Freiheit, Selbstbestimmung und Gemeinschaft nach '89 in Ostdeutschland

Im 31. Jahr nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland ist neben generellen Einkommens- und Eigentumsunterschieden ostdeutscher Bürger*innen in den neuen Bundesländern auch die Unterstützung für rechtpopulistische Parteien und Strömungen im Osten signifikant höher als in Westdeutschland, wie das die Bundestagswahl 2017 offenbarte und es für die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst 2019 erwartet wird. Von der Kontakthypothese, die dazu dienen muss, den verbreiteten Rassismus zu erklären, über Autoritarismus-Analysen, die auf die DDR ausschließlich als Diktatur Bezug nehmen, bis hin zur Behauptung systemevozierter Unmündigkeit und antidemokratischer Haltungen reichen die Erklärungsansätze verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen weit, Ostdeutschland und die Ostdeutschen seit der Wiedervereinigung analytisch in den Blick zu nehmen. Dabei lassen eine Großzahl der besonders deutschsprachigen Analysen die ostdeutschen Subjekte in ihren lebensweltlichen Bezügen nicht nur außen vor, sondern bisher auch den Rückgriff auf die Transformationszeit und die strukturellen Veränderungen der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Sphäre weitgehend außer Acht. Dieses anthropologische Forschungsprojekt möchte mithilfe eines subjekt- und lebensweltlich orientierten Ansatzes Abhilfe schaffen.

Basierend auf einer einjährigen Feldforschung in Gera sowie dort durchgeführter teilnehmender Beobachtungen und narrativ-biographischer Interviews, soll unter Rückgriff auf Axel Honneths Anerkennungskonzept der Transformationsprozess als eine Zeit sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Verwerfungen, Veränderungen und neuer Dominanzen adressiert werden, die den im Staatssozialismus der DDR sozialisierten Subjekten zur gesellschaftlichen Integration in den Rahmen der demokratisch und kapitalistisch geprägten BRD zahlreiche Anpassungen abverlangte. Ausgehend von den lebensweltlichen Erfahrungen und biographischen Narrationen der beobachteten und befragten Subjekte sollen in dieser Forschung theoretische Begriffe wie Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität empirisch in den Blick genommen und unter Bezugnahme auf die strukturellen Veränderungen nach dem Beitritt Ostdeutschlands zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Hiermit möchte einerseits versucht werden, den Transformationsprozess seit 1989/1990 aus einer ostdeutschen Subjekt-Perspektive, die hierbei als eine subalterne Perspektive verstanden wird, zu erzählen. Andererseits soll der Versuch unternommen werden, den im Feld zirkulierenden rassistischen, rechtspopulistischen und exkludierenden Haltungen als mögliche Formen gesellschaftlicher Entfremdung aufgrund lokaler, kultureller und historischer Zusammenhänge nachzugehen.

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