Die neuen Völkerwanderungen: Eine besondere Ungarnreise

Author: Chris Hann
September 7, 2015

Einleitung

Bei meinem spätsommerlichen Aufenthalt im Rahmen meiner Feldforschung in Tázlár, einem Dorf im Süden Ungarns, das ich seit vierzig Jahren kenne (Bevölkerungszahl circa 1750, Tendenz fallend), tausche ich mich für gewöhnlich mit Freunden aus und diskutiere mit ihnen die neuesten lokalen Ereignisse vor dem Hintergrund nationaler Entwicklungen. 2015 war dies anders. Das, worüber die Dorfbewohner und ihre Nachbarn aus der Marktgemeinde Kiskunhalas (Bevölkerungszahl rund 30.000, Tendenz fallend) redeten, spiegelte nicht nur die landesweiten Schlagzeilen wider, sondern war das vorherrschende Gesprächsthema in ganz Europa: die Flüchtlingskrise. Wahlweise wurde auch von Migranten oder Asylsuchenden gesprochen. Welchen der Begriffe man verwendet, impliziert in Ungarn, wie auch anderswo, häufig einen politischen Standpunkt. Im Sommer 2015 wurde dieses kleine Land (Bevölkerungszahl circa 10 Millionen, Tendenz fallend) zum Brennpunkt für die Ängste Westeuropas. Die Krise führte dazu, dass sich Staaten gegenseitig Vorwürfe machten, und legte tiefergehende volkswirtschaftliche Probleme, aber auch die Unzulänglichkeit der politischen Führung offen. Lassen Sie mich, bevor ich mich der Analyse und Reflexion dieser komplexen Problematik zuwende, mit der Lage vor Ort beginnen, da sich Anthropologen damit für gewöhnlich wohler fühlen. Um meine ethnographischen Betrachtungen bezüglich Tázlár und Kiskunhalas in einen größeren Kontext stellen zu können, ist es notwendig, zunächst einmal das politische Profil Ungarns seit der erneuten Wiederwahl Viktor Orbáns zum Ministerpräsidenten im Jahr 2010 zu beschreiben.

Hintergrund

Ich kam in Budapest an, bevor die Feierlichkeiten zum St. Stephanstag am 20. August begannen. Der offizielle Ablauf war mir im Großen und Ganzen geläufig (ich erlebte ihn erstmals 1972 mit, als der Tag noch Verfassungstag hieß). An diesem hohen Feiertag wird in erster Linie die Souveränität Ungarns gefeiert. König Stephan hatte sein heidnisches Volk zum Christentum bekehrt und sich im Herzen Europas angesiedelt; dort widerstanden die Ungarn mehr als 1000 Jahre lang den Wechselfällen der Geschichte. Nach der Völkerwanderung (Népvándorlás), die die ungarischen Stämme ins Karpatenbecken geführt hatte, hatten sich rivalisierende Stammesoberhäupter Stephans Entschluss, sein Volk zu bekehren, widersetzt. Sein größter Gegner Koppány warnte davor, sich anderen Mächten, insbesondere den Germanen unterzuordnen.

Der Heide Laborc protestierte gegen „einen Gott, der kein Ungarisch spricht” – ein Zitat aus einer 1983 erstmals aufgeführten Rockoper, die diesen geschichtlichen Konflikt thematisierte. Die Musik von Levente Szörényi und die Songtexte von János Bródy hatten großen Einfluss auf die Popkultur, auch heute noch, nach mehr als drei Jahrzehnten. 1983 waren die Attraktionen des Westens und „Europas” für ein kleines Land aus dem Sowjetblock überwältigend. 2015 liegen die Dinge nicht so einfach: Als die alternden Rockstars in einem spektakulären Open-Air-Konzert ihre alten Songs spielten, gab es durchaus auch scharfe Kritiken, in der von Nostalgie und kulturellem Widerstand die Rede war. Dass sie dennoch besonders großen Applaus ernteten, hatte weniger mit der Qualität der einzelnen Lieder und Sänger zu tun als vielmehr mit der weitverbreiteten Wahrnehmung des Publikums, dass dieses kleine Land heute ganz neuen Formen der Kolonialisierung ausgesetzt ist – nämlich aus Europa und dem kapitalistischen Westen.1

Nach meinem Besuch dieses Konzerts am 19. August verfolgte ich am nächsten Tag die offiziellen Ansprachen und Feierlichkeiten. Wie erwartet standen die Themen Migration und „Sicherheit” im Vordergrund. In der Öffentlichkeit, vor allem in der „Transitzone” auf dem kürzlich generalüberholten Platz vor dem monumentalen Keleti-Bahnhof in Budapest war seit Monaten eine große Anzahl an Flüchtlingen zu beobachten. Als Reaktion darauf hatte die Regierung versucht die „illegale Migration” zu unterbinden und entlang der südlichen Grenze zu Serbien, der Transitroute für den Großteil dieser unwillkommenen Ausländer, einen Stacheldrahtzaun errichtet. Praktisch allen Ungarn war klar, dass die anderen europäischen Staaten diesen Zaun als Schande empfinden. Doch Viktor Orbán und seine Regierung verteidigten ihre Vorgehensweise. Große Plakate im ganzen Land verkündeten: “Wir wollen keine illegalen Einwanderer”.

Der hässliche Zaun, so die beharrliche Aussage der Regierung, sei notwendig, um sicherzustellen, dass die Flüchtlinge die Grenze an den dafür vorgesehenen Stellen überschreiten. Weiterhin behauptet Ungarn, die vereinbarten EU-Normen (das Dubliner Übereinkommen) würden eingehalten, da man Fingerabdrücke nehme und Personen, die in der EU Asyl beantragen möchten, registriere. Von offizieller Seite heißt es, dies hätte eigentlich schon in Griechenland geschehen sollen, wo die Neuankömmlinge erstmals die EU betreten. Kurz gesagt erheben die Behörden den Anspruch als gute Europäer zu handeln.

Gleichzeitig war der nationalistische Ton in den Reden zum 20. August nicht zu überhören. Der wichtigste Vertreter des Ministerpräsidenten sprach von einer zunehmend untragbaren Last für sein Land und Europa, und der Verteidigungsminister erklärte bei den morgendlichen Militärfeierlichkeiten: „Dieses Land ist unsere Heimat und nicht irgendein Haus mit einem Durchgang.” Kardinal Péter Erdő rief dagegen während des Hauptgottesdienstes am späten Nachmittag, wo die rechte Hand Stephans als heilige Reliquie in einer Prozession durch die Straßen um die nach ihm benannte Basilika getragen wird, zu einer toleranteren Vorgehensweise bei der Lösung der durch die beispiellose Flut der Einwanderer ausgelösten Probleme auf und verwies dabei auf die Worte Stephans.2

Ethnographische Notizen

Tázlár liegt in der großen Tiefebene zwischen Donau und Theis, etwa eine halbe Autostunde von der serbischen Grenze entfernt, gleich östlich der internationalen Bahnlinie zwischen Budapest und Belgrad. Die Einwanderer, die die EU hier erreichen und die Grenze für gewöhnlich zu Fuß überschreiten, sind zweifellos überrascht, dass große Abschnitte der Ende des 19. Jahrhunderts unter den Habsburgern erbauten Bahnstrecke noch immer eingleisig sind. In der Ära des Sozialismus, als das Jugoslawien von Marschall Tito bereits seit langem als Bedrohung galt, stand ein Ausbau der Strecke außer Frage. In der Stadt Kiskunhalas investierte der sozialistische Staat nicht in die Eisenbahn, sondern in Militärkasernen. In einer davon waren bis 1990 sowjetische Soldaten untergebracht; heute ist dieser Komplex eine Wohnanlage.

Im Sommer 2015 wurde eine große ungarische Kaserne am Stadtrand kurzerhand in ein Übergangslager für Asylsuchende umfunktioniert. Die hierher verbrachten Menschen sind im Stadtzentrum nicht sichtbar und nicht einmal akkreditierten Journalisten wurde der Kontakt mit ihnen gestattet. Ich konnte daher Gerüchte über gewalttätige Konflikte, die dort angeblich zwischen den Immigranten und ungarischen Sicherheitskräften, aber auch innerhalb rivalisierender Flüchtlingsgruppen ausgebrochen waren (und bei denen, wie es hieß, Tränengas zum Einsatz gekommen war), nicht bestätigen.

Ich stellte fest, dass auch in dem nur 15 Minuten von Kiskunhalas entfernten Tázlár niemand je einen Asylsuchenden persönlich zu Gesicht bekommen hatte, was die Dorfbewohner jedoch nicht davon abhielt, ihre Meinung zu diesem Thema zu äußern. Die Ansichten waren unterschiedlich, mehrheitlich sprach man jedoch von Migranten und nicht von Flüchtlingen und pflichtete den kritischen Stimmen der Regierungsvertreter bei.

Warum haben diese Menschen, wenn sie wirklich politische Flüchtlinge aus Syrien sind, keinerlei Dokumente, die ihre Identität bestätigen könnten? Warum wollen sie sich nicht registrieren lassen und bestehen auf einer Weiterreise nach Deutschland? Warum haben sie alle schicke Smartphones einer Qualität, wie sie sich nur wenige Dorfbewohner leisten können? Warum stellen die Frauen ihren Goldschmuck zur Schau, der sichtlich mehr Wert ist als ein Haus in einem heruntergekommenen Dorf wie Tázlár? Das waren Fragen, die sich einige Einwohner stellten und auf Facebook posteten. Dort kam die Antwort auf letztere Frage postwendend: Offenbar ist dieses tragbare Vermögen das Einzige, was diesen Familien auf der Welt noch geblieben ist.

Viele argumentierten jedoch weiterhin, dass Menschen, die es sich leisten können erhebliche Summen für die illegale Reise nach Deutschland auszugeben, und sei diese Reise auch noch so anstrengend, keine freundliche Unterstützung und wohltätigen Spenden der ungarischen Bevölkerung verdient hätten. Einige Dorfbewohner posteten beleidigende Kommentare auf Facebook, in denen sie die Regierung aufforderten, das Fiasko mit Gewalt zu beenden und die Integrität ihres Staatsgebietes zu schützen.

Ein paar wenige waren verständnisvoller. Sie verwiesen darauf, dass das moderne Tázlár selbst Ende des 19. Jahrhunderts von Einwanderern gegründet worden war, von denen viele ethnisch gar nicht den Ungarn zuzurechnen sind. Ein Lutheraner äußerte seine Enttäuschung über die unzulängliche Reaktion der großen Kirchen seines Landes (Calvinisten und Katholiken) und kritisierte, dass sich die Regierung in anti-islamische Rhetorik flüchte. Eine ähnliche Stimmung war auch bei einer anderen Minderheit, den Atheisten, zu verspüren, von denen sicherlich einige früher Mitglied der Kommunistischen Partei waren. Mehrere Gesprächspartner gaben mir gegenüber zu bedenken, dass angesichts der langfristigen Abnahme der Bevölkerungszahlen in Ungarn sogar ein wirtschaftlicher Bedarf an mehr Arbeitskräften bestünde – und sich Syrien aufgrund der Tatsache, dass die Menschen dort besser ausgebildet seien als in den meisten anderen Regionen der Arabisch sprechenden und muslimischen Welt, für die Rekrutierung von Arbeitskräften durchaus eigne.

Öffentliche Meinungsumfragen zeigen, dass die Ansichten je nach aktueller politischer Präferenz variieren. Zwei Drittel derjenigen, die die Ungarische Sozialistische Partei, also die Nachfolgerin der Kommunistischen Partei unterstützen, möchten den momentanen Flüchtlingszustrom entschieden beenden; von den Anhängern der Partei Viktor Orbáns (FIDESZ) sind fast 80 Prozent dafür. Dagegen sprechen sich nur knapp 40 Prozent derjenigen, die der Demokratischen Koalition nahestehen, dafür aus, wobei diese Partei in Dörfern wie Tázlár so gut wie keine Anhänger hat.

Ausgebildet in der sozialistischen Ära hatte ein lokales FIDESZ-Mitglied die ausgefeilte Theorie aufgestellt, dass anonyme kapitalistische Kräfte – Banken und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds – hinter dem Zustrom steckten. Der eigentliche Zweck sei die Verwässerung der Arbeitsmärkte und die Aufrechterhaltung der Gewinnraten multinationaler Unternehmen. Andere wiederum bezweifelten, dass die Einwanderer überhaupt arbeiten wollen oder die Art von Arbeit annehmen würden, die das Herz dieser Gegend ausmacht.

In der Ende August herrschenden Gluthitze gibt es auf den Feldern und Weinbergen der Dorfbewohner viel zu tun. Trotz der Mechanisierung müssen bestimmte Trauben und Beeren noch immer per Hand geerntet werden. Für einen 10-Stunden-Tag bekommt ein Arbeiter in Tázlár weniger als 20 Euro. Wie im ganzen Land sind auch viele Menschen in Tázlár und Kiskunhalas über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen froh, da alternativ nur die Arbeitslosigkeit bliebe. Unter den Teilnehmern an diesen Maßnahmen sind Menschen mit einer abgeschlossenen mittleren oder sogar höheren Schulbildung, für die diese Programme im eigenen Land die einzige Alternative zu einer ungelernten Tätigkeit im Ausland oder einem Job als Tagelöhner darstellen. Obwohl die Vergütung bei weniger als der Hälfte dessen liegt, was ein Tagelöhner verdient, bevorzugen die meisten die ABM-Maßnahme, da sie Gesundheitsleistungen und Rentenansprüche bietet.

In Ungarn haben benachteiligte Bürger (aber auch Menschen in besser bezahlten Jobs) das Gefühl, dass die unsichtbaren Fremden, die illegal in Taxis mitten in der Nacht durch ihre Orte fahren, auf dem Weg in ein Paradies namens Deutschland sind, wo ihnen der Staat ab dem Zeitpunkt ihrer Ankunft mehr Taschengeld zur Verfügung stellt, als sie jemals als ehrliche Tagelöhner in einem Weinberg in Tázlár oder als Straßenkehrer in Kiskunhalas verdienen könnten. Fernsehinterviews (in denen Journalisten notgedrungen immer mit Migranten sprechen, mit denen sie sich in einer gemeinsamen Sprache verständigen können) bestätigen den Verdacht, dass viele dieser Menschen gut ausgebildete, ehrgeizige junge Leute sind, die meist hoffen, an einer deutschen Universität studieren zu können. Die Zuschauer vergleichen diese optimistischen Perspektiven mit denen ihrer eigenen Kinder und Enkel, die zwar EU-Bürger sind, jedoch nicht in den Genuss deutscher Großzügigkeit kommen und im Allgemeinen auch nicht über die sprachlichen Voraussetzungen verfügen, die für eine ihrer Qualifikation entsprechende Tätigkeit im Ausland erforderlich wären.

Das Ende meines Aufenthalts fiel mit dem Höhepunkt der Krise in der ersten Septemberwoche zusammen. Bei meiner Rückkehr in die Hauptstadt stellte ich fest, dass vom Bahnhof Keleti keine Züge mehr nach Deutschland fuhren. Ich mischte mich unter die Touristen und Schaulustigen und machte schnell ein paar Bilder von den Menschen, die unter entsetzlichen Bedingungen auf dem Platz ausgeharrt hatten. Ihre Forderung nach Deutschland ausreisen zu dürfen, wo sie laut Aussage von Angela Merkel willkommen seien, wurde immer lauter.

Ich konnte die Stadt schließlich von einem anderen Bahnhof aus verlassen und erreichte (nach zweimaligem Umsteigen in Lokalzüge) meinen internationalen Expressanschluss an der slowakischen Grenze. In diesem Zug waren die meisten Sitz- und Liegenwagenplätze leer und ich musste während meiner gesamten Rückfahrt nach Halle kein einziges Mal meinen Personalausweis oder Pass vorzeigen. Im Laufe der nächsten Tage entspannte sich die unmittelbare Krise, da die Migranten endlich die Transitzone vor dem Keleti-Bahnhof verlassen durften. Bei ihrer Ankunft in Wien und München, wo die Regierungsminister eine Willkommenskultur proklamierten und Ungarns Umgang mit der Krise verurteilten, wurden sie im Bahnhof von jubelnden Menschenmengen begrüßt.

Analyse

Dieser innerhalb von 48 Stunden nach meiner Rückkehr nach Deutschland verfasste Bericht basiert auf meinen Erinnerungen, schriftlichen Notizen und Zeitungsausschnitten. Doch Anthropologie ist mehr als nur Ethnographie. Wir mögen viel gemeinsam haben mit Tagebuchschreibern, Touristen und Journalisten, doch wir sind auch Sozialwissenschaftler. Es genügt nie, nur lokale Stimmen einzufangen und Ereignisse zu beschreiben, wir sollten uns gemeinsam mit anderen Sozialwissenschaftlern auch bemühen sie zu erklären.

Die Wahrnehmung von Vulnerabilität und relativer Deprivation ist häufig entscheidender für die politische Haltung und das Sozialverhalten als absolute Armut oder Ungleichheit. Noch eine Generation früher, in den letzten Jahrzehnten des Sozialismus, war die ungarische Gesellschaft in vielerlei Hinsicht vital und überschäumend, zumindest verglichen mit den sozialistischen Nachbarn. Nach 1990, insbesondere seit das Land 2005 in die EU aufgenommen wurde und damit viele Branchen Anspruch auf hohe Subventionen erheben konnten, zeigen Wirtschaftsstatistiken in vielen Bereichen einen Aufschwung.

Selbst in Tázlár haben immer mehr Leute Telefon und Computer und die Anzahl der privaten Kraftfahrzeuge steigt weiter an. Diese Autos sind jedoch meist alt und billig und der lokale Wohnungsmarkt ist eine deprimierende Angelegenheit. Für die Eigentümer von Immobilien, die in den prosperierenden Jahren des Sozialismus gebaut wurden, deckt der Verkauf noch nicht einmal die Materialkosten. Arbeitsplätze sind rar und die Bevölkerungszahl sinkt weiter. Zwar präsentieren die amtlichen Statistiken ein positives Bild der landesweiten Beschäftigungstrends, doch schließen ihre Zahlen auch die Teilnehmer an ABM-Maßnahmen und Arbeitnehmer im Ausland ein.

Die Politik von Orbáns Regierung einschließlich seines zunehmend aggressiven Nationalismus hängt ganz klar mit der neuen volkswirtschaftlichen Lage zusammen – und mit der Tatsache, dass die stärkste Opposition in den letzten Jahren nicht auf dem linken Flügel zu finden war, sondern von Jobbik, einer Partei der extremen Rechten ausging. Im Sommer 2015 lenkte die Zuspitzung der Flüchtlingskrise von den anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zahlreichen Korruptionsskandalen ab.

Bereits das ganze Jahr hindurch wurden überall in Europa heikle Themen in den Medien stark thematisiert. Das Verhältnis von Journalisten zu Migranten am Bahnhof Keleti war relativ hoch. Bedenkt man die sehr viel höhere Zahl syrischer Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei lebt, erscheint die „europäische Flüchtlingskrise” vom Sommer 2015 stark übertrieben. Während meines Aufenthalts in Tázlár habe ich die Berichterstattung in den wichtigsten ungarischen und deutschen Medien verfolgt und zuweilen die Fernsehnachrichten über die Ereignisse eines Tages verglichen. Dabei fielen mir einige markante Unterschiede auf.

Während das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Ungarn seine Zuschauer darüber informierte, dass das Land neue Initiativen zur Implementierung des Dubliner Übereinkommens ergreift, wurde den ARD- und ZDF-Zuschauern vermittelt, Viktor Orbán halte an seiner kompromisslosen Strategie fest und verweigere den Flüchtlingen die Weiterfahrt nach Westen. Als die Grenzkontrollen am Montag, den 31. August vorübergehend aufgehoben wurden (nachdem Angela Merkel erklärt hatte, alle Syrer seien in Deutschland willkommen), prangerten deutsche Journalisten sofort an, dass die Behörden in Budapest den Schwarzen Peter an ihre westlichen Nachbarn weiterreichen würden. In diesen Momenten empfand man doch ein wenig Mitleid mit den überlasteten Ministern in Ungarns Hauptstadt, die für alles verurteilt wurden, was sie taten.

In beiden Ländern wurde die Meinungsvielfalt in der jeweiligen Bevölkerung auch durch private Fernsehsender widergespiegelt. Doch es waren die öffentlich-rechtlichen Sender, die den Ton angaben; diesbezüglich ähnelten sich Deutschland und Ungarn meiner Ansicht nach ziemlich. Natürlich waren die hegemonialen Ansichten völlig unterschiedlich. Einige der Töne, die Ungarn anschlug, wurden in diesem Bericht bereits diskutiert. Es wäre allerdings kurzsichtig, zu schlussfolgern, dass die Dorfbewohner ihre Vorurteile automatisch von der einseitigen Berichterstattung in den Medien ableiten. Vielmehr ist die eigene Lebenswelt der letzten Jahrzehnte der Grund dafür, dass der Großteil der Menschen mit den ihnen angebotenen Interpretationen sympathisiert.

In Deutschland ist die Beziehung zwischen den Machern und Konsumenten der Nachrichten zur Flüchtlingskrise meiner Ansicht nach eine andere. Eine Ungarin legte den Finger in die Wunde, als sie die Kluft zwischen den Nachrichten, die Berlin und die liberale Presse verbreiten, und den Ansichten der normalen Bürger in Deutschland kommentierte: „Die Deutschen sind doch die letzten, denen der Dreck, den die Einwanderer mitbringen, willkommen ist. Was passiert denn, wenn sie von ihren eigenen edelmütigen Eliten gezwungen werden, damit zu leben?” Mit Dreck meinte sie nicht nur den Schmutz ungewaschener Körper, sondern auch die schleichende Verbreitung des Islam. Als ich gebeten wurde, den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen zu bestätigen, antwortete ich ausweichend, dass ich kein Deutscher sei und die deutsche Gesellschaft nicht wissenschaftlich untersucht hätte.

Das stimmt zwar, ist aber auch feige. Ich lebe in Deutschland und habe im Sommer 2015 den Eindruck, insbesondere vermittelt durch Nachrichten und Dokumentarberichte im ZDF, dass die deutschen Zuschauer täglich Erziehungskampagnen ausgesetzt werden, welche die von der Frau in Kiskunhalas geäußerten Klischees korrigieren sollen. Es stimmt nicht, dass die Ausländer dem Staat auf der Tasche liegen, denn die Statistik zeigt, dass Nicht-Deutsche durch die Steuern, die sie abführen, insgesamt Nettozahler sind. Es stimmt nicht, dass die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, denn es ist nachgewiesen, dass sie an beiden Enden des Arbeitsmarktes große Lücken schließen. Es ist dagegen richtig, dass Deutschland dringend eine demographische Frischekur benötigt, um den Lebensstandard, den seine Bürger gewohnt sind, (und die Renten) beibehalten zu können. Den Zuschauern wird also vermittelt, dass die Willkommenskultur – ganz abgesehen von den humanitären Erwägungen – vom rational-wissenschaftlichen Standpunkt aus (basierend auf ökonomischen und demographischen Daten) praktisch alternativlos ist. Alle, die eine andere Ansicht vertreten, werden mit der Pegida-Bewegung oder Schlimmerem über einen Kamm geschoren.

Die Protestbewegung Pegida formte sich im früheren Ostdeutschland. Verschiedenste Meinungsumfragen deuten in der Tat darauf hin, dass die Menschen in den neuen Bundesländern Einwanderern gegenüber häufig erheblich negativer eingestellt sind. Mit anderen Worten, die durch die neue Völkerwanderung generierten Schuldzuweisungen, die bereits zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Budapest und Berlin beziehungsweise Wien geführt haben, werden sich wahrscheinlich innerhalb Deutschlands fortsetzen. Dies hat Auswirkungen auf Städte wie Halle, in der ich seit 16 Jahren lebe.

Deutschland verteilt Asylsuchende nicht danach, ob sie eines Tages Aussicht auf einen Arbeitsplatz in einer dynamischen regionalen Wirtschaft haben. In wirtschaftlich schwachen Regionen wird ein großer Zustrom von Ausländern so gut wie sicher zu sozialen Problemen führen. In dieser Hinsicht ähnelt Ostdeutschland strukturell den (einst sozialistischen) Ländern der Visegrád-Gruppe, die erklärt haben, dass sie nicht bereit sind, zur Lösung der aktuellen Krise verbindliche EU-Quoten zu akzeptieren. Die ungarische Position unterscheidet sich nicht von der Polens, der Slowakei oder der Tschechischen Republik. Gäbe es immer noch eine Regierung, die die Haltung der Bevölkerung im früheren Ostdeutschland widerspiegelt, würde sie sicherlich ebenfalls diese Position vertreten.

In der Zusammenschau ist dies meiner Ansicht nach gefährlich für eine Demokratie. Wir können die Probleme unter dem Aspekt der „Gesellschaft” oder „Zivilgesellschaft” betrachten. Ich traf Viktor Orbán 1989, als er sich im Rahmen eines Stipendiums in Oxford unter Anleitung des politischen Philosophen Zbigniew Pelczynski mit dem Konzept der Zivilgesellschaft beschäftigte. Aufgrund der sich in jenem Jahr überstürzenden Entwicklungen in Budapest brach Orbán seinen Aufenthalt zwischen den Elfenbeintürmen vorzeitig ab. Er hatte eine Wahl zu gewinnen. Damals war das Ziel der heute von ihm angeführten Partei und vielleicht der meisten Ungarn eine freie Zivilgesellschaft. Ich war eher skeptisch und fürchtete, die neue Parole könnte die Dominanz des Marktes und all die Ungleichheiten, die der Kapitalismus zweifelsohne mit sich bringen würde, überdecken. Jetzt, nach einem Vierteljahrhundert, lassen sich die Folgen einordnen.

Anstatt sich im Lichte der Anerkennung des Westens für seine Unterstützung bei der Beseitigung des Eisernen Vorhangs zu sonnen (insbesondere wurde den Ostdeutschen die Ausreise in den Westen gestattet), wird Ungarn heute dafür getadelt, dass es einen neuen Zaun baut und die Freizügigkeit von Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, einschränkt. Die ungarische Zivilgesellschaft tritt vor dem Bahnhof Keleti in Form von Nicht-Regierungsorganisationen wie „Migration Aid” in Erscheinung, die sich allen Widrigkeiten zum Trotz bemühen, die Folgen der Regierungspolitik für die Menschen zu lindern. Die ungarische Gesellschaft als Ganzes steht all diesen Entwicklungen jedoch nach wie vor kritisch, ja sogar verächtlich gegenüber. Kurz gesagt verschärft die Flüchtlingskrise die Polarisierung innerhalb Ungarns und wird von den Rechten instrumentalisiert, um die nationalistische Stimmung anzuheizen.

Wird eine vergleichbare Kluft dadurch auch in der deutschen Gesellschaft breiter? In Deutschland liegen die Dinge aufgrund seiner singulären Geschichte und der Tatsache, dass das Land von den jüngsten Wirtschaftsentwicklungen inklusive der Einführung des Euro am meisten profitiert, anders. Die Kombination dieser Faktoren führt dazu, dass die herrschenden Eliten eine völlig andere Grundhaltung haben. Die Zivilgesellschaft ist auch hier aktiv: Die Medien schenken karitativen Tätigkeiten von Bürgern, die in jeder erdenklichen Weise ehrenamtlich helfen möchten, große Aufmerksamkeit. Ich habe allerdings den Eindruck, dass dies nicht wirklich die Sicht der breiten Bevölkerung widerspiegelt. Angesichts dessen, dass der Großteil der Journalisten dem rot-grünen politischen Spektrum angehört (vielleicht vergleichbar mit der Zahl akademischer Sozialwissenschaftler), kann sich Angela Merkel der breiten Unterstützung für ihre aktuelle Politik sicher sein. Auch die meisten Anthropologen würden ihr zustimmen.

Wir stellen jedoch auch diejenige Disziplin dar, von der erwartet wird, dass sie Bereiche der Gesellschaft beleuchtet, mit denen sich andere nicht so gerne beschäftigen. Ich habe erlebt, dass Ostdeutsche beklagten, die aktuelle Berichterstattung im Fernsehen würde sie an das unter Erich Honecker propagierte “Schwarz-Weiß”-Weltbild erinnern. Das Medienregime von heute reflektiert ihre Lebenswelt ebenso wenig wie das von damals. Aus dieser Wahrnehmung heraus entwickelte sich der (aufgrund der Assoziation mit den Nazis) heikle Begriff der Lügenpresse.

Ist es in einer Demokratie Aufgabe der Medien, den Lesern und Zuschauern Bildung zu vermitteln und sie schließlich pädagogisch soweit zu bringen, dass sie die Welt so sehen wie ihre aufgeklärteren Eliten? Wie kann ein Anthropologe die Weltsicht eines typischen Pegida-Anhängers mit der in unserer Disziplin üblichen Empathie darstellen, wenn Populismus ein Schimpfwort geworden ist? Sollten wir zumindest darauf hinweisen, dass die größere Ausländerfeindlichkeit im Osten mit den höheren Arbeitslosenzahlen und anderen Formen der Diskriminierung zusammenhängt? Wenn Stimmen wie in Tázlár und Kiskunhalas auch in deutschen Dörfern und Kleinstädten (oder auch größeren Städten wie Halle) existieren, wäre es sicherlich gut, sie zunächst einmal zu hören, um sie zu verstehen und zu erklären.

Eurasien

Das Leitmotiv dieses Sommers hieß Europa. Auf dem Höhepunkt der Krise beteuerte Viktor Orbán, er denke und handle als christlicher Europäer. Was auch immer man von dieser Behauptung halten mag (ich persönlich finde sie geschmacklos): Das Chaos der letzten Wochen hat wieder einmal die Unzulänglichkeit der EU-Institutionen gezeigt und tendenziösen Konzepten wie den „europäischen Werten” weiteren Schaden zugefügt. Stammleser dieses Blogs wissen, worin meiner Ansicht nach die Lösung liegt: Die neuen Völkerwanderungen lassen sich nur durch einen Zusammenschluss aller paneurasischen Staaten bewältigen – als Blaupause für eine echte Weltgesellschaft.

Die Tatsache, dass ausgerechnet Ungarn in den letzten Wochen zum Brennpunkt wurde, ist in vielerlei Hinsicht eine Ironie. Vor 25 Jahren leisteten ungarische Reformkommunisten einen großen Beitrag dazu, einem neuen und freieren Europa, insbesondere auch der Wiedervereinigung Deutschlands den Weg zu ebnen. Die führenden FIDESZ-Politiker versuchten nicht daraus Kapital zu schlagen, da all dies nichts mit ihnen zu tun hatte. Sie rechneten jedoch nicht damit, dass Deutschland und Österreich die Ungarn im Sommer 2015 in einem so negativen Licht darstellen würden.

Die Magyaren sind ein aus Asien in das Karpatenbecken eingewandertes Volk unbekannten Ursprungs, dessen Sprache es von all seinen europäischen Nachbarn unterscheidet. Dennoch zeigt die ungarische Regierung genau wie der Rest der Visegrád-Gruppe keinerlei Interesse an den Problemen Asiens. Es ist allgemein bekannt, dass neben den aus Syrien stammenden Flüchtlingen der Großteil der Asylsuchenden in Afghanistan beheimatet ist. Die Verwerfungen in diesen Ländern haben viele Ursachen. Sie alle müssen in Angriff genommen werden. Die kombinierten politischen, ökonomischen und ethisch-sozialen Probleme erfordern Lösungen, die sich an der Landmasse orientieren. Vom ethischen Standpunkt aus kann man wohl kaum zustimmen, dass der Grad der Zuwanderung aus Afghanistan nach Deutschland in Zukunft dadurch bestimmt wird, wie viele Menschen erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass sich an der heutigen Kluft bezüglich des Lebensstandards zwischen Afghanistan und Deutschland nichts ändert. Dasselbe trifft für näher liegende Länder, z.B. den Kosovo zu. Es ist Zeit, neue politische Institutionen zu schaffen, um der Scheinheiligkeit dieser „Entwicklung“ ein Ende zu bereiten (der Großteil der im Laufe der Jahre nach Syrien und Afghanistan geflossenen ausländischen Gelder diente nicht dem sozio-ökonomischen Wohl, sondern wurde in Form von Waffen geliefert).

Leider wird dies nicht so bald geschehen. Im Süden Ungarns hat bereits die Planung des Ausbaus der Bahnlinie zwischen Budapest und Belgrad eine eurasische Dimension, wenn auch nur im engeren wirtschaftlichen Sinne. Der vorläufige Zuschlag wurde einem chinesischen Unternehmen erteilt; auch die notwendigen finanziellen Mittel und Arbeitskräfte kommen aus China. Das Vorhaben scheint in Belgrad bereits genehmigt worden zu sein, die Politiker in Budapest sträubten sich im Sommer 2015 jedoch noch immer dagegen.

Schlussfolgerung

Der verstorbene Raymond Firth pflegte die Sozialanthropologie als „unbequeme” Disziplin zu beschreiben, was sich von den in meiner Studentenzeit populären neomarxistischen Diagnosen, nach denen die Anthropologie ein Handlanger des kapitalistischen Imperialismus ist, sehr unterscheidet. Die Zeiten haben sich geändert, doch ich halte Firth’ Charakterisierung noch immer für zutreffend. Ich habe mich noch nie so unbehaglich gefühlt wie in den letzten Wochen; ein Grund hierfür war, dass die Berichterstattung in den ungarischen und deutschen Massenmedien den Ort meiner Feldforschung mit der Gesellschaft, in der ich lebe und arbeite, auf seltsame Weise verknüpfte.

Wie andere Wissenschaftler und die Journalisten, von denen ich vorher gesprochen habe, sind auch Anthropologen Menschen, die häufig ihre eigenen Wertvorstellungen in ihre Arbeit einfließen lassen. Bei der Arbeit vor Ort drücken sie sich vielleicht lieber davor, so wie ich das getan habe, als ich in Kiskunhalas die Klischees über die moderne deutsche Gesellschaft nicht bestätigen wollte. In Deutschland dagegen muss ich Freunden und Kollegen erklären, dass genau wie in der Fernsehberichterstattung über die Deutschen und Österreicher in Wien und München auch in Budapest viele Menschen, einzeln oder in Gruppen, humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge organisieren. Deutschland und das restliche Europa machen es sich zu einfach, wenn sie Viktor Orbán zum Sündenbock machen und seine Regierung dämonisieren, um sich weiterhin ihrer moralischen Überlegenheit zu versichern. Nicht alle Ungarn sind Nationalisten oder potentielle Faschisten, und der Wille, leidenden Flüchtlingen zu helfen, ist nicht weniger stark ausgeprägt als in der deutschen Gesellschaft. Größere Unterschiede im politischen Meinungsspektrum zwischen den beiden Ländern sollten mit Bezug auf ihre Geschichte und aktuelle Volkswirtschaft analysiert werden.

Ich wäre besorgt, wenn hochmobile, wenn mehrsprachige Studenten und Kollegen am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ungeachtet ihres speziellen Forschungsschwerpunktes in diesem Moment nicht geneigt wären, dem ungarischen Botschafter entrüstete Protestschreiben zu schicken. Ich finde es ermutigend, dass sie ihre Solidarität mit den verfolgten und geknechteten Opfern zeigen möchten, und zwar nicht nur dann, wenn diese Menschen vor unserer Haustür in einer deutschen Stadt stehen. Jenseits dieses persönlichen ethischen Engagements verfolgen wir jedoch wissenschaftlich eine duale Agenda. Einerseits versuchen wir andere Standpunkte zu verstehen, wie solche in unserer eigenen Gesellschaft, mit denen wir möglicherweise nicht einverstanden sind oder die wir sogar widerwärtig finden. Andererseits müssen wir in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern die tieferliegenden Ursachen der Prozesse untersuchen und erklären, die derzeit Gemeinschaften auseinander reißen und Gesellschaften spalten, mit besorgniserregenden politischen Auswirkungen auf ganz Eurasien und weltweit.

Anmerkungen

1 Die Komponisten dieses Werks werden weithin mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen gleichgesetzt. Während Szörényi für die nationale Sache steht, wird Bródy mit eher liberal-kosmopolitischen Tendenzen identifiziert. In einem Interview mit der konservativen Zeitung Magyar Nemzet am Vortag seines Konzerts im Jahr 2015 erklärte Bródy diplomatisch, dass es im nationalen Interesse der modernen Nachfolger von Stephan und Koppány läge, die schwierige Balance zu finden, die es allen Ungarn erlaubt, Europäer zu sein, ohne eine Kolonie zu werden.

2 Zwei Wochen später schlug der Kardinal rauere Töne an, als er in einer Pressekonferenz erklärte, die Organe der römisch-katholischen Kirche in Ungarn wären rechtlich nicht dazu befugt, illegalen Einwanderern Beistand zu leisten. Kurz darauf ermahnte Papst Franziskus die katholischen Gemeinden in Europa genau dies zu tun. In Ungarn engagieren sich viele Katholiken, Laien wie Geistliche, trotz der Haltung der Amtskirche; Mönche in Pannonhalma in Transdanubien halfen Flüchtlingen bei der Ausreise nach Österreich.

Epilog - Postscriptum (17. September)

Ich habe den obenstehenden Text auf die  Schnelle geschrieben, weil ich dachte, innerhalb von Tagen nach meiner Rückkehr aus Budapest werde  in unsere Länder wieder Ruhe einkehren. Da lag ich falsch, ich hätte mich beeilen müssen. Zwei Wochen später dominieren die gleichen Themen die Schlagzeilen immer noch, sowohl in Ungarn als auch in Deutschland, sogar  europaweit. Ich habe Lob und Unterstützung für meinen Beitrag erhalten, aber möglicherweise verliere ich auch Freunde. Meine Darstellung der Medienlandschaft in Deutschland sei grob vereinfacht und ich soll zu viel Sympathie für rechtsradikale Bauern in Ungarn hegen, deren Fremdenhass nicht durch ökonomische Analysen relativiert und verharmlost werden soll. Für einige in Ungarn habe ich mich im Gegenteil  als wurzelloser linksliberaler Akademiker entpuppt, der von  den Sorgen der Bevölkerung auf Dorfebene vielleicht was versteht, aber nicht den  Suizid des Kontinents in einem „Wettbewerb der Kulturen“, wie es Viktor Orbán Mitte September in einem Interview  ausdrückte.

So macht mir meine  Wissenschaft in diesen Tagen das Leben unbequem. Aber es geht nicht anders. Ich schäme mich für den mittlerweile fertigen Zaun zwischen Ungarn und Serbien und will trotzdem Leute verstehen, die ihn für notwendig halten. Hätte Viktor Orban in England statt Theorie der Zivilgesellschaft Ethnologie studiert, hätten selbst seine wenigen Wochen in Oxford ausgereicht, um das Huntington‘sche Konzept von Kultur abzulehnen. Jetzt spricht Orbán gewandt über die Fehler einer „liberalen Denkweise“ in der EU, bekommt auch dafür nur Rügen von der großen Mehrheit der Politiker, aber in bestimmten Kreisen viel Zuspruch. Auch in Deutschland. Ziemlich viel von dem, was Orbán in  Interviews über EU-Institutionen sagt, finde ich  zutreffend; zum Teil auch seine Äußerungen zu den Medien und zu den ökonomischen Aspirationen der Migranten.

In den neuen Budesländern gibt es vielleicht zwei Gründe, warum seine Position mehr Rückhalt und sogar Respekt erntet. Der eine Grund hat mit der DDR-Geschichte zu tun. Viele Ostdeutsche haben über Jahrzehnte gute Erfahrungen in den Sommerferien am Plattensee gemacht. Sie haben Kontakte geknüpft und  sie erinnern sich, dass die ungarische Regierung von damals bei der Öffnung der Grenzen  1989 eine wichtige Rolle spielte. Bloß  weil die jetzige Regierung eine andere Grenzpolitik führt, kann  dieses Volk nicht plötzlich ein quasi-faschistisches geworden sein. Um eine Willkommenskultur gegenüber anderen  aufzubauen, soll man  das ungarische Volk nicht dämonisieren. Versuche dieser Art sind  kontraproduktiv.  Denn auch in Ungarn gibt es ein breites Spektrum von Meinungen. Es wäre gut, wenn deutsche Journalisten weniger über die Exzesse von Orbán schreiben würden, sondern  mehr darüber, warum das ganze Durcheinander mit den Migranten ein  gefundenes Fressen für die korrupten Fidesz-Eliten ist. Es lenkt nämlich von den vielen Problemen und Skandalen in Ungarn ab.

Der zweite Grund hat mit politischer Ökonomie zu tun. Egal wie man politisch denkt:  Ungarn ist ein Verlierer der großen Transformation der letzten Jahrzehnte,  Deutschland jedoch der größte Gewinner. Und doch gibt es  in  beiden Ländern innerhalb der Gesellschaft winners and losers. Ostdeutschland hat – relativ betrachtet – viele Verlierer. Objektiv ist es bei weitem nicht so schlimm in Sachsen-Anhalt – wo ich seit 1999 lebe – wie in bestimmten ländlichen Teilen Ostpolens oder Ungarns. Aber in solch einem Klima verbreiten sich  Ressentiments leicht.  Migranten, die in so strukturierte Gesellschaften nach einer Quotenregel verteilt werden, werden mit ganz anderen Problemen konfrontiert,  als diejenigen, die in Folge des Wirtschaftswunders in die  alte Bundesrepublik gekommen sind. Ich frage mich, ob der Königsteiner Schlüssel das richtige Instrument für Deutschland sein kann. Ich kann zwar  die Logik verstehen,  wonach Flüchtlinge in die Länder geschickt werden sollen, die die größten EU-Subventionen bekommen. Doch  eine solche Prozedur ließe den gesellschaftlichen Kontext völlig außer Acht. Schon jetzt  reichen  quer durch die Visegrad-Gruppe (Ungarn, Tschechien, Polen und die Slowakei)  die finanziellen Transfers aus Brüssel nicht  aus, um Jugendlichen Jobs im eigenen Land zu ermöglichen:   Nun sollen sie auch noch Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bekommen? Kein Wunder, dass die Rhetorik der neuen Populisten in solchen Kreisen, die es überall in Europa gibt, gut ankommt.

Aus Dresden bekam ich vor einigen Tagen eine E-Mail, in der ein norwegischer Ethnologe berichtete, dass er auf sehr ähnliche Stimmen in Sachsen gestoßen war, wie ich im ländlichen Ungarn. Es wäre zu erforschen, wie sich das in den kommenden Monaten und Jahren an solchen Orten weiterentwickelt.

In den letzten Tagen habe ich viele Artikel und Blogs gelesen. Einige Autoren (zum Beispiel  auf der BBC-Homepage) neigen zu zynischen Interpretationen der schwankenden deutschen Politik. Die Migranten würden von der Wirtschaft aus demographischen Gründen gewünscht (den Bedarf gibt es in Großbritannien nicht). Oder: Nachdem das Land während der Eurokrise so hart gegenüber Griechenland geblieben war, brauche Angela Merkel Gesten von Großzügigkeit, um extern und intern das Image des Landes zu retten.

Diese Erklärungen überzeugen nicht. Sicher gibt es Kalkül, aber die aktuelle Welle von Hilfsbereitschaft zeigt, dass es sich um sehr viel mehr handelt. Ich finde es bewundernswert, wie jeden Tag neue bewegende Beispiele unter dem Motto „Deutschland hilft“  in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Trotzdem guckt ein Ethnologe ungehobelt genauer hin: Wer hilft? Wem wird wirklich geholfen? Werden bei anderen Menschen Ängste und Frust nur verstärkt? Erleben wir eine Art Moralität aufgrund derer  bestimmten Ländern (zum Beispiel der Visegrad-Gruppe) und bestimmten Mitbürgern mit dem Finger gedroht wird?

Unterdessen gibt es kaum öffentliche Diskussion über die globalen Ursachen des Elends, keine Initiativen, die langfristige Alternativen zu Krieg und zur Macht der Märkte eröffnen würden. Da hört der Ethnolge endgültig auf, es spricht nur ein ratloser EU-Bürger.

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