Plurale Weltinterpretationen. Das Beispiel der Tyva Südsibiriens

Publikation

Plurale Weltinterpretationen. Das Beispiel der Tyva Südsibiriens. Fürstenberg/Havel: SEC Publications/Kulturstiftung Sibirien gGmbH. (peer-reviewed, 340 Textseiten, Zusammenfassungen in Englisch und Russisch (jeweils 11 Seiten), drei Karten, 104 Farbfotografien sowie 13 Zeichnungen, zur Veröffentlichung angenommen, erscheint im Januar 2013)

Abstract

Plurale Weltinterpretationen praktizieren wir täglich, meist ohne uns darüber bewusst zu sein. Zustande kommen sie durch die gleichzeitige und gleichwertige Existenz verschiedener Modelle der Weltinterpretation. Sie sind Produkte menschlicher Schöpferkraft und stehen als parallele Realitäten einander ergänzend und einander widersprechend nebeneinander. Das Buch führt am Beispiel der Tyva Südsibiriens in zwei Modelle der Weltinterpretation und in die Praxis des Umgangs mit ihnen ein. Es zeigt, wie einzelne lokale Akteure zwei von mehreren Modellen flexibel zum Einsatz bringen, um Situationen zu deuten und in ihnen zu handeln. Es wird deutlich, welchen Regeln die Tyva dabei folgen, welche Gründe sie leiten und welche Folgen sie zu tragen haben. Das Ergebnis ist ein Bild zeitgenössischer Kultur, das der gegenwärtig gegebenen Flexibilität und Pluralität des menschlichen Deutens, Handelns und Verhaltens gerecht wird.

Zusammenfassung

Der Titel Plurale Weltinterpretationen steht für die aktuelle und weltweit beobachtbare Pluralität an Modellen der Weltinterpretation und die menschliche Fähigkeit, flexibel mit diesen umzugehen. Am Beispiel der Tyva Südsibiriens stellt vorliegende Studie zudem eine Alternative zu geisteswissenschaftlichen Arbeiten dar, die Kulturen in Kategorien, wie „Tradition“ und „Moderne“, beschreiben. Anstatt einer strengen Unterscheidung zwischen traditionellen und modernen Kulturen oder Kulturelementen, steht im Zentrum vorliegender Arbeit die Beschreibung ihres Miteinanders. Darüber hinaus soll der Begriff „Plurale Weltinterpretationen“ helfen, die für diese Aufgabe notwendige erweiterte Perspektive einzunehmen, die Tradition und Moderne gleichberechtigt nebeneinander zeigt.

Folgende Definition soll uns den Gebrauch des Begriffs in vorliegender Arbeit verdeutlichen: Plurale Weltinterpretationen bezeichnen menschliches Deuten und auf diesen Deutungen basierendes Handeln und Verhalten. Sie beruhen auf dem flexiblen Einsatz verschiedener gleichzeitiger und gleichwertiger Modelle der Weltinterpretation. Als in sich stimmige Systeme von Inhalt und Struktur gehören die Modelle der Weltinterpretation sowohl einander ergänzend als auch einander widersprechend zum Wissens-, Verhaltens- und Handlungsrepertoire eines Menschen.

Nach einer ausführlichen Einführung in das Konzept Plurale Weltinterpretationen werden am Beispiel der animistisch-schamanistischen Tyva Südsibiriens zwei Modelle der Weltinterpretation erfasst und beschrieben. Unter den Bezeichnungen Dominanz- und Interaktionsmodell wird nach stabilen strukturellen Merkmalen gesucht und die Veränderlichkeit der jeweiligen Inhalte beleuchtet. Das spezifisch tyvanische Dominanzmodell orientiert sich an der modernen Auffassung einer „menschlichen Dominierung der Umwelt, bestehend aus eher passiven Objekten menschlichen Wirkens.“ Ihm gegenüber steht im tyvanischen Alltag das spezifisch tyvanische Interaktionsmodell. Es geht aus von „Interaktionen in einer den Mensch ein- und umschließenden Welt, bestehend aus menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten.“


Da mehrere Modelle der Weltinterpretation gleichermaßen zum Wissens-, Verhaltens- und Handlungsrepertoire einzelner lokaler Akteure gehören, verwendet die Arbeit viel Raum auf die Darstellung des flexiblen Umgangs mit ihnen. An zahlreichen Beispielen wird nachvollzogen, wie einzelne Tyva beim Deuten von Erlebnissen oder beim Handeln und Verhalten in Situationen, sinnvoll zwei Modelle der Weltinterpretation nach Kontext und Bedarf zum Einsatz bringen, indem sie das eine durch das andere ersetzen oder beide mischen bzw. ergänzen. Dabei wird analysiert, welchen Regeln der flexible Einsatz der Modelle folgt. Gründe und Konsequenzen eines Wechsels der Deutungsmodelle kommen ebenso zur Sprache, wie die Unterscheidung zwischen spontanem und strategischem Wechsel der Laien bzw. professionellem Wechsel tyvanischer Schamanen.

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