sphäre des Reisens und der sozialen Netzwerke. Ferner verändert die jüngste Umsetzung der beschlossenen Kommunalreform in Russland das lokale Gefüge nachhaltig, indem sie bestehende Machtverhältnisse in Frage stellt und einen Wandel der Lebensbedingungen herbeiführt. Die Betrachtung der örtlichen Besonderheiten in der Umsetzung einer russlandweiten Gesetzgebung ermöglicht es, die Faktoren, welche die Bedingungen und Limitierungen von Lebensstilen im heutigen Russland gestalten, in ihrem Zusammenspiel genauer zu verstehen.

Die hier skizzierten Fragen sollen anhand der Situation in zwei Dörfern an der Tersker Küste untersucht werden.

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