Die Entlarvung des Neoliberalismus in Karl Polanyis Heimat
Interview mit Chris Hann über sein neues Buch
Am 23. September 2019 stellt das von Attila Melegh geleitete Karl Polanyi Center for Global Studies an der Corvinus-Universität Budapest das kürzlich erschienene Buch „Repatriating Polanyi. Market Society in the Visegrád States“ von Chris Hann vor. Mihály Sárkány, Joanna Mroczkowska, Iván Szelényi und Gergely Pulay nehmen an der Veranstaltung als Kommentatoren teil. Margit Feischmidt wird die Diskussion moderieren.
Im Vorfeld der Buch-Präsentation haben wir mit Chris Hann gesprochen und ihm ein paar Fragen zum Inhalt seines Buches gestellt:
Chris, was ist das Thema Ihres Buches "Repatriating Polanyi: market society in the Visegrád states"?
In dem Buch habe ich Themen zusammengestellt, zu denen ich in den letzten drei Jahrzehnten in ländlichen Gebieten Ungarns und Polens geforscht habe. Die erste Hälfte konzentriert sich auf die Wirtschaft, insbesondere auf die Verbreitung des Prinzips des freien Marktes nach 1990 und die Transformation der Eigentumsbeziehungen, die mit der Auflösung landwirtschaftlicher Kollektive einherging. Die zweite Hälfte beschäftigt sich mit der Analyse von Themen wie Zivilgesellschaft, öffentliche Rituale, Ethnizität und Nationalismus. In den neuen Kapiteln am Anfang und am Ende des Buches zeige ich, wie uns die Perspektive von Karl Polanyi dabei helfen kann, die aktuelle Lage in dieser Weltregion zu verstehen, einschließlich die zunehmenden offensichtlichen (und auch heimtückischen) Eingriffe des Staates in Marktprozesse und den Aufstieg des „Populismus“.
Was ist für Sie an Polanyi besonders interessant?
Sein Hauptwerk „The Great Transformation“ wurde 1944 veröffentlicht. Es ist die bekannteste Analyse des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert, der zu einer sozialen „Entbettung“ und in der Folge dann zu „Gegenbewegungen“ führte, zu denen auch der Faschismus zählt. Wie viele andere Sozialwissenschaftler auch halte ich diesen Ansatz für relevant, um den Aufstieg des Neoliberalismus in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären. Bislang haben aber nicht viele Wissenschaftler die Ideen Polanyis auf Mitteleuropa übertragen, wo er vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen ist. Ich versuche nun als Sozialanthropologe, diese Lücke mit dem vorliegenden Buch zu schließen.
Wie lange studieren Sie schon die Marktgesellschaften in Osteuropa?
Nun, Ungarn praktizierte seit den 1960er Jahren eine Form des „Marktsozialismus“. Ich habe im August 1974 begonnen mich damit zu beschäftigen. Im Rahmen eines wirtschaftswissenschaftlichen Sommeruniversitätskurses, den ich in Ungarn kurz nach meinem Abschluss in Oxford besucht habe. Die heutige Corvinus-Universität Budapest war damals unter dem Namen Karl-Marx-Universität bekannt. Aber trotz des Namens verwendeten viele ungarische Ökonomen bereits westliche neoklassische Modelle. Die weit verbreitete Markt-Begeisterung der liberalen „Experten“ spielte dann bei den, meiner Meinung nach voreiligen und falsch eingeschätzten, Privatisierungs- und Vermarktungsstrategien nach 1990 eine wichtige Rolle.
Wie ist das Buch entstanden?
Ich habe zuvor veröffentlichte Artikel ausgewählt und während eines Sabbatjahres am Institut d´Études Avancées in Nantes in den Jahren 2013–2014 erste Entwürfe der neuen Kapitel geschrieben. Die Ereignisse in Ungarn im folgenden Jahr, insbesondere die so genannte „Migrantenkrise“, verzögerten dann die Fertigstellung des Manuskripts. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass das Buch von der Central European University Press angenommen wurde. Besonders deshalb, weil ich Konsequenzen des „ideologischen“ Liberalismus kritisiere, den die Central European University seit ihrer Gründung vor drei Jahrzenten in gewisser Weise vertritt.
Welche neuen Erkenntnisse bietet das Buch?
Es sollte zumindest einige falsche Vorstellungen korrigieren. Beispielsweise dass mehr Markt und Privateigentum die unzweideutigen Schlüssel zu einer liberalen und toleranten „Zivilgesellschaft“ sind. Es sollte die Leser misstrauisch gegenüber dem Begriff der Zivilgesellschaft machen, wenn die Zivilgesellschaft von Entbettungsprozessen begleitet wird, die Hunderttausende von jungen Menschen dazu zwingen, auf der Suche nach angemessenen Arbeitsplätzen ins Ausland zu gehen. Wobei ihre Präsenz auf dem Arbeitsmarkt dann andernorts – insbesondere in Großbritannien – zu Ressentiments führen, wie wir das beim Referendum zum Brexit gesehen haben. Aber das Buch ist nicht nur negativ und seine Botschaft basiert nicht nur auf den Besonderheiten der Dörfer und Kleinstädte, in denen ich als Ethnologe gearbeitet habe. Ich plädiere für eine theoretische Alternative zur neoliberalen Hegemonie und zum Sog des Populismus, nämlich die Rückkehr zu vertrauten Prinzipien der Sozialdemokratie oder des „eingebetteten Liberalismus“, aber auf einer Ebene, die Europa und Asien zusammen denkt. Das ist der Sinn, in dem ich den Begriff „Eurasien“ verwende. Aber vielleicht muss ich noch ein weiteres Buch schreiben, um den Begriff „soziales Eurasien“ deutlicher zu machen und um zu erläutern, wie er im Sinne Polanyis institutionalisiert werden könnte.
Für wen ist das Buch von Interesse – wer sollte es lesen?
Interessant ist es natürlich für Wissenschaftler, die auf die behandelten Regionen spezialisiert sind. Aber mit Glück auch für ein breiteres Publikum. Und für alle, die sich dafür interessieren, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen als Journalisten und Sozialwissenschaftler, die es selten wagen, sich weit von den Hauptstädten zu entfernen und die nicht so wie wir Ethnologen mit „normalen Bürgern“ in Kontakt kommen.