Offiziell anerkannte und nicht anerkannte Gemeinschaften der nicht-indigenen Bevölkerung der Baikalregion in der postsowjetischen Periode: Limitierungen von Lebensstilen unter den Bedingungen einer sich entwickelnden Infrastruktur
Das Gebiet des Baikalsees (Südostsibirien), das die Region Irkutsk und die Republik Burjatien einschließt, ist ein multiethnisches Gebiet, in dem Menschen aus mehr als 100 verschiedenen Nationalitäten leben. Neben den bevölkerungsstärksten ethnischen Gruppen – den Russen und Burjaten –, ist es die Heimat von (zahlenmäßig relativ kleinen) nicht-indigenen Gemeinschaften. Als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Bildung eines neuen Russland haben sich die Lebensumstände und Lebensstile der nicht-indigenen Bevölkerungsgruppen im Vergleich zu den anderen Gruppen in Südostsibirien tiefgehender verändert. Im Allgemeinen wird die heutige nicht-indigene Bevölkerung von den Nachfahren der Zwangsumsiedler ("ssylnye") und der freiwilligen Siedler aus der Vorkriegszeit, von früheren Brigademitgliedern der großangelegten Industrieprojekte der Sowjetzeit und von erst in den letzten Jahren zugewanderten ausländischen Arbeitskräften repräsentiert. Mit der Demokratisierungs- und Unabhängigkeitswelle seit Beginn der 1990er Jahre haben viele nicht-indigene Diasporagruppen in der Baikalregion ihre nationalkulturellen [ethnokulturellen] Organisationen gegründet und dadurch rechtliche Anerkennung erhalten. Gleichzeitig sind einige nicht-indigene Gemeinschaften, besonders diejenigen, die aus den kürzlich gekommenen Zuwanderergruppen bestehen, bisher ohne öffentliche Anerkennung geblieben, wodurch ihre sozialen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind.
Vor diesem Hintergrund liegt das Ziel des Forschungsprojekts einerseits darin zu untersuchen, in welchem Maße die Aktivitäten der staatlich anerkannten nationalkulturellen Organisationen angesichts einer sich wandelnden Wirtschaft und einer sich entwickelnden Infrastruktur in der Region Irkutsk und der Republik Burjatien zu einer Stärkung der nicht-indigenen Bevölkerung beigetragen haben. Mit einer „sich entwickelnden Infrastruktur“ ist hier das Fehlen bzw. das mangelnde Vorhandensein von sozialen und kulturellen Einrichtungen gemeint, die für das Funktionieren solcher Organisationen lebensnotwendig sind (Büroräume, Schulen, Tempel, Bibliotheken, Museen usw.). Da es keine speziellen Organisationen gibt, die für die Integration der Zuwanderer in die Republik Burjatien zuständig sind, und nicht-indigene Diasporagemeinschaften häufig die Funktion der Sozialisierung und Integration der Neuankömmlinge übernehmen, konzentriert sich diese Untersuchung auch auf diejenigen nationalen Gemeinschaften, die keine offiziell anerkannte Organisation haben. Es gilt, Erklärungen dafür zu finden, wie diese Gemeinschaften auf der Grundlage eines informellen Beziehungs- und Interaktionssystems existieren können. Insbesondere gilt mein Interesse dabei der wachsenden chinesischen Gemeinschaft in der Baikalregion.
Der Gegenstand der hier skizzierten Forschung schließt sowohl staatlich anerkannte nationalkulturelle Interessensverbände von nicht-indigenen Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der Region Irkutsk (32 Organisationen) und der Republik Burjatien (14 Organisationen) als auch die nicht anerkannten Gemeinschaften mit ein. So sind im Fall der Republik Burjatien folgende Gruppen zu erwähnen: aserbaidshanische, deutsche, kirgisische, litauische und armenischen Zentren; georgische, kaukasische und afghanische Vereinigungen (zemliačestva); eine polnische, eine jüdische und drei tatarische Selbstverwaltungen; ein koreanischer Interessensverband und die nichtanerkannte chinesische Gemeinschaft.
Das Forschungsprojekt zielt darauf ab, Identifikationen und Interaktionen der Mitglieder der offiziell anerkannten nationalkulturellen Interessensverbände und der nichtoffiziellen Gemeinschaften der nicht-indigenen Völker Burjatiens von ihrer Entstehung bis in die heutige Zeit zu analysieren und dabei vor allem den räumlichen Aspekt der soziokulturellen Infrastruktur und die Dynamiken der nicht-indigenen Bevölkerung in der Region zu berücksichtigen.
Die Methodologie der geplanten Forschung basiert auf wissenschaftstheoretischen Ansätzen von europäischen und amerikanischen Gelehrten aus den Bereichen der Sozial- und Kulturanthropologie, Sozialphilosophie und Ethnopsychologie (R. Cohen, J. Clifford, G. Sheffer, P. Berger, M. Castells, S. Huntington u.a.) und russischen Gelehrten, die zur Diaspora forschen (J. Bromlej, A. Panarin, V. Tiškov, A. Militareva, V. Djatlov, S. Arutjunov, V. Kolosov, T. Galkina, L. Drobiževa). Die chinesische Diaspora, welche die am schnellsten wachsende und wirtschaftlich aktivste Gruppe in Ostsibirien ist, ist bislang unzureichend betrachtet worden. Nach Ansicht von Professor Djatlov "wird der Immigrationsstrom aus China in der nächsten Zeit kontinuierlich wachsen. Dabei folgen die chinesischen Zuwanderergruppen einem kooperativen und kommunalen Verhaltens- und Integrationsmodell". Aus diesem Grund ist das Augenmerk ethnologischer Forschung auf die nicht anerkannten Zuwanderergemeinschaften im Gegensatz zu den staatlich anerkannten nationalkulturellen Organisationen von besonderer Bedeutung.
Im Verlauf des Projekts ist die Anwendung unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden im Bezug auf Diaspora und Immigrationsprozesse geplant. Neben komparativen, ethnopsychologischen und biographischen Methoden werden auch soziologische Analyseverfahren eingesetzt: teilnehmende Beobachtung (an Aktivitäten der nationalkulturellen Interessensverbände); Experteninterviews mit Vertretern und Vorständen der Verbände; Umfragen unter den Mitgliedern der nicht-indigenen Gemeinschaft (zur Herausarbeitung von Fokusgruppen und Evaluationskriterien). Des weiteren sollen diverse Materialien analysiert werden, die mit der Existenz der nicht-indigenen Gemeinschaften in der Region zu tun haben. Dazu zählen u.a. Archivdaten (der staatlichen Archive der Region Irkutsk und der Republik Burjatien); Statistiken, Regierungsberichte und rechtsgültige Dokumente des Migrationsdienstes der Russischen Föderation und des Chinesischen Amtes für Auswärtige Angelegenheiten (Overseas Chinese Affairs Office); Nachrichten aus den Massenmedien und weitere Informationsquellen.
Teil 1
Im ersten Teil des Projekts steht die Analyse der Aktivitäten der nationalkulturellen Interessensverbände, so wie sie in den jeweiligen Satzungen verankert sind. Dazu gehören der Erhalt der Muttersprache sowie nationale und religiöse Traditionen ihrer Mitglieder in der Baikalregion. In der Sowjetzeit wurde ein beträchtlicher Teil der religiösen Einrichtungen abgerissen oder zweckentfremdet. Als Ergebnis davon fehlen für viele Mitglieder der nationalkulturellen Gemeinschaften auch heute noch Räumlichkeiten für einen organisierten Gottesdienst. Dieses Problem betrifft insbesondere die muslimischen Glaubensgemeinschaften (3.000 bis 5.000 Menschen) in der Republik Burjatien, die keine eigene Moschee in Ulan-Ude haben und Gelder für den Bau eines Gotteshauses aufbringen müssen. Eine ähnliche Situation hinsichtlich des Wandels der religiösen Infrastruktur erlebt die polnische Gemeinde der Republik Burjatien. Durch die Initiative des polnischen nationalkulturellen Verbandes "Nadzieje" wurde der Wiederaufbau der abgerissenen katholischen Kirche bewerkstelligt. In der Nachbarstadt Irkutsk hatten die nationalkulturellen Verbände die Möglichkeit, ihre Veranstaltungen in einer eigens dafür gegründeten Einrichtung − dem Haus der Freundschaft (Dom družby) − durchzuführen; gemeinsam widersetzten sie sich auch der Übereignung des Gebäudes an die politische Partei Einiges Russland.
In diesem Teil besteht das Vorhaben auch darin, auf die Bedeutung der nationalkulturellen Verbände für die Aufrechterhaltung einer soziokulturellen Infrastruktur in der Baikalregion einzugehen und den Bereich ihrer Aktivitäten der letzten Jahre zu untersuchen. Insbesondere konzentriert sich das Forschungsprojekt auf die Funktion von Kulturclubs, Sonntagsschulen und die Organisation von öffentlichen Veranstaltungen. Zu untersuchen sind auch die räumlichen Aspekte der Funktionsweise der nationalkulturellen Verbände, speziell die Frage, inwiefern ein Ortswechsel der Einrichtungen das Verhalten und den Lebensstil der Gemeindemitglieder und ihre Interaktionsmöglichkeiten beeinflusst.
Teil 2
Im zweiten Teil des Projekts liegt der Fokus auf den informellen Aspekten der nicht-indigenen Gemeinschaften und ihrer Tätigkeiten, so z.B. die Schaffung der Voraussetzungen für die Anpassung ihrer neuen Mitglieder, die Vermittlung von notwendigen Kontakten in das gesellschaftliche Umfeld, die Interessenvertretung ihrer Mitglieder. Dieser Forschungsteil zielt hauptsächlich auf die Untersuchung der inoffiziellen Gemeinschaften der Arbeitskräfte, die aus China einwandern. Nach offiziellen Angaben leben derzeit etwa 13.000 Chinesen allein in der Region Irkutsk (allerdings könnte ihre tatsächliche Zahl aufgrund von illegaler Einwanderung wesentlich höher sein).
Angesichts der immanenten Angst vor einer "chinesischen Expansion" in Russland (in Verbindung mit den sich zuspitzenden demographischen Problemen in Sibirien und dem Fernen Osten) ist es meine Absicht, die Aspekte einer nachhaltigen Integration der zugewanderten chinesischen Bevölkerung in die russische Gesellschaft zu ergründen und die Herausbildung von wechselseitig nützlichen Beziehungen der aufnehmenden und der ankommenden Seite zu betrachten. Zu diesem Zweck ist geplant, die nationale Identifikation der chinesischen Zuwanderergruppen in Ostsibirien und die damit verbundenen Einflüsse zu untersuchen (so z.B. durch Mischehen, die zu einer Transformation ihrer nationalen Identität führen können), die Probleme bei der Beschäftigung von chinesischen Arbeitskräften, ihre täglichen Aktivitäten und Routinen zu betrachten und eine Analyse der Wohnortverteilung der chinesischen Arbeitskräfte in Burjatien durchzuführen. Innerhalb des Forschungsprojekts soll es auch darum gehen, die Idee der Gründung eines staatlich anerkannten chinesischen Kulturverbandes zu beleuchten und mögliche Konsequenzen vorab zu benennen.
Dieses Projekt ist Teil des Forschungsprogramms „Bedingungen und Limitierungen der Pluralität von Lebensstilen in Sibirien“ des Sibirienzentrums des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung. Im Verlauf der Umsetzung werde ich bereits gesammelte Materialien und meine Erfahrungen aus früheren wissenschaftlichen Projekten einbringen, insbesondere aus dem Projekt „Nationale Identifikation von chinesischen Zuwanderern nach Japan“ (Japan, 2009); Materialien aus einer Reihe von wissenschaftlichen Expeditionen im Rahmen eines russisch-chinesischen Forschungsprojekts auf dem Gebiet der Republik Burjatien und in der Region Irkutsk (2006, 2008) sowie in China (Shandong, Provinz Jiangsu 2009); Materialien vom Festival „Internationale Baikal-Winterspiele der indigenen Völker“ (Republik Burjatien, 2006).
Als Ergebnisse des Forschungsprojekts sind die Vorbereitung einer Monographie und die Erstellung eines Handbuches geplant, das den nationalkulturellen Gemeinschaften der Baikalregion gewidmet ist. Ebenso ist beabsichtigt, einige Artikel zu veröffentlichen und eine Vorlesungsreihe für Studierende im Hochschulbereich auszuarbeiten, welche die Forschungsergebnisse zusammenfasst und vorstellt.