Religion und Kultur in Zentralasien: Sowjetische Vermächtnisse und neue Herausforderungen

Forschungsbericht (importiert) 2005 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Mathijs Pelkmans
Abteilungen
Sozialistisches und Postsozialistisches Eurasien (Prof. Dr. Christopher Hann)
MPI für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Zusammenfassung
Nach Jahrzehnten des militanten sowjetischen Säkularismus beobachtet man ein Wiedererstarken der Religion in Zentralasien. Es wird häufig angenommen, dass dies eine Folge des spirituellen und ideologischen Vakuums war, das mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches einherging. Forschungsarbeiten am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung legen aber nahe, dass der Erfolg des „religiösen Nationalismus“ in den 1990er Jahren in vielerlei Hinsicht eine Fortführung sowjetischer Ideen darstellte. Doch die Fehlschläge des Übergangs machten diese „nationalen“ Religionen zunehmend verwundbar gegenüber supranational orientierten religiösen Gruppen. Die Erfolge dieser Gruppen stellen eine Herausforderung für lokale Vorstellungen über die Beziehung zwischen Religion und Kultur dar.

1991 erlangten die fünf zentralasiatischen Sowjetrepubliken Kirgizstan, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan ihre Unabhängigkeit. Für westliche Beobachter unterschied sich Zentralasien nur wenig vom Rest der Sowjetunion. Die Republiken schienen Oasen der Stabilität und des Konservativismus zu sein, verlässliche Lieferanten von Rohstoffen für die sowjetische Wirtschaft, wie Öl, Erdgas, Baumwolle, Fleisch und Wolle. Zentralasien bildete dennoch einen weißen Fleck, nicht zuletzt auf der politischen Landkarte des Islam. Die scheinbare Passivität der Muslime in Zentralasien überraschte und enttäuschte viele ausländische Beobachter. In den 1990er-Jahren wurde dieses Bild von Zentralasien durch Berichte von einem „Wiederaufleben der Religion“ und von der Sorge über eine potenzielle Bedrohung durch „islamischen Fundamentalismus“ verdrängt. Doch solche Darstellungen dienten nur dazu, die Komplexität religiöser Veränderung zu verschleiern.

Die Forschungsarbeiten am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung haben sich auf zwei dominante, teils widersprüchliche Tendenzen religiöser Veränderung konzentriert: zum einen auf die fortdauernde Nationalisierung von Religion, zum anderen auf die wachsende Präferenz für neue religiöse Bewegungen, die diese „nationalen Religionen“ in Frage stellen und neue Dynamiken religiöser Erneuerung und Konversion vorantreiben. Um das Zusammentreffen dieser beiden Tendenzen zu verstehen, ist es unerlässlich, eine kritische Neulektüre sowjetischer Geschichte vorzunehmen – eine Lesart zu entwickeln, die die Vorstellung, Religion sei unter sowjetischer Herrschaft einfach unterdrückt worden, problematisiert und die das Verständnis vom postsozialistischen Wiederaufleben der Religion als Reaktion auf das postsowjetische „spirituelle Vakuum“ in Frage stellt (Abb. 1).

Die sowjetische Objektivierung von Religion und ihr kulturelles Vermächtnis

Lange Zeit diskutierten Wissenschaftler darüber, wie erfolgreich oder nicht erfolgreich das sowjetische Regime darin war, eine absolut atheistische Gesellschaft zu schaffen. Einige Autoren haben den Untergang religiösen Wissens und die Zerstörung religiöser Institutionen betont. Andere hoben das genaue Gegenteil hervor: die Hartnäckigkeit der Religion gegenüber sowjetischer Repression. Leider stützte dieser enge Fokus auf Unterdrückung die weit verbreitete Annahme, dass es ein Prozess der Kontinuität sei – beziehungsweise der unterbrochenen Kontinuität –, der die zeitgenössischen religiösen Formen und ihre präsozialistischen Bezugspunkte verbinde.

Weithin vernachlässigt wurde, wie die sowjetische Kulturpolitik das Verständnis von Religion sowie Formen der Religiosität beeinflusste. Obwohl die Bekämpfung religiösen Ausdrucks durch das sowjetische Regime einzigartig war, war seine Ideologie fest in westlichen Vorstellungen von Modernität verwurzelt. Und wie im Westen bestand ein entscheidendes Nebenprodukt des modernistischen sowjetischen Projekts in der Objektivierung der Religion, das heißt, Religion wurde als gesonderte Sphäre des Lebens verstanden. Außerdem stand dieser Prozess in direktem Zusammenhang zur nationalen Identitätspolitik. Diese Kombination hatte zum Ergebnis, dass religiöse Zugehörigkeit zunehmend mit Ideen über das kulturelle Erbe verknüpft wurde. So bestärkte die sowjetische Politik unabsichtlich Vorstellungen über einen Zusammenhang zwischen religiösen und ethnonationalen Kategorien – und verankerte sie im allgemeinen Bewusstsein. In der Spätphase des sowjetischen Regimes konnte ein Kasache, der als Mitglied der kommunistischen Partei ein atheistisches Weltbild hatte, dennoch behaupten, ein Muslim zu sein, da dies seinen kulturellen Hintergrund zum Ausdruck brachte. Aus lokaler Perspektive stellte der Gedanke eines „atheistischen Muslims“ keinen Widerspruch dar. Während Religion als objektivierte Kategorie an andere Aspekte von Identität gebunden war, brachte dies auch eine „Folklorisierung“ von Religion mit sich.

Diese Prozesse zu erkennen ist unerlässlich, wenn man die religiösen Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als Religion nicht länger ein Tabu war, verstehen will. Ein Trend war die Aneignung von Religion durch nationale Ideologien und die Förderung offizieller Versionen von Religion durch die neuen nationalen Eliten.

Die Inkorporation von Religion in „nationale Kulturen“

Nach 1991 eigneten sich ehemalige kommunistische Führer rasch eine religiöse Rhetorik für die politische Kommunikation an. In jeder der fünf zentralasiatischen Republiken erwies sich das „islamische Erbe“ als wichtig für die Förderung und Festigung tragfähiger nationaler Identitäten. Diese Fusionen nationalistischer und religiöser Ideologien haben in der Region unterschiedliche Formen angenommen. In Turkmenistan zentrierte sich die offizielle Version des Islam um die gottgleiche Figur des Präsidenten „Turkmenbashi“. Sein berühmt-berüchtigtes Buch Rukhnama (in dem die turkmenische Geschichte neu geschrieben wird, um den Präsidenten zu glorifizieren und die moralischen Verpflichtungen der Bürger zu skizzieren) wurde zum obligatorischen Lehrmaterial für die Predigten der Imame erklärt.

In Usbekistan vollzog sich die Integration des Islam in die nationale Ideologie etwas weniger extrem, obwohl auch das Regime Karimov sich große Mühe gab, seine eigene Version des Islam zu fördern. Durch die Inszenierung von Vorstellungen über ein spirituelles Erbe, das usbekische Helden und „nationale“ Bräuche verherrlichte, begünstigte das Regime die Vision eines „usbekischen Islam“, der das Regime unterstützte. Selbst in Kirgizstan – dessen Regierung eine positive Haltung gegenüber „Religionsfreiheit“ einnahm – hallte sowjetische Identitätspolitik weiterhin in populären Vorstellungen über Religion und Nationalität nach. Das spiegelt sich beispielsweise in der Art und Weise wider, wie die Kirgisen über Religion sprechen. Sie beschreiben die Usbeken als „muslimischer“ als sich selbst, erklären, dass die Kirgisen moderate Muslime seien, da sie früher Nomaden waren, und halten an der Ansicht fest, dass „Jesus ein russischer Gott“ sei. Auf die Frage nach religiösem Ausdruck heben die meisten Kirgisen Ereignisse des Lebenszyklus, wie Beerdigungen, Hochzeiten und Beschneidungsrituale hervor, also solche Ereignisse, die als dem Ursprung nach kirgisisch betrachtet werden, in der Praxis jedoch nicht immer dem Schriftverständnis des Islam entsprechen. Vor allen Dingen verdeutlichen diese Ideen, dass kulturelle und religiöse Kategorien im öffentlichen Bewusstsein inzwischen eng miteinander verwoben sind.

Diese Formen von Religion waren besonders attraktiv für jene, die sich selbst als „nicht sehr religiös“ betrachteten. Hier wurde die Rolle der Religion auf eine Quelle kollektiver Identität reduziert. Das war in der Anfangsphase der Unabhängigkeit wichtig, doch es machte diese religiösen Formen zunehmend verwundbar, als die neuen Staaten ihre Versprechen nicht einzulösen vermochten. Mit dem fortschreitenden Niedergang der Wirtschaft wurden all jene, die sich ausgegrenzt fühlten, von neuen religiösen Bewegungen angezogen. Denn sie gaben direkte, hoffnungsvolle Antworten auf die Probleme der Menschen und boten Zugang zu eng verbundenen moralischen Gemeinschaften.

Religiöse Anfechtungen nationaler Vorstellungen von Kultur in Kirgizstan

Die sanfte Aneignung von Religion in nationalen Erzählungen und Legenden weist auf die Beschränkungen der Sichtweise hin, die das Jahr des Zusammenbruchs der Sowjetunion (1991) als entscheidenden Durchbruch religiösen Lebens sieht. Die neue (relative) Religionsfreiheit bedeutete anfangs keine Herausforderung für die Gesellschaft, sondern gestattete den Regierungen, die Religion für ihre Projekte der Nationenbildung zu nutzen. In Kirgizstan erwähnten viele Menschen, dass sie erst um das Jahr 2000 herum bedeutsame Veränderungen in der religiösen Landschaft beobachteten. Als Anzeichen wurden unter anderem genannt: die wachsende Anzahl von Moscheebesuchern, das Tragen des Schleiers oder die Einhaltung des Fastenmonats Ramadan. Auch war das etwa der Zeitpunkt, als die Aktivitäten christlicher Missionare eine beträchtliche Anzahl von Konvertiten hervorbrachten. Interessant an dieser späteren Phase des Postsozialismus ist, dass die religiöse Erneuerung allmählich die Grenzen in Frage stellte, die man zwischen Religion und Kultur vermutete (Abb. 2).

Einen aufschlussreichen Fall stellt eine kleine, von Usbeken bewohnte Stadt im Süden Kirgizstans dar. In dieser Gemeinde gewannen schriftbasierte Interpretationen des Islam in den vergangenen Jahren zunehmend an Einfluss. Die neu praktizierenden oder „bewussten“ Muslime begannen, die ihrer Einschätzung nach falschen Vorstellungen vom Islam in Frage zu stellen. Ein Teil ihrer Kritik richtete sich dagegen, den Islam mit lokalen kulturellen Praktiken zu vermischen. Sie begannen, Rituale des Lebenszyklus wie Hochzeiten nach ihren Vorstellungen in „religiös reine“ Ereignisse umzugestalten. Indem sie übliche Formen von Hochzeitsfeiern abschafften, Alkohol verboten und die Geschlechtertrennung wieder einführten, fochten diese „bewussten“ Muslime die Vorstellungen von einer ordnungsgemäßen Hochzeit an. Bei den neuen Hochzeiten unterstrichen sie den supranationalen Charakter des Islam und bestritten seine mutmaßliche Beziehung zu Kultur und nationaler Identität. So untergruben diese Erneuerungen populäre Vorstellungen über die Verbindung von Usbekentum und Islam, wodurch Debatten darüber angefacht wurden, was der passende Ort für Religion und Kultur ist.

Die Spannungen waren sogar noch auffälliger in Bezug auf die christlichen Missionare und die Konversionsprozesse, die besonders in Kasachstan und Kirgizstan sichtbar wurden. Ein Teil der Anziehungskraft neopentekostaler (neupfingstlerischer) Kirchen – die die erfolgreichsten christlichen Gruppen darstellen – liegt darin, dass sie eine Art „spiritueller Modernität“ fördern, die nicht nur Erlösung verspricht, sondern auch betont, dass jeder Mensch Wohlstand und Gesundheit durch frommes Gebet erlangen kann. Eine besondere Anziehungskraft übten solche Botschaften auf die ärmeren Schichten der Gesellschaft aus, auf jene, die (partiell) zu Außenseitern der eigenen Gemeinde geworden waren, zum Beispiel durch Land-Stadt-Migration oder durch Scheidung. Die christlichen Kirchen mussten die Vorstellung überwinden, dass das Christentum etwas Russisches sei. Sie versuchten dies zu erreichen, indem sie die Unterschiede zwischen Glaube, Religion und Kultur betonten. Gleichzeitig aber übernahmen sie lokale kulturelle Ideen in ihre Vorstellungen über spirituelle Kriegsführung. Es gibt beispielsweise bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen dem Weltbild der neopentekostalen Kirchen und indigenen Vorstellungen über Geister sowie zwischen „christlichen“ Glaubensheilungen und traditionellem „muslimischem“ Heilen. Doch trotz solcher offensichtlicher Kontinuitäten waren explizite Reaktionen muslimischer Nachbarn, Verwandter und lokaler Führer unabwendbar. Diese Konversionsprozesse schufen nicht nur spezielle christliche Nischen in einem überwiegend muslimischen Umfeld, sondern konfrontierten außerdem die Mehrheit mit der Tatsache, dass die Verbindung zwischen Kirgisentum und Islam ernsthafte Brüche aufzuweisen begann (Abb. 3).

Religion als moralische Antwort auf gesellschaftliche Probleme

Die neuen islamischen und christlichen Gruppen sind ihrer Orientierung nach supranational. Ihr Erfolg hat lokale Vorstellungen von „Nationalität“ und „Religion“ destabilisiert. Das hat eine neue Diskussion über die Definitionen von Religion, Glaube, Kultur und Nationalität und über die Grenzen zwischen diesen Begriffen angefacht. Ebenso wichtig ist, dass diese religiösen Dynamiken eine Revision gängiger Vorstellungen von der sowjetischen und unmittelbar postsowjetischen Phase erfordern. Die Rückkehr der Religion in die öffentliche Sphäre war weniger ein religiöses Wiederaufleben im „ideologischen Vakuum“ als vielmehr ursprünglich eine gewöhnliche Nebenerscheinung der Verbindung von religiöser und ethnischer Identität, die während der Sowjetzeit hervorgebracht worden war. Doch die Oberflächlichkeit nationaler religiöser Formen, in Verbindung mit den durch den postsowjetischen Übergang ausgelösten sozialen und ökonomischen Veränderungen, schuf auch eine wachsende Anziehungskraft religiöser Gruppen, die eine überzeugende Gesellschaftskritik anbieten. In Zentralasien scheint sich der Stellenwert von Religion zu verschieben: Statt den Rahmen für eine kollektive Identität bereitzustellen, werden moralische Antworten auf komplexe gesellschaftliche Probleme geliefert. In diesem Sinne war es nur angemessen, dass die Forschergruppe „Religion und Zivilgesellschaft“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung im Januar 2006 von einem neuen Team abgelöst wurde, das sich mit „Religion und Moral“ befassen wird.

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