"Die neoliberale Ordnung bringt rechte Eliten an die Macht"

Interview mit Attila Melegh

5. August 2019

Der ungarische Soziologe, Ökonom, Historiker und renommierte Analytiker der autoritären Wende in Osteuropa Attila Melegh war fünf Monate lang Gastwissenschaftler am MPI für ethnologische Forschung. Er ist Professor an der Corvinus University, Budapest, und Senior Researcher am Demographic Research Institute, Budapest. Er ist außerdem Gründungsdirektor des Karl Polanyi Research Center for Global Social Studies an der Corvinus University. Von ihm wollten wir wissen, wie er die aktuelle politische Lage in Europa einschätzt und inwieweit die Schriften von Karl Polanyi zur Analyse der Entwicklung beitragen können. Außerdem gibt es auch noch einen weiteren guten Grund für dieses Interview: Polanyis bedeutendes Werk The Great Transformation ist vor genau 75 Jahren erschienen.

Attila, worum geht es in Ihrer aktuellen Forschung?
Ich betrachte die klassischen soziologischen Probleme aus einer globalen Perspektive. Insbesondere interessiere ich mich für die Herausbildung globaler Hierarchien und die Entwicklung von sozialer Ungleichheit im neoliberalen Kapitalismus der letzten 30 Jahre.

Das ist ein weites Feld. Könnten Sie das etwas genauer beschreiben?
Konkret geht es mir um die Analyse der verschiedenen Diskurse im Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung. Das bedeutet, dass ich mir anschaue, wie Eliten Kategorien wie beispielsweise Bevölkerung, Entwicklung, Migration, Integration konstruieren und wie diese Konstruktionen mit Ideen einer „ausgewogenen“ sozialen Entwicklung verknüpft sind. Dies kann unter anderem das Gleichgewicht zwischen Ressourcen und Bevölkerung oder eine optimale Nullwachstumsentwicklung sein. Solche Ideen können unter Umständen die Notwendigkeit nahelegen, Arbeitskräfte zu importieren, wenn die lokalen Ressourcen als unzureichend angesehen werden. Diese Art von Diskurs zeigt zum Beispiel, wie utilitaristische Werte zunehmend das Verständnis dominieren, das Eliten von Migration haben.

Sie meinen, dass Migranten nicht in erster Linie als Menschen, sondern als Verstärkung für den Arbeitsmarkt behandelt werden?
Genau. Im öffentlichen Diskurs – der durch das Interesse der Eliten stark beeinflusst ist – werden Migranten als Ware angesehen. Wenn Migration gefördert wird, dann vor allem wegen des potenziellen wirtschaftlichen Nutzens für Unternehmen oder wegen des allgemeinen Wirtschaftswachstums. Der Bevölkerungsrückgang in Europa muss durch Migration ausgeglichen werden, das ist der Kern der aktuellen utilitaristischen Debatten.

Diese Einschätzung erinnert mich an Foucaults Schriften zur Biopolitik.
Ja, tatsächlich ist Foucault einer der Wissenschaftler, die für das Verständnis der Bevölkerungsdiskurse im Kapitalismus wichtig sind. Aber er hat die strukturellen und historischen Bedingungen dieser Entwicklung nicht richtig verstanden. Es war Karl Polanyi, der zeigte, dass die Marktliberalisierung für die Transformation menschlicher Arbeit in eine fiktive Ware verantwortlich ist. Der globale fiktive Austausch von Arbeit ist eines der Hauptmerkmale der Entwicklung des Kapitalismus in den letzten 30 Jahren. Und meiner Meinung nach ist diese neoliberale Wendung weitgehend verantwortlich für den Aufstieg der rechten politischen Bewegungen auf der ganzen Welt.

Glauben Sie, dass Polanyi diese Bedrohung für das demokratische System vorausgesehen hat?
Ja, das hat er. Und neben anderen Wissenschaftlern wie Gramsci, Lukács und Bloch beschäftigte er sich mit der Analyse der autoritären Wende des Kapitalismus und den ideologischen Reaktionen auf die Krisen der liberalen Weltordnung. Und er wies sehr prägnant und weitsichtig darauf hin, dass diese Krisen wieder kommen, wenn Eliten zu sehr auf die Umsetzung von „Marktutopien“ drängen. Dieser Zusammenhang wird in dem neuen Buch von Chris Hann, Repatriating Polanyi, das die Transformation in Osteuropa analysiert, sehr schön herausgearbeitet.

Und wie reagieren die Menschen auf diese Bedrohung? Gibt es ein allgemeines Muster?
Die Menschen werden unzufrieden und beginnen, sich zu wehren. Und dieser Widerstand kann zu einer sogenannten „Gegenbewegung“ führen, die unter Umständen von rechtsradikalen Eliten genutzt werden, die sich bemühen, auf Kosten vorheriger Eliten an die Macht zu kommen. Genau das ist es, was wir im Moment auf der ganzen Welt beobachten können: Der massive Aufstieg rechtsgerichteter politischer Parteien. Wir sehen das in Indien, der Türkei, Brasilien, Japan, den USA und vielen osteuropäischen Ländern.

Aber ist das Unbehagen in Osteuropa nicht vor allem auf die Zuwanderung von Migranten aus Krisenregionen zurückzuführen?
Es stimmt, dass der nationalistische Diskurs in Osteuropa radikalisiert wird und sich gegen Menschen richtet, die vor Kriegen lokaler und globaler Mächte fliehen. Aber gleichzeitig gibt es auch diese massive Abwanderung von Arbeitskräften, die durch die Liberalisierung der lokalen Wirtschaft verursacht wird. Statistiken zeigen, dass derzeit 25 Millionen Menschen aus osteuropäischen Ländern nicht in dem Land leben, in dem sie geboren wurden. Ihre Arbeit ist zu einem Produkt geworden, das im extrem wettbewerbsorientierten neoliberalen Systems international gehandelt wird. Diese Entwurzelung ist einer der Hauptgründe, warum es den osteuropäischen Eliten leicht fällt, Menschen gegen die europäische Migrationspolitik zu mobilisieren, und einer der Gründe, warum wir diese autoritäre Wende erleben, die zu neuen Formen eines intoleranten Nationalismus führt.

Es gibt sogar Befürchtungen, dass die von Ihnen beschriebene autoritäre Wende zu einer Renaissance des Faschismus in Europa führen könnte. Ist das nicht etwas weit hergeholt?
Ich denke, es ist sehr deutlich sichtbar, dass die neoliberale Ordnung zu vielfältigen Spannungen führt, die es Eliten ermöglichen, mit einem rechtsradikalen Ticket an die Macht zu kommen. Aber meiner Meinung nach reicht das nicht aus, um diese Regime als faschistisch zu bezeichnen – selbst wenn sie im öffentlichen Diskurs auf Muster und Aussagen zurückgreifen, die zwischen den beiden Weltkriegen weit verbreitet waren. Diese Regime versuchen, die Globalisierung zu steuern und den freien Handel und den Kapitalverkehr mit neuen politischen Techniken der nationalistischen Rhetorik aufrechtzuerhalten.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas? Sind wir auf dem Weg zu einer autoritären politischen Ordnung?
Wir müssen uns bewusst sein, dass die Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Praktiken derzeit vor großen Herausforderungen stehen. Die Ursache dafür liegt vor allem im Konflikt zwischen globalen Märkten und nationaler Politik. Meiner Meinung nach wäre es gerechtfertigt, die autoritären Regime als faschistisch zu bezeichnen, sobald es ihnen gelingt, wichtige Elemente des liberalen Staates und der Wirtschaftsordnung zu zerstören. Im Moment spielen sie nur mit Worten und bedienen sich informeller Techniken. Aber wir tun gut daran, diese anhaltenden Angriffe auf die Menschenrechte und die liberalen Medien sehr ernst zu nehmen. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es keinerlei Garantie dafür gibt, dass die Institutionen einer liberal-demokratischen Ordnung für immer dieser Bedrohung standhalten werden.

Es gibt also keine Hoffnung auf eine liberale Zukunft in Europa und anderswo?
Wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt. Während meiner Zeit am MPI seit Februar dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit, Einblicke in die ethnologische Forschung zu verschiedenen lokalen Problemen zu bekommen, die im Zuge der fortschreitenden Globalisierung entstanden sind. Es scheinen sich einige Formen des Widerstandes herausgebildet zu haben. Und es gibt auch Bestrebungen, die demokratische Kontrolle über Arbeit, Land und Geld zurückzugewinnen. Das ist genau das, was sich Polanyi erhofft hatte und was er mit seiner Analyse der Entwicklung des Kapitalismus zu zeigen versuchte.

Zur Redakteursansicht