Auf der Suche nach den Mustern des Terrors
Vom 21.–22. November 2019 findet am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ein Workshop mit dem Titel „Is Terrorist Learning Different?“ statt. Der Workshop wird von den Mitgliedern der Forschungsgruppe „Wie ‚Terroristen‘ lernen“ organisiert. Auf der Basis internationaler Fallstudien werden die Workshopteilnehmer Lernprozesse von Terrorgruppen und ihren Mitgliedern analysieren. Die Sprache des Workshops ist Englisch.
Individuelle Lebenswege in die Gewalt
Was unterscheidet Mitglieder von Terrororganisationen von anderen Individuen? Um dieser Frage nachzugehen, wird sich der Workshop „Is Terrorist Learning Different?“ neben der Analyse des Lernverhaltens von Organisationen auch mit Formen der Radikalisierung auf individueller Ebene beschäftigen: Anhand der Biografien von 24 Akteuren zeigt beispielsweise Sheelagh Brady (Dublin City University), wie Individuen zwischen extremistischen Gruppen, organisierter Kriminalität, privaten Söldnertruppen und militärischen Organisationen hin- und herwechseln. Brady ist auf der Suche nach den Einflüssen, die dazu führen, dass sich bestimmte Individuen offensichtlich dauerhaft von einer gewalttätigen Lebensform angezogen fühlen und dieser Spirale der Gewalt nur schwer entkommen. Der Lebensweg Anis Amris, des Attentäters, der im Dezember 2016 den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche verübt hat, wird im Vortrag von Wael Garnaoui (Université Paris Diderot) eine zentrale Rolle spielen. Garnaoui beschreibt Amri als typischen Fall eines illegalen Immigranten, der auf der Suche nach einem besseren Leben zum Terroristen wurde.
Das Umfeld des Terrorismus
Der Workshop geht aber nicht nur der Frage nach, inwiefern individuelle Lebenswege einzigartig sind, sondern beschäftigt sich auch mit den Besonderheiten des Umfeldes des Terrorismus. Die jüngsten Terroranschläge in Halle, Kassel und Berlin haben es noch einmal deutlich gemacht: Die Täter lernen von anderen Tätern, sie planen ihre Aktionen offensichtlich nach bestimmten Mustern und sie denken sehr genau darüber nach, welche Mittel geeignet sind, um ihre Ziele zu erreichen. Aber auch wenn Anschläge häufig von einzelnen Akteuren verübt werden, so handeln sie doch stets aus einem sozialen Umfeld heraus, von dem sie ihre Kenntnisse haben und von dem sie sich Anerkennung erhoffen. „Egal ob es sich um einzelne Täter oder gut organisierte Gruppen handelt, Terrorismus entsteht immer in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und er ist mit diesem zusammen in einem ständigen Wandel begriffen,“ sagt Dr. Carolin Görzig, Leiterin der Forschungsgruppe „Wie ‚Terroristen‘ lernen“. „Um die Entwicklung unterschiedlicher Formen des Terrorismus besser zu verstehen, untersuchen wir deshalb das Umfeld der Akteure und analysieren Lernprozesse innerhalb einzelner Gruppen. Außerdem schauen wir uns an, wie verschiedene Terrorgruppen miteinander in Kontakt treten und dadurch voneinander lernen. Auf einer dritten Ebene untersuchen wir schließlich die Interaktionen von Terrorgruppen und Staaten.“
Vielfalt der Lernprozesse: Wege in die und aus der Gewalt
Auch wenn in der öffentlichen Diskussion Terrorismus in erster Linie mit extremer Gewalt und Fanatismus in Verbindung gebracht wird, sollte doch nicht vergessen werden, dass es auch viele Beispiele für die Deradikalisierung und die Abkehr von Gewalt gibt. „Es ist keineswegs so, dass der Weg in den Untergrund und die Illegalität unumkehrbar ist“, sagt Görzig. „Eines der eindrücklichsten Beispiele für diesen Umkehrprozess einer terroristischen Vereinigung ist der Weg, den die IRA eingeschlagen hat.“ Nach jahrelangem Kampf im Untergrund wurde der IRA-Führung zunehmend deutlich, dass sie ihre Ziele mit gewaltsamen Mitteln kaum mehr erreichen würde. Durch Kontakte mit Vertretern des südafrikanischen African National Congress (ANC) lernte sie schließlich, wie der Weg aus der Illegalität hin zu einer legalen politischen Partei gestaltet werden könnte. Dieter Reinisch (Universität Wien) zeigt auf dem Workshop in seinem Vortrag anhand von Interviews mit 34 Ex-IRA-Häftlingen, wie sie sich während ihres Gefängnisaufenthalts schrittweise von der Gewalt losgesagt und damit den Friedensprozess in Nordirland aktiv mitgestaltet haben. Entgegen der Annahme, dass das spezielle Umfeld „Gefängnis“ zur Radikalisierung führt, können gerade auch in Gefangenschaft Deradikalisierungsprozesse ausgelöst werden. Aber keineswegs alle Organisationen sind auf dieselbe Weise lernfähig wie die IRA. Am Beispiel des Niedergangs des Islamischen Staats (IS) zeigt Nori Katagiri (Saint Louis University) in seinem Vortrag, dass sich die IS-Führungsriege weitgehend abgekapselt und damit auch ihre Möglichkeiten, vom Erfolg und Misserfolg anderer Gruppen zu lernen, stark limitiert hat.
Lernprozesse im internationalen Vergleich
„Lernprozesse von Terroristen können in verschiedene Richtungen gehen“, sagt Forschungsgruppenleiterin Görzig. „Die präzise Analyse der Entwicklung von Gruppen und Individuen und der internationale Vergleich anhand von empirischen Studien in Afrika, dem Nahen Osten, Zentralasien und Europa ermöglicht es uns, besser zu verstehen, ob es typische Verhaltensweisen gibt, die sich immer wieder zeigen.“ Wenn dies der Fall wäre und wenn es gelänge, solche Lern- und Verhaltensmuster zu identifizieren, dann wäre es auch möglich, empirisch fundierte Aussagen über künftige Entwicklungen des internationalen Terrorismus zu machen.“
Erforschung des globalen sozialen Wandels
Das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ist eines der weltweit führenden Forschungszentren auf dem Gebiet der Ethnologie (Sozialanthropologie). Es hat seine Arbeit 1999 mit den Gründungsdirektoren Prof. Dr. Chris Hann und Prof. Dr. Günther Schlee aufgenommen und 2001 seinen ständigen Sitz im Advokatenweg 36 bezogen. Mit Ernennung der Direktorin Prof. Dr. Marie-Claire Foblets im Jahre 2012 wurde das Institut um eine Abteilung zum Themenfeld ‚Recht & Ethnologie‘ erweitert. Forschungsleitend ist die vergleichende Untersuchung gegenwärtiger sozialer Wandlungsprozesse. Besonders auf diesem Gebiet leisten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Institutes einen wichtigen Beitrag zur ethnologischen Theoriebildung. Sie befassen sich darüber hinaus in ihren Projekten oft auch mit Fragestellungen und Themen, die im Mittelpunkt aktueller politischer Debatten stehen. Am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung arbeiten gegenwärtig 175 Wissenschaftler aus über 30 Nationen. Darüber hinaus bietet das Institut zahlreichen Gastwissenschaftlern Raum und Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch.
Mehr Informationen zum Workshop
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