Mensch und Land

Forschungsbericht (importiert) 2017 - Max Planck Institut für ethnologische Forschung

Autoren
Schlee, Günther
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)
Zusammenfassung

Die Beziehungen zwischen Gruppen von Menschen und dem Land, das sie bewohnen, sind heterogener und komplexer als jemals zuvor. Die Abteilung „Integration und Konflikt“ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ergründet die Logik kollektiver Identifikation und Gruppenzugehörigkeit und die verschiedenen Formen von Besitzansprüchen, die mit diesen Beziehungen einhergehen. Im Süden Äthiopiens sehen sich Agropastoralisten einer zunehmenden Landnahme durch die Zuckerrohrindustrie gegenüber, die sich in den Händen von Investoren aus anderen Landesteilen und aus dem Ausland befindet.

Die Beziehungen zwischen Menschengruppen und dem Land, das sie bewohnen, sind heute vielfältiger und umstrittener als je zuvor. Nachdem sich der Nationalstaat gerade erst im 19. Jahrhundert und durch die Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert global und flächendeckend als Organisationsform durchgesetzt hat, wird er, kaum zur Selbstverständlichkeit geworden, vielfach wieder aufgelöst und hinterfragt. Das Wort „Globalisierung“ ist in aller Munde und aus ganz unterschiedlichen Positionen werden die Grenzen nationalstaatlicher Jurisdiktionen durch den Anspruch universalistischer Normen angegriffen, sowohl von Menschenrechtlern als auch von Islamisten oder Wirtschaftsliberalen. Die globale, von den Vereinten Nationen geteilte Norm des Schutzes indigener Völker kollidiert mit einer anderen globalen Tendenz, der Globalisierung des Landmarktes und der Ausbreitung von Agribusiness in immensem Ausmaß. Bei uns wird der Begriff „Heimat“, der lange ausschließlich von Rechten und Konservativen verwendet wurde, jetzt auch von Grünen und Sozialdemokraten beansprucht. Andere Menschen beziehen einen Teil ihrer kollektiven Identität durch die Herkunft aus einem Land, aus dem sie längst vertrieben worden sind oder das es als Staat schon gar nicht mehr gibt, wie die „Somali-Diaspora“ oder die aus Syrien Geflüchteten. Die Liste von Widersprüchlichkeiten und Paradoxien ließe sich beliebig verlängern.

Die Abteilung „Integration und Konflikt“ des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung bemüht sich um die Aufschlüsselung der Variablen, die auf kollektive Identitäten und die damit zusammenhängenden Ansprüche und Zugehörigkeiten wirken, und um Zusammenhangswissen in diesem Geflecht gesellschaftlicher, rechtlicher und politischer Kräfte. Ein wichtiger Schritt bei der Systematisierung dieses Wissens ist 2017 durch die Veröffentlichung eines Aufsatzes in der führenden Zeitschrift Current Anthropology gelungen [1]. Er bringt begriffliche Ordnung in die Fülle der Kriterien, nach denen sich Menschen in größere und kleinere Gruppen sortieren: von Familien über Klane und Nationen bis hin zu globalen Kategorien und Vergemeinschaftungen. Und er systematisiert, nach welchen Regeln und Mustern sich diese kollektiven Identitäten kombinieren oder ersetzen. Schließlich sind es diese auf vielfältige Weise konstituierten Gruppen, die in ebenso vielfältige Beziehungen zu dem Land treten, das für sie nicht nur Aufenthaltsort, sondern auch materielle Lebensgrundlage ist, etwa wenn Landwirtschaft oder Bodenschätze eine Rolle spielen.

Ebenfalls 2017 hat Lucie Buffavand ihre Dissertation „Vanishing stones and the hovering giraffe: Identity, land and the divine in Mela, south-west Ethiopia“ eingereicht (und erste Ergebnisse veröffentlicht in [2]), die auf mehrjähriger Feldforschung bei einer agropastoralen Gruppe basiert. Agropastoralisten sind Menschen, die gleichermaßen Ackerbau und Weidewirtschaft betreiben. Bei den „verschwindenden Steinen“ (vanishing stones) handelt es sich um Steinsetzungen bei den Gräbern verstorbener Ritualspezialisten, bei der „schwebenden Giraffe“ (hovering giraffe) um einen Schutzgeist, mit dem man sich gut stellen muss, will man die Früchte des Landes in Frieden genießen und das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit von Rindern und Menschen gewährleisten. Die politische Verfassung der Mela beruht auf der Geschichte der einzelnen Klane, ihrer unterschiedlichen Herkunft und dem Verhältnis zu den Schutzgeistern des Landes. Dieses Verhältnis gestalten sie in einer rituellen Arbeitsteilung, die die Mitwirkenden zu legitimen Nutzern des Landes macht (für ein Ritual-Beispiel siehe Abb. 2).

Mit diesem Anspruch geraten die Mela zunehmend in einen Konflikt mit dem äthiopischen Staat. Ihr Gebiet wird in groß angelegte, künstlich bewässerte Zuckerrohrplantagen im Besitz von Investoren aus anderen Landesteilen und aus dem Ausland umgewandelt. Neben der mündlich tradierten politischen Verfassung der Mela zeichnet Lucie Buffavand auch die Logik der staatlichen Akteure systematisch nach. Obwohl sich Äthiopien als ein Mosaik aus vielen „Nationen, Nationalitäten und Völkern“ versteht (so die Verfassung), die alle auf dem jeweils eigenen Gebiet Sonderrechte genießen, wird das Recht der Mela, darüber zu bestimmen, in welcher Form sie ihr Land nutzen, schlicht in Abrede gestellt. Die Ideologie der ethnischen und kulturellen Vielfalt und Selbstbestimmung gerät hier in Widerspruch zu einer ungebrochenen Fortschrittsideologie: Alle „Völker“ haben Rechte, es sei denn, sie sind „rückständig“, alle Kulturen sollen ihren Ausdruck finden, es sei denn, sie beinhalten „schädliche Praktiken“ usw. Gemäß der Verfassung gehört alles Land dem Staat, der es sich aber nur in der „rückständigen“ Peripherie physisch aneignet, während er im christlich-semitischen Norden und Zentrum des Landes überkommene Formen der Landnutzung großenteils respektiert. Was rückständig und was schädlich ist, bestimmt die Zentralregierung. Im Zeichen einer „revolutionären Demokratie“ geht sie in der Durchsetzung ihrer Ziele sehr entschlossen vor, auch wenn viele der Großprojekte kaum begonnen wieder scheitern, sei es wegen sinkender Erzeugerpreise oder durch ökologische Folgeschäden wie Versalzung.

Hier zeigen sich also zwei unterschiedliche Wahrnehmungen, wie sich die Landansprüche von Menschen legitimieren. Es gibt zwei parallele Diskurse, die sich nicht berühren und nicht erfolgreich in Austausch treten. Integration von Viehwirtschaft und Ackerbau, etwa im Sinne der bäuerlichen Mischwirtschaft, nur in größerem Maßstab, über Gruppengrenzen hinweg, kommen dadurch gar nicht erst als Lösung in Betracht. Mit den nicht zur Zuckerherstellung geeigneten Spitzen der Zuckerrohrpflanze könnte man pro Hektar ein Rind ernähren. Das ist dasselbe Verhältnis von Fläche und Bestand wie bei Grünland in Deutschland. Außerdem fällt Viehfutter nicht nur bei der Zuckerrohrernte, sondern auch bei der Fabrikation von Zucker als Nebenprodukt an. Integrierte Weidezyklen mit Naturweide und saisonaler Nutzung der Fläche für Zuckerrohr liegen hier als optimale Nutzung und für einen friedlichen Interessenausgleich auf der Hand. Lucie Buffavand zeigt auf, warum es in Äthiopien nicht zu diesem Interessenausgleich kommt.

Literaturhinweise

1.

Eidson, J. R.; Feyissa, D.; Fuest, V.; Hoehne, M. V.; Nieswand, B.; Schlee, G.; Zenker, O.

From identification to framing and alignment: A new approach to the comparative analysis of collective identities
Current Anthropology 58 (3), 340–351 (2017)
2.

Buffavand, L.

“The land does not like them”: Contesting dispossession in cosmological terms in Mela, south-west Ethiopia
Journal of Eastern African Studies 10 (3), 476–493 (2016)
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